Am nächsten Tag
um 8 Uhr holte mich meine Mutter aus dem Bett. "Uma, wach auf, da ist
deine Freundin am Apparat." Ich schleppte mich halb
wach bis zum Telephon. Dorothee und Sabrina waren schon in Pune angekommen
und befanden sich nun irgendwo in der Nähe des Bahnhofs. Ich wollte
die beiden abholen, aber Dorothee weigerte sich, und ich gab ihr den Rat,
eine Riksha zu nehmen. Ich erklärte ihr, wie das Stadtgebiet heißt,
wo ich war, wie lange die Fahrt dauerte, und was sie kosten würde.
Manma war aufgeregt. Außer meinem Mann hatte sie niemals Ausländer
bei sich zu Gast gehabt. Sie schickte mich zuerst unter die Dusche und
danach zum Einkaufen. Ich war unsicher, ob ich wieder fließend deutsch
sprechen konnte, und für einen Augenblick glaubte ich überhaupt
nicht, jemals in Deutschland gewesen zu sein! Meine Wahrnehmungsfähigkeit
war anders geworden. Und in der kurzen Zeit! Was ist überhaupt diese
Welt, in der wir wohnen? Ist sie das, was wir mit unseren Sinnen als Realität
wahr nehmen? Oder ist sie das, was wir empfinden in unseren Gedanken und
in Urteilen? Existiert die Welt in unserer Vergangenheit oder in der Zukunft
oder in unseren Träumen? Ich erinnerte mich an den brasilianischen
Schriftsteller Paulo Coelho, dessen Interviewartikel ich am Dresdener Flughafen
las. Ich redete mit meiner Mutter darüber. Sie sagte: "Das ganze Universum
mag wohl ein Traum Gottes sein, aber jetzt solltest du das Klosett sauber
machen." "Wie kannst du nur .
. ."; ich bereute, meine Gedanken mit ihr geteilt zu haben, und fand es
zwecklos, weiter darüber zu reden. Meine Mutter lachte und rezitierte
zwei berühmte Strophen aus der Bhagvadgita, dem 'Lied der Gottheit':
"Das Werk zu tun sei
dein Beruf, nicht kümmere dich,
ob es gelang, Begehre nie der Taten
Frucht, doch fröne nicht
dem Müßiggang. Ergebungsvoll tu jedes
Werk und frei von irdischer
Begier, Ob gut, ob schlecht der
Ausgang sei; bewahre stets den Gleichmut
dir."
"Zweiter Gesang, Verse
47 und 48; Nicht wahr?" fragte ich sie zur Bestätigung und sagte danach,
"Natürlich gehe ich jetzt das Klo putzen, aber ich habe nicht von
Karma geredet, sondern von dieser unbedeutenden Welt, die ich manchmal
nicht begreifen kann. Du bist inkonsequent." "Warum magst du das alles
begreifen wollen? So einfach und so wichtig ist das auch nicht!" sagte
sie. "Ich suche nur eine Antwort.
Ist das zuviel verlangt?" fragte ich enttäuscht. "Nein, es ist nicht zuviel
verlangt", sagte sie ernst zu mir, "Ich bin besorgt und froh, dass du überhaupt
SUCHST. Die Suche nach einer befriedigenden Antwort dauert das ganze Leben
oder mehrere Leben. Aber jetzt musst du wirklich ein bisschen sauber machen.
Und mach bitte in deinem Zimmer die Betten fertig. Deine Freundinnen können
dort schlafen." "Und ich?" fragte ich
vernachlässigt. "Du kannst im Wohnzimmer
auf Daddys Sofa schlafen", entschied Manma sofort, "Der Gast sei
Gott!" "Ja, der träumende
und der unbegreifliche Gott", sagte ich laut lachend. "Lass mich wenigsten
hoffen, dass deine Freundinnen nicht die träumenden und unbegreiflichen
Wesen sind!" scherzte Manma auch mit mir. Dorothee und Sabrina
kamen mit nur einer indischen Stoffhandtasche, die sie gemeinsam zwischen
sich trugen. "Wo habt ihr Eure Rucksäcke
gelassen?" war meine erste Frage nach der Begrüßung. Die beiden
erzählten, dass sie die ganze Nacht von Gokarna aus, einem Küstengebiet
südlich von Maharashtra im Staat Karnataka, durchgereist waren. Dort
hatten sie eine kleine Palmhütte gemietet, in der freudigen Gesellschaft
von Spinnen und Kakerlaken. Nach der Hochzeit wollten sie wieder nach Gokarna
zurückreisen. Die Hütte war noch gemietet, und ihr restliches
Gepäck war dort gut behütet. Beim Tee erzählten sie uns
von ihrer zehnwöchigen indischen Reise vom Nordwesten bis nach Varanasi
und Dharamshala und danach in den Süden bis zum Kaniyakumari-Kap,
wo die drei Ozeane sich begegnen. Ich war die Dolmetscherin zwischen ihnen
und Manma. Manma hatte viele Fragen und Ratschläge, aber ich wusste,
dass die beiden nach der langen und kalten Zugreise müde waren, und
wollte, dass sie ein wenig Zeit gewinnen, um sich der neuen Situation anzupassen.
