22. Umweg  
       
      
    Ja nun prügelt mich nicht gleich, weil ich nicht dabei war. Ich hatte, als ich vom besagten Ort zurückkam, von der Treppe aus – denkt nur! – die Eisprinzessin gesehen, wie sie aus der Konditorei neben dem Café herausglitt mit Brötchentüte und japanischem Schirm; mich sah sie nicht, klackte spitz auf ihren Stöckelschuhen, in ihrem kurzen roten Mäntelchen, was für hohe Beine, zum Bahnhofsausgang hin, mied geschickt die Berührung mit dem Gewühle, den Pennern vor den Türen, den Taxifahrern draußen, ja ich folgte ihr. Denn frei sind wir und neugierig auch, und ich war frei und neugierig auch.  

    Das schlanke Vöglein flatterte durch die Front der Läden und Reklamen hindurch zum Bankenviertel hinüber, schlüpfte ins Kanalsystem der Passagen, ins Würfelspiel von Glas und Stahl; da mußte ich auf Distanz bleiben, denn in den einsamen Schluchten hätte sie mich bemerken können. Sie ging in einen der marmornen Säulenpaläste hinein, kam aber nach kurzer Zeit schon aus der Drehtür zurück, mit einem Autoschlüssel, stieg hinter der Ecke, Moment, ja da haben wir sie wieder, in einen Flitzer, auf den Beifahrersitz, und wartete dort, bis so ein gelackter Schnauzbart mit Glatze und Ohrring nachkam und mit ihr losbrauste wie der röhrende Hirsch. Ein Banker mit Porsche? Wenn das nicht ein Stenz war. Mmmh. Oder ihr Chef. Was weiß ich?  

    Zeit, umzukehren. Ich fror auch, denn mein Mantel hing im Café. Meine Güte, Heinrich! Ach Hendrik, mein Lieber. Was der wohl diesmal bestellt hatte? Da erlebte man schon die tollsten Überraschungen. Das letzte Mal wollte er das Sauerkraut der Beilagen haben, jedenfalls, was er wohl dafür hielt, aufgrund der Abbildungen, schätze ich. Ich wiederhole mich.  

    Gut, also hole ich mich wieder, zurück in die Gegenwart, mein Gott, was für Gedanken, was für eisige Feuer und kochende Duschen fallen da über mich her, der Schweiß bricht mir aus allen Poren, und ich versuche, durch die rosigen und orangenen Glatzköpfe hindurchzukommen, die jetzt auch noch die Eingänge belagern.  

    Die machen wohl eine Prozession, oder sie rufen den jüngsten Tag aus, so wie der Hahn da kräht zu ihrem Zii, zimm zimm zii, zimm zimm zii, jaja, Geld wollt ihr haben.  

    Zur Pilgerreise.  

    Wir sind alle auf der Pilgerfahrt.  

    Auf der Reise, ich weiß schon. Morgenlandfahrer.  

    Ich glaube, ich seh nicht recht. Halluziniere ich? Erst das mit der schlanken Schwertlilie, und jetzt auch noch das! Das auch noch! Mir springen gleich die Augen aus dem Kopf. Heinrich, Heinrich! Hendrik, was machst du denn zwischen diesen Jüngern?  

    Mensch, hörst du mich denn nicht, verdammt, ihr Mandarinen, laßt mich durch, – nein, diese Hähne halten natürlich zusammen wie Pech und Schwefel, diese Streichholzköpfe.  

    Fangen wir von außen an. Der da mit Tasche und Buch sucht Proselyten. Mal sehn, ob der mich durchläßt.  

    Gut, fängst du an. Wen fängst du, mich? Recht so, ich bin der Anfang, und mit dem Anfang muß man anfangen, das hat schon mein Meister gesagt. Hegel. Kennst du nicht? Weltbademeister. Schwimmen lernt man im Wasser, und Anfangen muß man mit dem Anfang – Worte des Meisters. Nun fang mich an, schieß los, ich höre.  

    Nein, ich will kein Liederbuch kaufen, was auch immer das sein mag, das Lied des Erhobenen, wie es ist. Ich hör euch doch, da weiß ich doch, wie es ist und wie ihr seid; genügt das nicht?  

    Komm, sag mir mal ehrlich: Wie oft singt ihr euren Rosenkranz? Den großen Abakus?  

    Gut, rechne ich selbst mal nach. Acht Sekunden das Halbe, erst Krishnas, dann Ramas Haare, macht sechzehn, also etwa vier pro Minute, in der Stunde so zweihundertfünfzig.  

    Aus Liebe, alles aus Liebe? Wie's im alten Lied geschrieben steht? Wo? Schön, zeig mal her.  

