6.
Pupille
Etwa
so ist die fixierte Phantasie Heinrichs wohl zu übersetzen – wir nehmen
am besten die mißlungenen Partien, die elenden Selbstbespiegelungen
des Verknallten und seine Rivalen-Klischees, nicht heraus; außerdem
klebt alles aneinander.
Also
es geht weiter: Was soll man sich im Dunkeln wälzen. Sie setzt sich
auf von ihrem harten Lager am Boden, tastet sich zum Schalter der Nachttischlampe
vor, reibt sich das Gesicht, blinzelt durch die Finger, reckt sich, gähnt,
seufzt, allmählich gewöhnen sich die Augen ans Licht. Zusammengekauert
hockt sie da. Zu müde zum Wachen, zu wach, um den Gedankenzwang zu
ertragen, der mit den Träumen ringt und nicht unterliegen kann. Wer
ist das, dein Traum, so fragen die eifersüchtigen Schwestern Psyche,
die selbst ihren Lieben nicht kennt, so drängen und forschen Gedanken.
Iris, wem lieferst du dich da aus? – Was geht es euch an. – Weißt
du es denn wenigstens selbst? Wir haben den Verdacht – Das laßt mal
meine Sorge sein.
Sie
wäscht ihr Gesicht, ihren Körper mit eisigem Wasser, rubbelt
sich warm, setzt sich nach einigen Streckübungen wieder auf die Matte
vor den großen Spiegel und flicht ihre Haare.
Die
Gedanken zu ordnen, das heißt, die Personen voneinander zu scheiden,
die sich darin auszusprechen scheinen, und sie einzeln, ohne Ablenkung,
sich vor Augen zu halten. Dann lassen sich die sauber getrennten Stränge
wechselweise in die Mitte drehen, einen von rechts, einen von links, den
kleinen Musikstudenten von der einen, den Chemiker am Rande des Blickfeldes
von der anderen, den alten japanischen Yogalehrer wiederum von der einen
Seite, ja, und diesen vierten, der nicht an die Ränder und nicht in
die Mitte kommt, der zwischen den drei Weggefährten immer im Verborgenen
bleibt: Da hat sie ihn, der ist's, davon ist sie aufgewacht. Seine unverhüllte,
fast unverschämte Art, sie auf ihre faszinierende Erscheinung anzusprechen,
hat ihr einen scharf-süßen Schrecken eingejagt; alles, was sie
bei den Annäherungs-Versuchern ihrer Umgebung verabscheut, dieses
immerwährende Anspielen auf ihren unwiderstehlichen Reiz, schlägt
in seinen Worten ins Gegenteil um, treibt ihr bei diesem kahlköpfigen
Schnauzbart ein wildes Entzücken durch die Glieder. Picassotyp, ein
kräftiges Tier mit Raubtierblick, ein bißchen brutal, ein bißchen
schön. Sagt sie Nein zu ihm, hört er Ja und küßt sie
auf den Nacken. Sie fühlt sich wie gelähmt. Er legt offenbar
einen masochistischen Kern in ihr frei und zelebriert dies bewußt,
mit genußvoller Absicht.
Mein Gott, Cuillaut, ist
das ein Scheiß. Sollen wir ihn weiter blamieren, indem wir das alles
aufschreiben? Oder verzerrt Lischas Eifersucht die Skizze zur Karikatur?
Nun ja, weiter mit den ranzigen Phantasien.
Zunächst
einmal hat er ihr vorgeschlagen, als Modell bei ihm einzusteigen, gute
Bezahlung – was, wo? in einem Nachtclub?! – Schutz, Unterkunft, Beziehungen.
Nein, staunt sie. Alles klar, antwortet er, ich hole dich morgen ab. Das
sind verfängliche Scherze. Also sagt sie weiter nichts, packt ihre
Koffer und fährt nach Hause. Da fühlt sie sich frei, kann dem
Reiz, den irgendetwas an der Begegnung in ihr geweckt hatte, mit ihren
Übungen nachspüren, pendelt mit einer neuen Leichtigkeit zwischen
den Briefen des Opferlämmchens und der Chevalerie des pastoralen Chemikers
hin und her, schwebt, fliegt durch die entlarvten Schmeicheleien der Rasierwasserhengste
und phantasiert selbstironisch über die angebotenen Zukunftspläne.