Aber in Ruhe gelassen zu werden wird in Indien als Vernachlässigung
aufgefasst. Ich war zwischen Tür und Angel und fragte Dorothee, als
sie geduscht hatte: "Möchtest du dich
hinlegen, oder kommt ihr mit mir in eine Ausstellung, die ich heute besuchen
will?" "Fangen die Hochzeitszeremonien
nicht heute an?" fragte sie mich zurück, um den Tag vorausschauend
zu planen. "Ah, du meinst das Essen
beim Bräutigam? Es ist zwar heute Abend, aber leider sind dort nur
die engsten Familienmitglieder eingeladen. Macht es dir was aus?" Ich war
ein bisschen traurig, weil ich die beiden so bald wie möglich Rashmi
vorstellen wollte, die im gleichen Alter war. In den nächsten Tagen
würde Rashmi kaum Zeit und Ruhe finden, Dorothee und Sabrina richtig
kennenzulernen. Dorothee nickte verständnisvoll und sagte: "Nein, wir können
zu Hause bleiben und früh ins Bett gehen. Ich brauche auch Ruhe zum
Schreiben." Ich sah ihr zartes und
interessantes Gesicht und hatte Bedenken, wie sich diese feinfühlige
Blüte zwischen den vielfältigen Temperamenten meiner Familie
zurecht finden würde. Ich hatte sie mit Erlaubnis meiner Familie eingeladen,
diese vedische Hinduhochzeit mitzuerleben. Ich wollte nicht, dass sie sich
vor der fremden Umgebung und vor den Kontrasten zwischen den Kulturen erschreckt.
Es ist eine Sache, als Tourist in Indien herumzureisen, und es ist eine
andere Sache, am Alltag einer indischen Familien hautnah teilzunehmen.
Familienfeiern und Feste sind euphorische Anlässe, wo gelegentlich
die seelischen Kräfte auf die Probe gestellt werden. Ich vertraute
ihr und sagte: "Gut, danke, ab morgen
sind wir ständig im Hochzeitshaus. Aber lass uns nun mal raus gehen!" Als Sabrina mit der Dusche
fertig war, war Manma sehr verwundert, weil die beiden nur einen halben
Eimer heißes Wasser benutzt hatten. Ich sagte Manma, sie solle sich
darüber keine Gedanken machen, und beruhigte sie. Sie wusste nicht,
dass die beiden das erste Mal in ihrem Indienaufenthalt heißes Wasser
zum Duschen hatten! "Vergiß es nicht,
Sanyu hat heute Geburtstag", erinnerte mich Manma vom Balkon aus, als wir
drei auf der Straße waren. "Ich weiß", rief
ich zurück, "keine Sorge, ich denke daran. Wir sind bis zum Mittagessen
wieder zu Hause." In der Nähe des
Theaters besuchten wir eine kunsthandwerkliche Ausstellung des Staates
Gujarath. In einer großen Halle waren Holzmöbel, Textilien und
aus Marmor geschnitzte Geschenkartikel dargestellt. Mich reizten die handgearbeiteten
Tür- und Wandaufhänger. Gujarathi-Strickmuster mit kleinen Spiegeln
und mit einzigartigen Motiven repräsentieren das einfache Leben des
Volkes in dieser Region. Dorothee war an Miniaturmalerei auf getrockneten
Pipulblättern interessiert. Sabrina schaute nach bunt bemalten Messingwaren. Die beiden Mädchen
erregten die Aufmerksamkeit der Menschen wegen ihrer lässigen Kleidung
und der bunten Haare. Sabrina trug mehrere blonde Zöpfe, und Dorothees
Haar war bemalt. Beide hatten Piercings. Über diese exotische Aufmachung
tuschelten die Leute leise miteinander. Neugier und Bewunderung äußerten
sie in meiner Muttersprache. Sie wussten nicht, dass ich beide Ausländerinnen
begleitete, deshalb hatten sie keine Hemmung, sich vor mir zu offenbaren.
Ich amüsierte mich und dachte, vielleicht errege ich die gleiche Aufmerksamkeit
wegen des Andersseins in Deutschland? Ich unterhielt mich mit
einer Frau, die auf dem Boden saß und nähte. Es war eine einfache
Frau, die ihre Sari anders trug als es in Maharashtra üblich ist.
Sie stammte aus einem kleinen Dorf in Gujarath und sprach nur Gujarathi.
Ich verstand sie, aber ich redete mit ihr Hindi. Sie erzählte mir,
dass sie jeden Tag sechs bis acht Stunden für einen Vertreter in Ahmadabad
arbeitet. Bettüberwürfe mit Patchwork sind ihre Spezialität.
Jede Woche bekommt sie die Stoffreste und das Nähmaterial aus der
Großstadt angeliefert. Sie hat vollkommene Freiheit in ihrer künstlerischen
Ausgestaltung, nur die quadratischen Maße sind vorgegeben. Sie kann
die Stoffe, Farben, Strickmuster und deren Kombination selbst wählen,
überlegen und bearbeiten. "Sie sind also ein Genie?"
fragte ich sie und bewunderte das Netzmuster, das sie gerade auf einen
dreieckigen Leinenstoffrest stickte. "Genie hier und Genie
dort. Ich verstehe davon nichts. Ich nähe einfach drauf los und mache
gerade, was mir in den Kopf kommt", sagte sie unbekümmert. Ihr natürlicher
Sinn, Haupt- und Komplementärfarben nebeneinander zu setzen, war sehr
ausgereift. Ich dachte, sie sollte niemals Kunsttheorie studieren, sonst
wacht sie auf wie Adam und Eva. Ihre Arbeit ist begrenzt, und sie bewegt
sich in ihrem eigenen Rahmen. Es ist ihr Stil, vielleicht wenig experimentfreudig,
aber stark traditionsbewusst. Volkskunst hat ihre eigene Identität.