    Was, ihr Süßen seid alle in diesen blaubleichen Mann verliebt? Wer ist das?  

    Mondieu! Da kann man diesen Bahnhof hier auch gleich einen Dom nennen – wo doch der Dom schon lange in den Bahnhof integriert ist. Nun ist der Bahnhof der lebendige Teil des Doms, etwa Kreislauf und Stoffwechsel, und der Dom ist – mmmh – vielleicht das Knochengerüst, hochragendes Gebiß und kreuzgewölbte Schädeldecke, Schädelstätte. Sag mal, verehrst du den Gott, der sich in allen Göttern verehren läßt – gib her, ich such dir die Stelle, meine Güte, wer wirbt hier eigentlich wen? - also verehrst du den Allesseienden auch im Bahnhof? Nun, wenn du's nicht findest, dann sag ich dir die Stelle, ich kann's auswendig:  
     

      yo yo yâm yâm tanum bhaktah shraddhayârcitum icchati  
      tasya tasyâcalâm shraddhâm tâm eva vidadhâmy aham 
    Wie, jetzt soll ich dir's auch noch übersetzen? Also, wenn ich Gott im Bahnhof verehre, dann hat er das selbst so gewollt und in mir angeregt und nimmt meine Verehrung gerne an, steht da.  

    Gewiß, daß hängt davon, ab, ob du ihn im Bahnhof erkennst. Tja, tut mir leid, ich gehöre zur Konkurrenz, ich bin ein Jnana-Yogin. Also erkennen muß man den Allseienden, damit man auch weiß, warum man ihn verehrt, und vor allem: damit man überhaupt weiß, wen man da verehrt. Nun, ich verehre den, in den alles hinein und aus dem alles herausfährt, hello-goodbye, Sterben und Neugeburt, in diesem Bahnhof, verstehst du das? Wie, du verstehst nur Bahnhof? Ich sag ja auch nur Bahnhof, was sollst du dann auch anderes verstehen? Ja, meinetwegen, einigen wir uns dann halt auf die Kapelle zum Bahnhof, genannt der Dom? Oder aufs Bahnhofscafé? Verehrst du Gott auch im Bahnhofscafè?  

    Ich seh ihn nicht mehr, weg ist er, fluchtartig. Wo die nur hin wollen? Hee, wohin – Ach Wolfram, hast wieder alles versaut.  

    Dieser ganze hundertfünfzigste Psalm, da ist er vorbei. Ich will nicht mehr, aber ich muß noch hinauf ins Café. Und was weiß wohl die Lisl von dem ganzen Spuk? Am Ende ist das alles wieder einmal die Prüfung? Sieht so aus.  

    Die tagen wohl in der Küche.  

    Einen schönen guten Tag, meine Herren! Mmmh, Lischa ist nicht mehr dabei.  

    Aber das ist – ja, ich kenne ihn noch von meinem Rausschmiß, das ist der alte Jünger dort am Ofen; den anderen Beau erkenne ich nicht so schnell, und dann ist da noch der Ägypter, der die Bedienung macht. Doch, der Japaner da an der Seite; der kommt mir auch irgendwie bekannt vor – ich weiß nicht, vielleicht vom Sängerwettstreit, wo diese Elfer-Gruppe im Halbdunkel rumfeixte.  

    Die Tür zu einem weiteren Arbeitsraum geht eben kurz auf, da will einer wissen, wer hier eben reingekommen ist; in diesem Nebenraum räkeln sich sieben Anzugträger mit Narrenkappe, ich vermute: die restlichen Protokollanten aus der Oase. Dieser Japaner – verdammt noch mal, woher kenne ich den? Heinrichs Kompositions-Professor? Das könnte gut sein, das würde passen. Aber da ist noch was anderes - nein, ich weiß wirklich nicht – - -  

    Sind alle schwer beschäftigt. Backen ganz kleine Brötchen.  

    Darf ich's wagen, darf ich fragen: Entschuldigen Sie, meine Herren, findet hier die Prüfung statt?  

    "Was für eine Prüfung?"  

    Aber Sie sind doch Jünger, wenn ich mich nicht irre?  

    "Und ich dachte, ich werde immer älter."  

    Haha. Lacht nur, lacht euch erst mal gründlich aus. Nicht mich.  

    "Wir brauchen doch keine Gesellenprüfung mehr, oder?", und "Man ist so alt, wie man sich fühlt", und "Unkraut vergeht nicht", und "was Hänschen nicht lernt, lernt Hans nimmermehr", und "Schuster bleib bei deinen Leisten", und -  

    Ich bitte Sie! Ich glaube doch, ich habe ein ernstes Wörtchen mit Ihnen zu reden.  