Wie es wohl wäre, die Verehrer zusammenzubringen, sie miteinander
bekanntzumachen, wie ihr Vater es zu tun pflegt? Sie kennen einander nicht
und schmiegen sich doch einer an den andern, drehen sich ineinander wie
Echospiralen.
Der
Zopf ist nun fertig, sie windet ihn um den Kopf, legt die Füße
auf die Oberschenkel zum Lotossitz und beginnt ihre Spiegelprobe, die Übung,
sich mit fremden Augen zu sehen.
Mit
dem Schwärmer fängt sie an, diesem zerrissenen Notenmaler der
verbrannten Briefe. Das ist zu komisch, sie lacht in der Übung auf,
muß sich wieder konzentrieren, die Identifikation mit dem imitierenden
Bild vor ihr zu überwinden, und wechselt nach einer schnellen Kostprobe
durch die Blicke der Kolleginnen, der Lehrer, ihrer eifersüchtigen
Schwestern, des geschäftstüchtigen Manager-Vaters und einiger
eifrig interessierter Gönner ihrer alten Umgebung bald zum Chemiker
über.
Das ist doch nicht zu
fassen, Cuillaut, wie Heinrich seine eigene Fixierung, sein "Immer-nur-sie!"
hier gegenspiegelt! So eine bescheuerte ranzige Männerphantasie! Was
hat er sich da zur Eifersuchtslarve vorgezaubert? Das ist wohl der personifizierte
Repräsentant seines Hormonsystems? Nun denn, ... der "Chemiker".
Der
ist schon problematisch, trägt eine kunstvoll-gefällige Miene
zur Schau, höflich, glatt. Wie soll sie in dieser öligen Flüssigkeit
einen Ansatzpunkt des seelischen Hebels finden und sich von außen
wahrnehmen? Der Widerstand des Fremden fehlt, zu leicht fällt sie
in ihr eigenes Selbstgefühl zurück.
Seine
Beweglichkeit, diese Einschmiegsamkeit in ihre verborgenen Gemütsregungen,
hat sie überrascht und für ihn eingenommen; aber nun versucht
sie dieses Verhalten von der Innenseite der Maske her auszuloten, von seiner
Warte aus.
Der
scheint psychologisch geschult zu sein, das mag noch ein raffiniertes Spiel
werden. Ob der ahnt, daß sie sich selbst mit der gleichen Berechnung
zu sehen pflegt, die er ihr gegenüber verbirgt? Wir werden sehen,
wer hier wen führt, einmal links, und wieder einmal rechts, ja endlich
- sie atmet auf – wenden sich die Innen- und Außenseite des Ansehens
und Angesehenwerdens um in die raumfüllende Substanz eines ungeschiedenen
Wir: Das ist der vertraute Rundumblick Kurinshorus, die sorgfältige
Milde von allen Seiten.
Kurinshoru.
Sie kannte ihn nur zufällig, vom Eispalast. Er saß alle Tage
an den Tischen zur Seite, trank Tee, machte ab und zu Notizen, zeichnete
heimlich Choreographien und beobachtete aus den Schlitzen unter den grenzenlos
nach innen verfalteten Lidern seines listigen Greisenkopfes die Paare,
bewundernd wohl, vielleicht etwas spöttisch, als sei er selbst eine
Art sparsamer Skizze. Er steckte sein Heft verlegen fort, als sie ihn einmal
ertappte, und sie forderte ihn auf, ein wenig neugierig; er zögerte
kurz, dann glitt er mit ihr über die Glätte alterslos, leicht
dahin. Die andern traten zurück, das bemerkte sie kaum, sie wußte
auch nicht, wie lang sie dahingeschwebt waren, einen Flügelschlag
nur, eine Sternenspur lang; so saßen sie wieder beisammen und sie
lauschte seinem Schweigen, umfaßt, umrahmt von seinen warmherzig-melancholischen
Scherzen.