Ich wollte wissen, ob man davon seinen Lebensunterhalt verdienen kann und
fragte sie: "Verdienen Sie gut mit ihrer Arbeit?" "Wir haben eine Landwirtschaft
und auch ein paar Kühe. Deshalb sind wir nicht auf diese Arbeit angewiesen.
Aber unser Vertreter ist ein guter Mann. Er stammt aus unserem Dorf. Er
hat in der Großstadt Fuß gefasst und hat ein ansehnliches Geschäft
in Ahmadabad. Er unterstützt wie mich auch noch andere Frauen in unserem
Dorf. Wir können nicht nur vom Nähen leben, aber es ist etwas
Salz zu unserem Brot", sagte sie, ohne sich von ihrer Arbeit abzulenken. Weil diese Ausstellung
mit Verkauf verbunden war, kaufte ich tüchtig verschiedene Sachen,
um das schöne Kunsthandwerk zu unterstützen. Meine Freundinnen
haben auch gern dazu beigetragen. Draußen auf der Straße besorgte
ich einen Blumenstrauß von Gladiolen in Weiß und Blau für
Sanyu. Der Blumenhändler war verdutzt, weil ich mich weigerte, die
durchsichtige Plastikfolie und die bunte Styropor-Liebesperle als Dekoration
anzunehmen. Zu Hause wünschte
ich Sanyu alles Gute zum Geburtstag und stellte ihr Dorothee und Sabrina
vor. Beide wollten beim Servieren des Essens mithelfen. Sie lernten von
Neeta, die auch anwesend war, welche Gerichte wo in den großen Stahlteller
gehörten. Man fängt ja mit dem Salz in der Mitte an, und rechts
und links davon werden die Gerichte auf dem Teller verteilt. Es ist eine
komplizierte Ordnung, die ich auch häufig verwechsle. Trockene und
frische Chutneys, eingelegte Pickel, fritierte Papadums und Sagomedaillons,
Gemüsesorten, Linsen-Curry, Reis und verschiedene Arten von Fladenbroten
haben ihren eigenen Platz auf dem Teller. Der Essvorgang ist in manchen
Brahmin-Familien gleichfalls festgelegt, wie bei einem französisches
Menü. Wir nahmen die Regeln nicht so ernst. Neeta und Sujata haben
in eine Brahmin-Familie hineingeheiratet; dort werden die Gänge exakt
eingehalten. Sanyus Ehemann ist ein Maratha aus der Händlerkaste wie
meine Eltern. Sabrina nahm ihren Lippenpiercing-Ring beim Essen ab. Das
amüsierte die Frauen in unserer Familie. Sie tat den Ring auf die
Tellerseite und meine Mutter hatte Angst, dass sie den Ring aus Versehen
in den Mund schiebt! Wir nahmen die Mahlzeit wie üblich nur mit unserer
rechten Hand. Sanyu lobte die beiden, weil sie nicht nach einen Löffel
gefragt hatten. Dorothee probierte alles aus, aber für Sabrina war
die Schärfe gewöhnungsbedürftig. Mittags gingen wir ins
Kino. Ich wollte einen neuen Film von Mira Nair sehen. Diese weltberühmte
indische Filmregisseurin wählt sich immer provokative Themen. Ihr
Film 'Kamasutra' hatte absolutes Aufführungsverbot in Indien. Die
Handlung von 'Salaam Bombay' zeigte das tragische und realistische Leben
eines Slumjungen in Mumbai, und 'Mississippi Masala' handelte von der Vertreibung
der Inder aus Uganda in den Sechziger Jahren, verknüpft mit einer
Liebesgeschichte zwischen einer ausgewanderten Inderin und einem schwarzen
Amerikaner. Heute wollten wir 'Monsoon Wedding' sehen, ein harmloseres
Thema. Wir gingen zu Fuß
in einen neuen Kinokomplex in der Nähe des Hauses. Dort gab es vier
Kinos mit je eigenem Kartenverkaufsschalter. Goldene Karten kosteten 75
Rupien und silberne 50 Rupien. Wir kauften die günstigen und saßen
direkt vor der großen Leinwand. Es war für mich ein großes
Ereignis, wieder im indischen Kino zu sein. Sabrina und Dorothee aßen
Glukose-Kekse und Mandarinen. Neben mir saß eine Gruppe von Puñjabijungen
mit ihren Mofa-Helmen, lachten, redeten ständig Puñjabi und
lebten den Film mit, als ob sie ein Teil des Schauspiels wären. Es
war kein typischer indischer Film, sondern eine zeitgenössische Komödie,
die rund um eine Hochzeit geht. Das oberflächliche Benehmen in einer
reichen Oberschicht-Familie war parodistisch dargestellt. Wir genossen
die Nebenhandlung, eine Liebesgeschichte zwischen einem armen katholischen
Dienstmädchen und dem technischen Organisator der Hinduhochzeit. Diese
beiden Rollen zeigten die menschlichen Züge in wahrem Sinne, naiv
und schön. Am Ende wurde eine Vorgeschichte von Kindesmisshandlung
aufgedeckt. Vielleicht hat Mira Nair gelernt, ihre sozialproblematischen
Themen in geschickter Weise durch die indische Zensur zu schmuggeln. Auf dem Weg nach Hause
dachte ich an eine merkwürdige Plakatwerbung, die ich im Kino gesehen
hatte. Eine kleine Reparaturfirma nannte sich "Arzt für PC", und zwar
mit staatlich geprüftem Zertifikat! In Deutschland würde es so
etwas kaum geben, Ärzte für kranke Monitore oder für defekte
Rechner. Der Markt für Computer ist groß und die Preise sind
in den letzten Jahren derartig gesunken, dass es billiger ist, einen neuen
zu kaufen, anstatt das Gerät reparieren zu lassen. In Indien werden
alle elektronischen Geräte bis zum Gehtnichtmehr repariert. "Arbeit
für jeden ist sinnvoller als die überflüssige Produktion
in den Entwicklungsländern", hat mein Vater immer gesagt. Abends duschte ich noch
einmal und machte mich mit den anderen zusammen schick. Rashmi hatte mir
ihren seidenen Puñjabidress gegeben, dunkelgrün mit kleinen
goldenen Punkten drauf. Janu wollte, dass ich unbedingt mein Gesicht pudere,
was ich niemals tue. Ich sagte ihr: "Du solltest mehr Puder tragen, nicht
ich. Nach Rashmi bist du die nächste, die heiratsfähig wird.