    Das war vielleicht zu hart gesagt. Tja, sie formen ihren Teig, als wäre ich nicht da. Gut, sind sie wenigstens ruhig.  

    Ich weiß nicht, was Sie mit Herrn Tannhäuser angestellt haben. Jedenfalls ist der gerade mit den Orangs auf Pilgerreise gegangen, mit diesen kahlköpfigen Rosenkranzbetern, Sie wissen schon, und da möchte ich doch gerne wissen, wie Sie das geschafft haben. -  

    Schweigen. Grinsend schauen sie sich an, schauen mich an – "Dürfen wir's wagen, dürfen wir auch einmal fragen: Entschuldigen Sie, mein Herr, haben Sie sich nicht vielleicht in der Tür geirrt? Und mit wem haben wir die Ehre?" -  

    Wolfram. -  

    "Wolfram, der wohlgeübte Sänger?" - Da brechen alle Dämme, nichts hält sie mehr, die Brötchen fallen vom Tisch, der alte Jünger verbrennt sich am Herd, oder er tut so, als ob, und die sieben Protokollanten in schwarzen Anzügen mit ihren Narrenkappen, die an der Seite ihre Blätter in die Köfferchen packen, fangen doch prustend an zu singen "Une gong blang ding glang soft pfffff..." – jedenfalls haben die alten Knaben mit ihren Mehlfingern mich dann einfach rausgedrängt. Dieser alte Junge, und auch die anderen älteren Jüngelchen.  

    Was für ein Tag! Die ganze Welt besteht aus nichts als aus schamlos-rosigen Jüngern, auf Pilgerreise.  

    Wir sind alle auf der Pilgerfahrt.  

    Auf der Reise, ich weiß schon. Morgenlandfahrer.  
      
     

      
    23. Der Garten  
      
       
    Das bunte Treiben der Reisenden und die Prozession der Zimbelmänner hatte ihn aus der Halle herausgeführt, herausgezogen, mitgerissen ins Freie, zuerst durch die Felsen, von Glas und Algen überfleckt, die gebankten Stätten der Menschen, wo sie in staubigen Höhlen hausen, in schleimigen Löchern brüten, Luftgekammer in den Stein hinein, schattige Feuchte von Wänden umschlossen, von blättrigem Kalk überkrustet. Wäschebalkone schoben sich vor, hölzerne Erker in die Schluchten hinein, in das bunte Gewühle, Laden an Laden, da gab es kein Vorwärtskommen gegen den Strom, und in den blauen Schwaden dazwischen tönten die ächzenden Laster, die aufjaulenden Mopeds, die quäkenden Rikshas durch das Gedränge.  

    Aber härter als die Brandung des Lebenskampfes über die Betonwohnklippen war der Zuckerkristall dieser inhaltlosen Dauerbehauptung, die ineinandergeschachtelte Unendlichkeit der Abkapselung, der Spruchkammer eines addresslosen Sendungsbewußtseins. Um ihn gedrängt wie um das Kleinod in der Lotosblüte zogen sie die breiten Stufen zum Tempel hinauf, sogen sie ihn mit, zimbelten und sangen die immer gleiche, immer gleiche, wartet mal, in der Stunde so zweihundertfünfzig, macht alle vier Stunden einen runden Tausender am Fließband des Ausatmens, die immer gleiche Zeitmühle, die immer gleiche Strophe.  

    Und weißt du, Cuillaut, was das heißt, die immer gleiche Strophe? Ahnst du wirklich, was das heißt? Tagelang – zwölf Stunden sind dreitausend solcher langen Weilen, und was ist – was sind – ach, was heißt hier Steine statt Brot. Steine statt Wasser, statt Atem, Luft, Luft!  

    Und nun im Stein eingeschlossen unser verlorener Sohn, Steine in arithmetischer Regelmäßigkeit von allen Seiten, die Welt ein Gemäuersystem ins Unabsehbare, sie überkrähen jeden Schrei – Luft, Luft!  

    Da hatte er eine Erleuchtung, Allahuakbar, und zog den Scheinfahrschein aus der Tasche. – Ja, das öffnete ihm den Weg! Sie ließen ihn durch, sie ließen ihn frei, er durfte aus der Rückkopplungsschleife heraustreten! Ein tiefer Seufzer.  

    Und oben zum Tempelpark hin lockerte sich der Kordon, löste sich unter blaueren Himmeln auf, verstreute sich wie Blüten ins Gezweig des olivgelb und türkis übersprenkelten Gesträuchs. Erfrischend und festlich in Staub und Geflirr, so ragten gigantische Bäume in die mittagliche Weite, überflammt von Bougainville. Eine Aquarienwelt marmoriert in Schatten und Schwere, malachitgrüner Schwamm, von Wegen und Brücken in schweifenden Bögen durchtunnelt, durchwoben.  