So
spielten sie umeinander, bis sie bemerkte, daß sie in ihm ihren Meister
gefunden hatte, den Menschen, der sie lehren konnte, sich selbst zu ermitteln,
in der Mitte zwischen allen Regungen zu schweben, in der Schwebe zwischen
allen Empfindungen am bloßen Bewußtsein des bloßen Seins
befriedigt zu sein, im Frieden des Eigentlichen, Eigenen, des Einen. Doch
wichtiger noch als dies, so lehrte er sie, sei der Rückweg in die
Erscheinungswelten der Menschen ringsum.
Seine
Beobachtungen verheimlichte er nicht länger, die choreographischen
Übungen in seinem Heft. Dort fand sie im Puzzle der Versuche und Fragmente
ein seltsames Lesestück, ein Rätsel vielleicht:
"Als
der Morgen dämmerte, stieg der Erwachende in den Teich, um zu baden.
Kaum war er eingetaucht, da durchzog ihn ein heftiges Sehnen, fremd und
vertraut; Berührungen kreisten durch seinen Leib, und die in Angst
und Schrecken bitter verborgenen Knospen der Lust – sie taten sich plötzlich
auf, färbten sein Fleisch mit schamvoller Seligkeit, blühten
durch seine Glieder. Verwundert blickte er sich um. Da bemerkte er die
Ursache: Nicht fern von ihm waren ein Mädchen und ein junger Mann
in den Teich gestiegen, um sich dort zärtlich zu vereinigen. Das Wasser
hatte ihm ihre Bangigkeit, Erregung und Lust mitgeteilt, die Spannung geleitet
wie Strom, wie ein Leib, ein gemeinsamer Leib. Er gab dankbar seinen Gruß
durch das leitende Element zurück, segnete sie mit unaussprechlichem
Entzücken, überließ ihnen den elektrischen See, seinen
Anteil an ihrer Ekstase, und machte sich auf den Weg."
Sie
legt das Heft beiseite, Licht aus, beginnt ihre Übungen, biegt sich,
spannt sich, formt die alten Zeichen und liest sie von innen, die Schrift
dieser gestischen Knotenschnur, und setzt sich schließlich wieder
zurecht, ein in sich zentrierter Planet, die Füße zur Körpermitte,
die Hände leicht aufliegend, offen. Im Tiefschlaf wach.
Zeitlose
Quelle der Zeit.
Irgendwann,
wer weiß wann, wer weiß – wieder auftauchend durch die mächtigen
Wogen, die bilderbrausende Sinfonie, hinauf in die blinkenden Reflexe,
in die Oberflächen des Ozeans, da fühlt sie's, fühlt den
orgasmischen Übergang vom traumerfüllten Schlaf ins Tagesbewußtsein.
Das nimmt etwas von der Fülle des Insichseins mit in die Erfahrungswelt,
hält im Ich eine Tür zur Unendlichkeit offen, läßt
die Lichtflut in der Empfindung nachklingen. So hieß es ja auch:
Der Erwachende.
Das
ist es: Die Vereinigung mit dem eigenen Leib, der Wiedereintritt der körperlichen
Wahrnehmung, des sinnlichen Gespürs in die träumerischen Spiegelwellen;
deshalb auch: Ein Leib, ein gemeinsamer Leib.
Erfrischt
lockert sie sich, innerlich gleichsam gebadet, steht auf und schaut aus
dem Fenster, wie weit die Bläue am Horizont schon vorangeschritten
ist. Staunend sieht sie: Alles leuchtet in sauberem Weiß, traumverzaubert,
in einen stillen Frieden gehüllt. Erinnerung, von Vertrautheit gesättigt,
Rückkehr der Kindheit.
Sie
trippelt rasch zur Küche hinab, setzt Wasser auf und bereitet das
Frühstück vor, geht dann kurz vor die Tür und formt Schneebälle,
um die Schwestern damit aufzuwecken.