Wenn du dich schön hübsch machst, dann finden wir für dich
vielleicht heute Abend schon eine gute Partie." Scheu wie ein Hase lief
sie weg, und ich hatte meine Ruhe. Ich zeigte Dorothee, wo Milch und Brot
stehen und wie man mit dem indischen Gasherd umgeht. In Manmas Küche
stand fast alles offen und sie nickte seitwärts, um auf indische Art
zu sagen: Alles klar! Heute war "Vyahi-Bhojan",
das Kennenlernen-Essen. Es fand in der Festhalle statt. Es ist in Maharashtra
üblich, solche Gebäude für Hochzeiten und für die vielen
anderen Zeremonien zu mieten, wo Hunderte von Menschen eingeladen sind.
Es ist auch üblich, in Fünf-Sterne-Hotels einen Festsaal zu mieten.
Zufällig gehörte diese Hochzeitshalle dem Onkel des Bräutigams.
Sie hatte einen gepflasterten Garten mit Obstbäumen und eine geräumige
Veranda, die zum großen Zeremoniensaal führte. Zur Rechten befand
sich der Speisesaal, die Küche, der Aufenthaltsraum für das Dienstpersonal
und ein Büro. Es war ein einstöckiges Gebäude. Unter dem
Dach gab es einen ovalen Zuschauerbalkon über dem zentralen Zeremonienplatz
im Hauptsaal, damit die Gäste von oben dem Geschehen folgen konnten.
Gegenüber waren jeweils zwei Räume reserviert für die Familien
von Braut und Bräutigam. Auf beiden Etagen gab es Waschräume.
Ich mochte dieses gepflegte Unternehmen. Etwa 50 Leute der engsten Verwandtschaft
waren anwesend. Vor dem Essen saßen
beide Familien im Festsaal einander gegenüber. Die Frauen waren festlich
gekleidet, mit Schmuck und einer rosa Rose in Haar, welche wir alle zu
Begrüßung am Eingang erhielten. Die Kinder tobten herum und
spielten miteinander im großen Raum. Die Männer waren ziemlich
nervös und wussten nicht so recht, wie sie Gespräche zum Kennenlernen
anfangen sollten. Sanyu flüsterte in meine Ohren: "Schau, die ältere
kleine Frau in der orangenen Paithani-Sari ist Rashmis Schwiegermutter,
und der dünne Mann mit der Brille ist der Schwiegervater. Die große
Frau mit der hochmütigen Gesichtsmiene ist die ältere Schwägerin
von Rashmi. Sie wohnt in den Vereinigten Staaten, ist verheiratet und hat
eine Tochter. Sie hat sogar ihr chinesisches Kindermädchen aus den
USA hierher gebracht. Als ob hier nicht genug Leute da wären, um auf
die Kleinen aufzupassen." "Ich verstehe", sagte
ich und fragte weiter: "Und wer ist diese kleine flinke Frau, die sich
um alle Gäste kümmert?" "Das ist die andere Schwägerin.
Sie hat eine eigene Softwarefirma mit ihrem Ehemann zusammen", informierte
mich Sanyu. Rashmi und Amit standen
auf und baten alle Gäste um Aufmerksamkeit. Sie wollten nun ihre Familienmitglieder
gegenseitig vorstellen. Nur Name und Verwandtschaft wurde angesagt, kein
Titel oder Beruf oder Alter. Es waren so viele Leute, Onkel, Tanten, Vetter,
Kusinen, dass ich nach 30 Sekunden wieder völlig ahnungslos war, wer
denn wer war. Ich sagte Sujata leise:
"Es tut mir leid, aber so schnell kann sich kein Mensch alle Namen merken." "Das macht nichts", sagte
sie, "Ich kann das auch nicht. Hauptsache, dass wir lächeln und so
tun, als ob wir uns alles merken, und uns höflich benehmen." Sie nickte
mit ihrem besonderen zuckersüßen breiten Lächeln einem
Opa von Amits Seite zu, der gerade vorgestellt worden war. "Vielleicht
tun sie das Gleiche mit uns!" zischelte ich höflich durch meine lächelnden
Zähne. "Schu, nicht so laut?"