    Der Gummischaum schluckte den Lärm, den immer gleichen, immer gleichen Tapetenreim im Spiralgang der Zeit.  
     
      

      Der Wiederholung Lied ist Ewigkeit  
      Des Einzigartigen Gesang bist du  
      Des Himmels Zeichnung treibt den Fernen zu  
      Der Vögel Zitterwellen ohne Leid
      
     
    Rauschen der Blätter im silbernen Wind, die Zimbeln verzischten weich zu einem Sprühwerk weitvernetzter Spitze, zu weißen Wasserstrahlen, kühl durch die Lüfte gesponnen. Das wollte er genauer betrachten.  

    Die Schleier nährten sich aus den Düsen beweglicher Fontänen mitten im Teich dieses Gartens, tanzten spiralig über Kreuz, vermählten sich mit dem Wind, und der frische Duft wehte über die Fläche, durch die Wege, bis in den Atem der Menschen hinein und befruchtete die Hügel und das heranbrandende Buschwerk.  

    Langsam umschritt er den Teich, kam über eine Brücke, von allen Seiten überwachsen, zu einer weiten Wiese, die zwischen Weg und Teich leicht abfiel. Wo die Büsche wieder das Ufer berührten, saß ein Angler, der warf seine lange Gerte aus, sieben, acht Linien blieben in der Luft, ein gefächertes Echo. Dieser Teich war voll von Fischen in Fischen, das ganze Wasser bestand aus ihren lanzettlichen, im überlappenden Wellenspiel aufscheinenden Leibern.  

    Ein angenehmer Raum, zur Himmelsstirn hin offen und von den Bäumen gerahmt zugleich.  

    Da war, zwischen anderen hier und da, unter einem rotüberflammten Baum auch eine bunte Gruppe hingelagert: Drei muntere junge Frauen, eine in einem langem weißen Kleid, eine in rosa-purpurner Sari, eine in bläulich gemustertem Panjabidress, und zwischen ihnen ein silberner Samtkopf in seidigem Drachenmantel, beflissen über sein Instrument gebeugt; und ihr Geplauder, ihr Lachen, besonders aber ihre Musik klang durch das Wasserrauschen daher, gliederte die strahlende Gischt in farbigen Harmonien, Regenbögen, präzise gefächerten Würfen, Gitarrenschlägen, die stuften die Zeit in lockeren, doch exakten Synkopen zu Heinrichs Schritten, wie er näherkam, vom Weg über die geneigte Wiese zu ihnen hinab.  

    Flamencowirbel verbröckelten in perlenden Melodien, gewechselt von Arpeggien weich, anschwellend, hart, gestopptem Akkord, Pause, Schlag, Pause, weichem Fortgang des aufgestauten Spannungsstromes – das zog ihn magisch an; er näherte sich zögernd, grüßte und lehnte sich aufmerksam an den Baum.  

    Der Alte flocht im Wechselgesang zu den goldtropfenden Sonnentänzen des Instrumentes nun ein endloses melodisches Mäander durch die vibrierenden Strahlen unter seinen Fingern hindurch, Kette und Schuß. Hin und wieder klatschten die drei Grazien verquere Rhythmen dazu. Im offenem Ende plänkelte er noch einige Melodieskizzen ins Gelächter der Mädchen hinein, die ihn mit Grashalmen bewarfen, musterte mit infinitesimal verlächelten Sehschlitzen unter hohen Brauen den Ankömmling, der nun ihm gegenüber hockte, und reichte ihm wie einem alten Bekannten ohne weitere Umstände die Gitarre herüber.  

    Hendrik setzte sich nun auf die Baumwurzel, das leichte Instrument auf dem linken Schenkel, und prüfte die Stimmung mit Oktavgriffen, arpeggierte einige Jazzakkorde in langsamer Folge, ließ dann im Gegenzug die Klänge abwärts perlen, in Verzierungen, Wechseltönen, kurzen Läufen hinab in die länger ausschwingenden tiefen Saiten, sammelte die Figuren von oben neu, führte sie in immer höheren Ansätzen, länger geschweiften Gängen auf den Grundton hinab, – bis er eine Griffolge von sieben melodisch gesetzten Akkorden gefunden hatte, die er variierend weiter ausbauen konnte.  

    Darüber begann er eine Melodie, summte sie mit, setzte sie singend fort, wo seine Finger und die Saiten nicht ausreichten, dehnte auch Teile der Grundfolge selbst in längere Phasen, die er durch mitgesungene Verzierungen anhielt wie ein Bluessänger, bevor er den Strom wieder in den surrenden Basisklang einmünden ließ.  

    Er versuchte, das ganze Riff durch Verrückungen wandern zu lassen, oben von der Dominante aus nach unten bis zur Tonika hin jeweils nur um eine kleine Sekunde verschoben, so daß sich ein großer Bogen durch die ganze Strophe spannte; so war der einzelne Vers auch für den jeweils folgenden offener, strömte in ihn ein, bis die Ozeanwoge des instrumentellen Refrains mit der abschließenden Tonika die ganze Sehnsucht und Strömung der sieben Katarakte in sich aufnahm.  

    Und so sang er sein Lied, ritt mit ironisch gedehnter Lässigkeit über die in immer neuen Stufen wiederkehrende Figur des satten Riffs, griff traumtänzerisch-locker in die Zügel und zielte durch die weiten Würfe in siebenfacher Punktsymmetrie auf die selbstverliebte Mitte der Gleichklänge, als sei alle Welt auf eine einzige Reimschnur gezogen:  
     
       

      Als ich in einem Küstenstadtcafé in fremdem Land  
      Die Speisekarte überflog mit federleichter Hand  
      Mein Rätsel in die flamboyante Zeichenspur gebannt  
      Die Buchenstäbe als mein eignes Los geworfen fand -  
      Da sprang aus Zungenbrecherstein, aus Konsonantkrokant  
      Mir ein geheimes Knistern zu, wie Permutt bricht zu Sand  
      So fein, als trüg es in sich aller Klanggeschmäcker Band  
         
      Des Herzens Puls – wie er durch meine Regung tönte – schien  
      In sattem Donner vor dem leisen Blitzen zu entfliehn  
      So gab ich mich durch aller Zungen Endgericht dahin  
      Dem Knospenmund der Zeit, dem zarten Nun der Zärtlichkeit  
      Dies wählte ich und hätt es als mein Leibgericht benannt  
      Und auf den Farbenfächer der Empfindung aufgespannt  
      Jedoch es zu benennen blieb der Schlüssel unbekannt  
        
      Ich mühte mich, es auszusprechen, sann und suchte Sinn  
      Doch als der Mundschenk kam, mußt ich ihm zeigen, wer ich bin -  
      Du kommst mir jetzt mit altem Wein? sprach er, – Die Königin  
      Verließ bereits das Fest, die Gäste wollen weiterziehn -  
      Den alten Wein gibt man zuerst! Wo bleibt jetzt mein Gewinn?  
      Die Antwort blieb ich schuldig. Alles, was er mir geliehn  
      Nahm er sofort zurück. Da steh ich nun, weiß nicht, wohin -  
       
       
    Noch während der rhythmischen Stufung seines Singens und der synkopierten Jazzanschläge schien die Szenerie sich zu verwandeln, war immer wieder verändert, so oft er aufschaute, wechselnd vom Binnenraum der gestaltenden Phantasie zum Bildraum des Gartens, als drehe er ein Kaleidoskop, das einmal das grünsilberne Geflirr der Baumkrone im Himmelblau, dann wieder den Teich mit dem Bausch und Bogen des Anglers vor dem Gesträuch, immer wieder auch die verschiedenen Blau-Rosa-Weiß-Töne der blumigen Gruppe wie Blütenblätter vervielfachte und auffächerte, je nachdem, wo er den Mittelpunkt seiner spielenden und spiegelnden Aufmerksamkeit setzte.  

    Zuletzt wieder mit dem chromatisch aufgestauten Strom einmündend in die Basistonika spielte er sich turbulent aus, wirbelte, drosch die Akkorde in raffinierten rhythmischen Vieldeutigkeiten von der einen Brandung in die nächste, so daß es die Blumenmädchen in der Runde nicht mehr ruhig ließ; zuerst drehte sich die Fee im weißen Kleid langsam, nun immer schneller vom Boden empor, weit schwang ihr faltiger Rock aus, wie bei einem Derwisch in Ekstase, dann begannen auch die anderen zu tanzen. Das regte ihn zu wilderen Wirbeln an, zu einer elektrisch sprühenden Folge kaleidoskopischer Sprünge des kreisenden, zuckenden, rauschenden Ineinandergreifens der weißen Fontänen mit diesen Feuerblüten, durchzweigt und gekammert vom elastischen Grün, eine Blume, die wild verzuckt wie ein Tier, ein Tier, das sich wie eine Blume entfaltet.  

    Und als diese Flammen des wasseratmenden Lüftespiels satt geworden waren und er die glitzernden Tropfen aufgesammelt hatte in stillen Spinnennetzen, heimlich im dunklen Grün, da waren sie wiederum bei ihm, die vier, nun dichter, als vorher, ein Apfelkernhäuschen; zu seinen Füßen lagen die purpurn und die bläulich Gekleidete, von links schmiegte sich das weißgekleidete Mädchen mit dem Gesicht an seinen Arm; der drachengewandete Meister hockte zur rechten unter dem Baum.  