mahnte mich Sujata. Als Rashmi an der Reihe
war, ihre Familie vorzustellen, war sie geschickter als Amit. Zuerst stellte
sie die Ehrenälteste in unserer Familie, nämlich meine Mutter
vor. Danach von der väterlichen Seite die Onkel und Tanten zusammen
mit ihren Familienangehörigen. Zum Schluss die mütterliche Seite,
nämlich die drei Tanten, also uns Schwestern mit den Familien: Neeta
mit ihrem Ehemann, Sanyu und ihren Ehemann mit den beiden Kindern und die
jüngste Tante aus Deutschland mit dem komischen Nachnamen. So viele
Augen schauten direkt auf mich, und ich wusste, dass die mich alle bedauerten
oder bewunderten, weil ich einen Ausländer geheiratet hatte und nicht
ganz zu der Gesellschaft passte. Ich stand auf, verbeugte mich tief und
machte einen ordentlichen Namaskar. "Heute hat Rashmi einen
Beweis für ihre gute Erziehung gegeben", lobte Manma sie, als sie
fertig war, "Hat sie nicht ordentlich ihre eigene Familie vorgestellt?
Möge Gott die bösen Blicke von meiner Enkelin fern halten!" "Und sie hat alles so
charmant und selbstbewusst gemacht. Ja, wir alle haben wieder einmal Grund,
auf sie stolz zu sein", bestätigte sie hocherfreut der gutmütige
Ehemann von Neeta. Danach entspannte sich
die Lage zwischen den Gästen, und die beiden Familien mischten sich
nach Interesse untereinander, um sich zu unterhalten. Ich gab Amits Eltern
die Lübecker Pralinenschachtel, die ich im Karstadt gekauft hatte,
als kleine Aufmerksamkeit und lernte die beiden persönlich kennen.
Sie hatten viel zu tun. Sie bedankten sich und gingen gemeinsam in die
Küche, um danach zu fragen, ob das Abendessen serviert werden konnte. Ich scherzte mit Amit,
der von seinen Vettern umgeben war: "Du hast mir letztes
Mal versprochen, mir den berühmten Granatapfelsaft zu spendieren.
Wann wirst du dein Wort halten?" "Wann immer du willst,
komm jetzt mit, die Juice Bar ist nicht weit weg von hier", sagte er herausfordend
und wartete auf mein Reaktion. Ich wollte auch nicht
so schnell nachgeben und fragte ihn: "Macht es dir denn nichts aus, mit
der Tante deiner Braut einfach jetzt von hier zu verschwinden?" "Nein", sagte er, "es
ist immerhin besser jetzt, als in der Hochzeitsnacht!" Die jungen Leute lachten
und ich war sprachlos. "Mensch, ist der gefährlich", sagte ich zu
meiner Nichte, die neben ihm stand, "Und diesen frechen Kerl willst du
heiraten? Überleg es dir noch ein mal ganz gut. Es gibt kein Zurück
mehr nach drei Tagen!" "Hab ich auch nicht vor",
sagte Rashmi und kniff ihren Bräutigam heimlich am Ellbogen. In Speiseraum wurde zuerst
unsere Familie zum Essen gerufen. Heute waren wir die Ehrengäste.
Die Nebengerichte waren schon auf jedem Teller serviert. Junge Kellner
in Khakiuniform gingen die Sitzreihen entlang und reichten das Vormenü.
Mit einem gemeinsamen Tischgebet wurde das Essen eröffnet. Wir fingen mit einem
Klacks Basmatireis an, zusammengemischt mit gelbem Linseñcurry,
Salz, Butterfett und Zitronensaft. Danach wurde Masalabhat, nämlich
gewürzter Reis mit Matta, das ist eine gesalzene Buttermilch mit Korianderblättern,
serviert. Als dritter Gang wurden fritierte kleine Fladenbrote, die Puris
heißen, mit verschiedenen Gemüsen serviert. Der Hauptgang bestand
aus Puranpolis mit Milch und einem besonderen Süßsauer-Curry.
Puranpolis sind dünne Fladenbrote, gefüllt mit einer zeitaufwendig
zubereiteten Mischung aus Kichererbsenpüree und Rohrzucker. Amits Eltern kamen mit
einigen Kellnern zusammen an uns vorbei und baten uns, noch ein Puranpoli
zu nehmen. Sie kamen mit verschiedenen Gerichten dreimal an unserem Esstisch
entlang und bestanden darauf, dass wir mehr essen. Es gehört zur indischen
Höflichkeit. Es ist nicht üblich, dass man von sich aus ein Gericht
vom Tisch nimmt. Eine wachsame Hausfrau oder Gastgeberin muss deshalb eine
Expertin sein und die Wünsche von den Augen der Familienmitglieder
oder der Gäste ablesen. Erst wenn man sich zum dritten Mal weigert,
versteht sich, dass die bediente Person wirklich satt ist. Ja, diese Tischregeln
mögen einem aufdringlich vorkommen, aber sie gehören der Essgewohnheit,
dem Esskultur und der Esstradition Indiens an. Der letzte Gang war wieder
Reis mit Yoghurt, gut zur Verdauung. Nach uns wurde der Familie
des Bräutigams das Essen serviert. Weil wir keine Gastgeber waren,
blieben nur Rashmis Eltern in dem Speisesaal. Ich kaute Paan und ging auf
die Veranda, um ein bisschen frische Luft zu schnappen. Ich plauderte mit
meinen Neffen, die höchst beschäftigt waren, die parkenden Autos
zu unterscheiden. Ich ging mit ihnen in den Garten. Ein Auto von der Familie
des Bräutigams war wirklich staubig. Yash war empört. Er legt
viel Wert auf Sauberkeit. Für ihm müssen die Haare immer gut
frisiert sein, Hosen eine Bügelfalte haben und die Schuhe blitzblank
poliert sein. Die Autos auch, trotz Wind und Wetter. Er ging zur Rückscheibe
und schrieb in die Staubschicht: "Please clean your car". Ich und Tanmay
hielten Ausschau, ob jemand uns auf frischer Tat ertappt, aber alle waren
beim Essen und mit Lächeln und Höflichsein beschäftigt.