    Und sie brachen auf, luden ihn ein, mitzukommen. Es ging in verfalteten Wegen um den Teich herum, durch die Kanäle der grünen Substanz zur überwucherten Brücke, von dort in einem versteckten Steg zum Wasserspiel hin. Die Bögen, die Schleier spannten ein lichtes Gewölbe über sie. Und gemeinsam drehten sie sich mit weitem Schwung um die hohen Trichter der Fontänen, um die weißschäumenden Tornadosäulen des gleißenden Orchesters. Der Ton dieser rauschenden Düsen stieg in weitem Glissando hinab, wie bei einem Flugzeug, eine Düse nach der andern, immer neue schienen von oben nachzukommen; andere Töne stiegen diesen entgegen, - ja, das war der seltsame Zaubergreis, der in der Mitte hockte und mit der Rechten auf seinem Instrument ein lang anhaltendes Tremolo wirbelte, während die Linke in einem Barreegriff den Hals des hölzernen Körpers bis zum Anschlag emporglitt, dessen hohes Flirren er dann so lange den Spiralen der ozeanischen Düsenjets entgegen zu halten versuchte, bis sie alle auf diesem Wirbel hineinreiten, eintauchen konnten in die duftige Gischt, das luftige Wasser, das brausende Licht.  
       
     

      
    24. Er kehret nicht zurück  
       
      
    Der Bahnhof ist ein verdorbenes Juwel, zersprungenes Grünglas, zerklüfteter Stein mit muscheligen Brüchen, mit spiegeligen Falten so eng, daß das Licht sich verdichtet, verengt, verschiefert in glänzenden Bündeln und Garben, geschart in Geleisen, in stählernem Strahlengedränge: So greifen sie fast ineinander, schneiden sich, spelzen hinein in die Weichen des Nachbarn, den Linienzwilling im Fluchtpunkt der Gleisparallelen, und schießen im Horizont wieder hervor aus schneidigen Düsen und zweigen hinaus über Brücken und Bögen weit in den Raum und über dich hin, wo der Wurf der Fontänen zur Kuppel erstarrt.  

    Von dort, da regnen sie wieder herab und verhallen ach tausendfach, brechen und stürzen hernieder, die Stimmen, die Ankünfte, gellt die Posaune die spitzen Signale, Reflex von den Seiten, die Pauken der Lautsprecherknackse, die Trommeln und Pfeifen der zischenden Züge, die Grüße der grölenden Schlachtenbummler und Bahnpolizisten, die flüstern sich was in die Tüte und sagen uns an eine fröhliche Zeit und singen, daß er schon naht, Freund Hein, denn der Weg ist die Zeit, und die Zeit ist ihr Ziel zu Genüge -  

    Gong, ja da und jetzt, da kommen sie schon, da sind sie! die rosigen Pilger, der einhundertfünfzigste Psalm, Halleluja, da kommen sie wieder, komm, Wolfram, da sind sie, am anderen Bahnsteig, hinunter zur Halle, hinauf -  

    Doch da bricht schon der ganze Flamenco, der stolpernde Samba, der Schwall, der Schwarm der Schwäne, der Gänse, Flamingos die Treppe herab, mein Gott, halt mich fest -  

    So sitzt sie über das weiche Papier gebeugt, die krausen Haare mit farbigen Strähnen, immer wieder fallen sie in die wasserglänzende Fläche, so dicht hält sie das Gesicht über die welligen Sümpfe. Tupfer hier und dahin, die sich schnell strahlig dehnen, zerfließen, Striche, die in Wirbelstraßen zerfasern; aber einige Stellen hat sie trocken gelassen, Wellen von gelblichem Schmutz zeichnen ihre Ränder, der fein aufgeschäumte Staub im Papier sondert sich zu einem Strandsaum ab.  

    Gedanken und Erinnerungen bilden wachbewußte Felder, wo der aufgehäufte Lehm über den Schilfinseln trocknet, Ziegel aufgetürmt zu Mauern, zu Stufenpyramiden, umringten Städten zwischen den Strömen, und die Eroberer und Zerstörer bauen weiter über den Trümmern, den hartgebrannten Scherben; aber Ea, der weise Gott, kommt übers Meer, entwindet sich den Fluten, bändigt die Wasser in Kanälen, Leitungen, Röhrensystemen, Geäder verteilt bis in die feinsten Kapillaren der Früchte, verwandelt den Morast in duftiges Obst, in Saft und Geschmack.  

    Doch um die erhabenen, trockenen Inseln der Seligen, rings um die Städte der Wachheit, da fluten noch frei die Erinnerungen in den Erinnerungen, Träume in Träumen versunken, Gedanken versenkt in Gedanken, Gewelle, Gewoge, Gerausche, -  

    In Welle, Woge, Rausch verästeln, verzweigen, zerfasern die Farben, die Formen, Substanzen zu Baum und Wäldern und Buschwerk, gefleckter, gekörnter, verstäubter Flocken, Kerne, Sterne – sprießen, schießen an zu -  

    Wo, wo bist du, wo bist du nur, Heinrich? Da sind wir durch die Pilger geschwommen, hinab und hinauf, und suchten herz- und händeringend gegen die Flut aus dem Füllhorn der rosigen Freuden den Freund, und drangen noch bis in den zischenden Dampf der stampfenden Maschine vor, da war er nicht mehr -  

    Nein Wolfram, hier ist er nicht. Alles umsonst.  

    Wir faßten uns, schritten zur Strompromenade hinab, spazierten entlang, die Schuhe im Schlick, dann wieder ein platzendes Steinegekratze auf knirschenden Kieseln.  

    Was ist das für ein Lied, das du da singst, Wolfram? Es ist nicht von dir? -  

    Der Magier im Geladenen Damenland, ach ja – aber der ist doch seit, ich glaube, seit zwölf Jahren schon tot, wie kann er damit den heutigen Tag besingen? -  

    Wie, das Lied heißt so? -  

    Merkwürdig. In der Tat. Das ist Hendrik, ja, das könnte er sein, wie er sich beklagt, daß wir, die Freunde, heute nicht zusammen sein können. Und die Maschine, die wir zusammen gebaut hätten, die werde uns niemals retten; das sei es, was wir ihm immer sagten, und deshalb kämen wir auch nicht mit hinein, welch ein Drama.  

    Aber was meint er damit, und was sind das für Gestalten, die von Silberblau bis Blutrot herumklecksen?  

    Mein Aquarellkasten? Na hör mal! Es kann genausogut dein eigenes corpus delicti gemeint sein, oder was sind das für lange tubenförmige Dinger, die immer herumregnen, Schreie und Schmerzen verursachen, wenn ich das Zeug richtig verstehe, das du da singst?  

    Gewiß. Reste des Rätselhaften machen Ästhetik; wenn alle Fragen geklärt sind, hören Reiz, Erlebnis und Anmut auf. Also gut: Übergehen wir die Deutung, in deinem maskulinen Schutzinteresse. Aber die Maschine nun, was sagt unser Comics-Kaugummi-Kautschukzapfer denn weiter dazu?  

    Also: "Das Gerät wird uns nicht retten", so sagen die Freunde – nehmen wir an, das sind wir -, und es sei unmöglich für Menschen, unter Wasser zu leben und zu atmen, das sei unser Hauptvorwurf, ja ja, und wir hätten ihm das ins Gesicht geschleudert und gesagt: "Wie auch immer – schön, mach mal, es wird wohl gut und recht und billig ablaufen jenseits des göttlichen Willens und der Gnade des Königs."  

    Der Kern ist ja wohl, daß man in der Tat unter Wasser nicht atmen kann, nicht wahr, Wolfram? Und die Pointe ist demnach, daß er es doch vollbringt, wie man hört.  

    Er ist ja auch ein Musiker. Dieser mechanische Bolero, ich sehe es an deinen zuckenden Untermalungen, das ist die Maschine selbst, nicht wahr? Was denn sonst?  

    Und Wasser ist Substanz der Musik, nun?  

    Nein, natürlich nicht Wasser im herkömmlichen Sinne, sondern die mütterliche Substanz seiner Neugeburt: "So ihr nicht werdet von neuem geboren aus Wasser und Luft." – Na doch, Wolfram, du hast eben noch gesungen: Nicht um zu sterben, sondern um wiedergeboren zu werden, fern von den verrotteten und zerstörten Ländern – ganz zu Beginn der ersten Strophe -, also dazu steigt er hinab in den Ozean.  

    Ich sage dir, er meint die Musik selbst, das Lied besingt sich selbst. -  

    Flache Steine warfen wir, ließen sie dutzendfach über die unruhige Fläche tanzen, in großen Sprüngen, so sanken sie schnell, dann in feinen, fast zitternden, flachen Berührungen, die tasteten sich weit, in leichter Krümmung stromabwärts. -  

    Na, das sind ja Sprünge, was für Vergleiche! Wie kommst du denn jetzt auf diese irische Zauberin? -  

    Das kannte ich nicht. Tristans Isolde also, sie verhaucht sich durch ihr Lied hindurch in den Weltatem? In den Äther? Muß dann die Sängerin nicht sterben? -  

    Ja, recht hast du: die Hörer auch! In die Musik hinein müssen sie mitsterben, während sie hören, wie diese Holde sich in des Weeeeelt-Aaatems weeehendes All verströmt – und du, du bist noch da, läufst leibhaftig mit einem Kopf zwischen deinen Hörerohren durch die Gegend und predigst den Liebestod unsterblichen Gesanges, ohne dich deiner verstockten Sinne zu schämen? Erzähl du mir doch nicht solche Halbwahrheiten über Lieder, die sich selbst besingen!  