Als wir unsere Mission erfolgreich beendet hatten, rannten wir von den
parkenden Autos fort und jubelten. Yash hob mich hoch in
seine Arme und drehte mich. Wir beide sahen oben im Himmel die hell leuchtenden
Sterne, die sich mit uns zusammen drehten. Ich war sehr froh, dort zu sein,
in der lauwarmen, tropischen Nachtluft, unter indischen Sternen, und sang
spontan Beethovens Ode an die Freude. "Deine Zauber binden
wieder, was die Mode streng geteilt..." Tanmay, der drei Jahre
Deutschunterricht in der Schule gehabt hatte, versuchte den Text zu übersetzen.
Unser Gelächter schallte durch die leeren Straßen. Neeta kam
heraus auf die Veranda, um zu sehen, was mit uns los war. Sie mochte unsere
albernen Spielereien nicht und sagte: "Barbaren seid ihr. Könnt
ihr euch nicht wie erwachsene Menschen benehmen? Was werden die Leute sagen?
Wir sind hier nicht zu Hause." Yash lies mich herunterfallen
und sagte: "Tante Neeta, komm her. Ich werde dir auch die Sterne zeigen." Neeta hatte Angst vor
ihm und lief schreiend wieder hinein den Saal, als sie Yash zu sich kommen
sah. Ich hatte viel Spaß mit meinen Neffen während des gesamten
Indienaufenthalts. Wann immer mir die gesellschaftlichen Anstandswauwaus
zuviel wurden, ging ich zu ihnen, um einen verantwortungsfreien Unterschlupf
zu finden. Nach dem vielen Essen
wollte ich einen Spaziergang machen. Tanmay und ich ließen es uns
von Manma genehmigen, nach Hause zu laufen. Ich gab ihr meinen Goldschmuck
in Verwahrung und machte mich auf den Weg nach Hause. Tanmay war mein Beschützer. Es war wenig los auf
den Straßen. Der geringe Verkehr und das menschenleere Stadtbild
gab mir eine ganz neue Sicht. Auf der Brücke über die Mula-Mutha
schlief eine Zigeunerfamilie mit zwei Affen zusammen. Sie waren Straßenkünst1er.
Die Affen schauten zu uns hoch, als wir vorbeikamen. Die gelben Straßenlichter
spiegelten sich in ihren Augen, und ich hatte ein mulmiges Gefühl.
Hand in Hand marschierten wir die Haupt- und die Nebenstraßen entlang.
Tanmay erzählte mir vom diesjährigen Ganeshafest und von Diwali,
einem Lichterfest. Dieses Jahr hatten die Jungen gar kein Feuerwerk gemacht.
Die lokale Umweltbehörde hatte gegen Feuerwerke aufgerufen. Mein Neffe
sprach lange über den Lärmschutz und über die Umweltfreundlichkeit.
Es war neu für mich und ich schenkte ihm meine Aufmerksamkeit. Nach
ein paar Kilometern holte uns Sanyus Ehemann mit seinem Auto ein. Tanmay
und ich quetschten uns zwischen Manma und die schläfrige Janu und
fuhren den restlichen Heimweg mit dem Auto. Zu Hause schliefen Dorothee
und Sabrina schon, und im Flur überlegten wir leise das morgige Programm.
Ich hatte einen langen Tag hinter mir, aber trotzdem konnte ich nicht sofort
einschlafen. Ich hatte immer noch die deutsche Uhrzeit in meiner Armbanduhr
und ich dachte, aha, die Tagesthemenzeit auf einem anderen Planeten!
7.
Grahamakh, Graha bedeutet
Planet und Makh heißt Opfer in Sanskrit. Am nächsten Tag war
im Hochzeitshaus die Grahamakh Puja. Die Puja fing frühmorgens um
halb sieben an. Sanyu war pünktlich da, aber wir alle gingen etwas
später hin. Janu war begeistert von Dorothee und Sabrina und wollte
unbedingt mit den beiden in der Riksha mitfahren. Als wir in Sujatas Wohnung
waren, war die Puja fast vorbei. Ohne gründliche Körperreinigung
war der Zutritt zum geweihten Platz nicht erlaubt. Außer meinen Freundinnen
hatten wir alle geduscht. Nach der Begrüßung fragte mich Sujata
danach und ich log um Unannehmlichkeiten zu vermeiden. Der Priester war
noch da. Ich kannte ihn. Hauptberuflich arbeitete er in einer Bank als
Bankkaufmann. Er hatte Eile, pünktlich auf seinem Arbeitsplatz zu
erscheinen. Trotzdem erklärte er mir bereitwillig diese Zeremonie,
als ich ihn danach fragte. Auf dem Fußboden
des Wohnzimmers, in einem kleinen Metallbehälter, der auf drei Ziegelsteinen
stand, war das heilige Feuer angefacht. Vor dem Feuerplatz waren neun Reishaufen,
und oben drauf, in kleinen Mulden, steckten neun Betelnüsse. Davor
stand eine Silbervase mit geweihtem Wasser, bedeckt mit fünf verschiedenen
Baumblättern und einer Kokosnuss. Daneben waren rotes Pulver, Blumen,
Weihrauch, Öllämpchen und gesegnete Essgaben arrangiert. Die
Götter lieben eine Art von Nektar, der aus Milch, Joghurt, Butterfett,
Honig und Zucker zusammengemischt ist. Der frische Duft des eben verbrannten
Kampfers hing noch im Raum und der Priester erzählte: "Die Braut und die Eltern
haben heute die Planeten zufriedengestellt und deren Segen erbeten. Wir
haben für jeden Planeten einen Reissitz vorbereitet und sie in Form
der Betelnüsse zu uns gerufen. Mit den Opfergaben waren auch die entsprechenden
Edelsteine als Sinnbild verbunden. Ihre Schwester hat sie schon weggeräumt." "Gehören auch Pluto
, Neptun und Uranus zu den Planeten?" fragte ich ihn. "Nein, Tante von Rashmi",
sagte er und warf einen kurzen kritischen Blick auf meine ausländischen
Freundinnen, "Damals waren sie noch nicht entdeckt. Wir ehren immer noch
die alte Darstellung der Planeten, die unsere Ahnen in den heiligen Büchern
erwähnt haben. Die Sonne wird mit Jaspis,
der Mond mit einer Muschelperle, Merkur mit einem Korallenstück, Mars
mit Smaragd, Jupiter mit Topas, Venus mit Diamant, Saturn mit Aquamarin,
die Sonnenfinsternis mit Bernstein und der Komet mit Lapislazuli geehrt.
Für den Sonnenfinsternisgott kann man auch Varietäten von Chrysoberyll
nehmen, wenn kein organischer Edelstein vorhanden ist." "Ich verstehe. Heute
ist Donnerstag", überlegte ich und fragte: "Haben Sie dem Gott Jupiter
eine extra Portion Blumen geopfert?" "Ja, jeder Wochentag
steht unter dem Schutz eines Planetengottes. Heute begleitet der Jupiter
die Braut den ganzen Tag. Sie darf jetzt dem Bräutigam bis zur Verlobungsfeier
nicht begegnen. Können Sie es bis übermorgen aushalten, meine
gute Tochter?" fragte er scherzhaft Rashmi. Sie lachte und bewegte
ihr Kinn, eine Geste, die zugleich ja und nein sagte. Sie sah wunderhübsch
aus in ihrer Brokat-Sari, und das frohe Gesicht strahlte ihr warmes Sonnengemüt
aus. Die Wohnung war voll
von den vielen Verwandten, und wir fanden kaum alle Platz zum Sitzen. Wir
verteilten uns in den beiden Räumen. Die Küche war besetzt. Die
Köchin und ihr Sohn bereiten die Mahlzeit für 20 Leute dort zu.
Alle waren irgendwie beschäftigt: Aufräumen, Anweisungen geben,
Telephonieren, fehlende Zutaten für die Küche Einkaufen, Reden
und Lachen. Die Frauen wunderten sich über Dorothee und Sabrina und
stellten ihnen mehrere Fragen über Frisur und Piercing. Wie und wo
sie es hätten machen lassen, und ob das Piercing ihnen weh täte,
und ob sie jetzt traditionelle indische Kleider anziehen möchten.
Beide sagten Ja und liessen sich gerne bekleiden. Die Männer fragten
nach ihrer Herkunft und was ihre Eltern denn machten, und es war natürlich
unbegreiflich für sie, wie deutsche Eltern überhaupt so junge
Mädchen allein in ferne Länder reisen ließen. Ein weiterer
Grund zum Staunen war die Geldquelle für ihre dreimonatige Indienreise.