    He, Leute, schaut mal her, seht ihn euch an, dieser Kerl hier ist überschüssig, überflüssig wie ein angereimter, angeschleimter Doppelkopf-Wortekropf. Wer Finger hat, zu rechnen, der rechne: Die Welt gibt uns einen Wolfram zuviel, doch wir sind der Welt noch einen Tannhäuser schuldig! – Geht das auf? -  

    Dunst kroch über das eilige Fließen der Mitte, über den langsam dahin verplätscherten Rand des Stromes, den Kies, den Sand, den Tand. Hinter den Buhnen im Zopf der wechselnden Wirbeltrichter, hin und her, so zog das graue Geschleier von Luft und schimmernder Fläche und Schwere noch fort und fort, durch die Stadt hinter uns in breitem Band. -  

    Komm, mir wird kalt. Gehen wir nach Hause, du, damit du dich durch deine Ohren in den Gesang des Weltatems einzuhören übst – ja gut, mach halt deine Übersetzungen, dann bleibst du unserer Handlungsbilanz auch erhalten -. Und ich, damit ich durch meine Wasserkleckse mich in die Weltfarben hineinspüle. So ganz falsch ist das nicht. Nein, das erkläre ich dir später. -  

    Das Papier trocknet endlich an. Sie nimmt den Bleistift und zeichnet ihren alten Hexengesang, ein Sammlerlied der Strandgutstücke und Gerölle, in die feuchten Ufer hinein -  
      
      

      Bahnhofbrückenbogenstrahlen  
      Stahlgezähn wächst rund gespreizt;  
      graugebraute Brühe ölt die  
      wellenbraunen Klatschgeräusche  
      glänzend ein. So traumvertraut und  
      traurig rollt ein Kahngetrudel,  
      traurig rollt ein Kahngetrudel  
      durch die kühlen Luftgestrudel,  
      durch die Haare hier auf meinem  
      Unterarm. Ich spüre, rieche  
      Rieselregens leis Gespreche  
      und ich breche Bimssteinschwämme  
      recht und schlecht zu Mondgestein.  

      Das spröde Feinkanalgewächs  
      verrauscht, verrinnt, und unter meinen  
      trocknen Schritten schläft der Rest  
      zu Staubgeruch und Teergespei.  
      Das spröde Feinkanalgewächs  
      verrauscht, verrinnt, und unter meinen  
      trocknen Schritten schläft der Rest  
      zu Staubgeruch und Teergespei,  
      zu Staubgeruch und Teergespei.  

      Im feuchten Laub der Silberpilz  
      belauert meine Mitternacht,  
      belauert meine Mitternacht;  

      und bin zum Tode ich erwacht  
      durchdringt er mich und trinkt geheimer  
      Lebenssäfte süßen Seim  
      und bittergrünes Weingeschleim  
      und bittergrünes Weingeschleim  

      und saugt mich Rausch und Rhein in sich so  
      gierig tief hinein in sich so  
      gierig tief hinein in sich so  
      gierig tief hinein.

      
     
 
Fortsetzung: Kapitel 25-27
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I. Enneade   
   
1. Prolegomena   
2. Ouvertüre   
3. Iris   
    
4. House burning down 
5. Die Reise   
6. Pupille   
    
7. Rasur   
8. Das Café I   
9. Der Chemiker
II. Enneade   
   
10. Das Brot   
11. Der Kelch   
12. Wasserwüsten   

13. Die Wellentaucher 
14. Die Ersten – die Letzten 
15. Die Wellenreiter   

16. Feuermeere   
17. Die Brüder   
18. Der Wein

III. Enneade   
   
19. Die Substanzen   
20. Das Café II   
21. Eli Eli   

22. Umweg   
23. Der Garten   
24. Er kehret nicht zurück 

25. Oh du lieber Abendstern 
26. Dahin zog's mich   
27. Katalegomena

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Heinrich von Ofterdingen, Wolfram und Klingsôr im "Sängerkrieg auf der Wartburg"
 
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Feire Fiz (Hans Zimmermann, Görlitz) / Elischa Beth / Wolfram / Cuillaut : ... noch einen Tannhäuser schuldig : Zwiebelgold : Die verbrannten Briefe 4-6