Verwunderung über Verwunderung. Kurz vor dem Mittagessen
nahm ich die beiden Mädchen und Janu mit, um einmal um den Block herum
zu laufen. Auf der Straße fragte ich Sabrina: "Nervt dich die viele
Fragerei?" "Nicht eigentlich", antwortete
sie, "In unserem Heimatdorf sind die Menschen viel intoleranter wegen unseres
Aussehens, und die anderen Fragen gehören sich für unterschiedliche
Kulturen. No Problem." "Ich würde mich
nicht ganz wohl fühlen", sagte ich danach, "wenn jemand mich ständig
fragt, ob ich meine Haare überhaupt wasche oder nicht." "Inder müssen das
besser kennen. Die Asketen haben auch ungewaschene und lange Haare", sagte
Dorothee, um mich zu beruhigen. "Asketen gibt es überwiegend
in den Wallfahrtsorten. In Pune haben sie eher gepflegte und zivilisierte
Asketen, die Anhänger von Rajñeesh", sagte ich und lachte. Wir besuchten einen Buchhändler,
einen Schuster und einen Obstverkäufer. Ich wusste, dass Sabrina lieber
Obst aß als die indischen Mahlzeiten, deshalb kaufte ich Orangen,
Feigen, Papayas, Granatäpfel und Bananen. Auf der linken Straßenseite
stand ein uralter Banyanbaum. Seine langen Äste hingen bis zum Boden
herab, wo die neuen Wurzeln ausschlugen. Janu war amüsiert, als die
beiden sagten, dass sie so etwas noch nie gesehen hätten. Weil wir so viele Leute
zu Hause waren, nahmen wir die Mittagsmahlzeit im Wohnzimmer ein. Rashmi
trug ein gesegnetes Perlenstirnband und wurde zuerst bedient. Die fünf
Süßigkeiten von vorgestern lagen schon auf ihrem Teller, der
ringsum mit Blumen und Rangoli geschmückt war. Rangoli ist ein feinsandiges
weißes Pulver. Man nimmt es zwischen Daumen und Zeigefinger und lässt
es auf eine bestimmte Weise auf den Fußboden rieseln. Man malt auf
diese Weise traditionelle Muster. Wer nicht frei zeichnen kann, macht ein
Punkte-Raster, um dann durch die Verbindung dieser Punkte geometrische
Figuren zu ziehen. Sujata kann sehr gut mit Rangoli zeichnen. Sie hat eine
ruhige Hand, und ihre Linien sind sauber und regelmäßig. Zuerst wünschte
sie Rashmi alles Gute für ihr zukünftiges Eheleben. In Kreisen
auf- und abwärts bewegte sie einen kleinen silberne Teller vor Rashmis
Gesicht, der mit rotem Puder, Reiskörnern, einer Betelnuss und einem
brennenden Öllämpchen vom Hausalter gefüllt war. Zuerst
setzte sie einen Tupfer mit dem roten Puder, das Kunku heißt, auf
Rashmis Stirn, um ihr ein ewiges Eheleben zu wünschen. Danach wurden
ein paar Reiskörner auf ihre Haare geworfen, um viel Kraft zu spenden.
Mit der Betelnuss wurden ihre Augenlider berührt, um ihr Fruchtbarkeit
zu wünschen. Und das Licht bedeutete Erleuchtung. Heute durften nur
die verheirateten Frauen, die Kinder hatten, Rashmi diesen Segen geben.
Witwen, kinderlose, Geschiedene und Jungfrauen hatten keinen Anspruch darauf.
Ich schaute zu Neeta hinüber. Sie tat, als ob sie mit Servieren beschäftigt
sei, und ich dachte, wie oft musste meine älteste Schwester, die ungewollt
kinderlos geblieben war, auf solche Zeremonien verzichtet. Mein Herz füllte
sich mit Liebe für sie. Als unsere Blicke sich begegneten, musste
ich einen dicken Kloß in meinem Hals herunterschlucken. Dorothee,
die neben mir saß, fragte mich etwas, und ich antwortete ihr etwas.
Ich wusste einfach nicht wohin mit der verdammten Sentimentalität! "Rauchst du selbstgedrehte
Zigaretten?" fragte sie mich von der Seite. "Ja, aber bitte nicht
laut davon reden. Ich muss hier heimlich rauchen", sagte ich. Ich kam mir wie Vamana
vor, der als fünfte Inkarnation Vischnus Himmel, Erde und Hölle
gleichzeitig mit drei Schritten ausmessen musste! Gegen Mittag trat ein
bisschen Ruhe ein. Die Männer gingen zu den Nachbarn Karten spielen,
die Kinder trieben sich auf der Straße herum, meine Freundinnen fuhren
zum Bahnhof, um sich nach der Rückreise zu erkundigen, Rashmi war
im Schönheitssalon, und die Frauen unterhielten sich im Wohnzimmer.
Manma und Neeta hielten ihre Siesta in Sujatas Schlafzimmer. Ich ging zu
ihnen und legte mich neben Neeta. Sie las eine Frauenzeitschrift. Manma
schnarchte. "Na du, Nandus du", sagte
ich und kitzelte Neeta an ihrem dicken Bauch. Ihr Ehemann heißt Nandu. "Na U, Umas U", sang
sie mein Wortspiel nach. "Was liest du denn da
so Spannendes?" fragte ich. "Einen Artikel über
Abnehmen." "Das brauchst du nicht,
Nandu mag dich, wie du bist." "Aber ich mag mich nicht,
wie ich bin." "Warum magst du dich
nicht?" "Einfach so." "Einfach so?" "Ja." "Ah, sag es doch!" "Hör auf. Laß
mich in Ruhe lesen." "Ich lasse dich in Ruhe
lesen, wenn du mir etwas sagst." "Was soll ich dir sagen?" "Etwas." "Wie etwas?" "Na", ich hatte ein Bedürfnis
sie zu umarmen, aber sie hielt den Abstand. "Also gut", sagte sie,
"heute ist Donnerstag." "Wie schön, und
weiter?" Ich war hartnäckig. "Heute haben wir Rashmi
unseren Segen gegeben." "Wir?" "Wer denn sonst?" Für eine Zeitlang
redeten wir beide nicht. "Ich mag deine Fragerei
nicht", sagte sie weiter zu mir, "Und ich mag das auch nicht wie du mich
manchmal anschaust". "Wie schau ich dich denn
an?" fragte ich. "Na, wie eben unser Daddy";
sie zögerte für einen Moment, "Er hat auch immer in die Seele
hinein geschaut." "War das angenehm oder
unangenehm?" "Ich weiß es nicht." "Bin ich für dich
angenehm oder unangenehm?" "Fragen, Fragen", Neeta
war irritiert, "Was willst du denn eigentlich?" "Nichts", sagte ich,
"Ich wollte dir nur sagen, dass die leidenden Menschen ganz nah bei Gott
sind." "Ich glaube nicht an
Gott." "Man kann nicht leben,
ohne an etwas zu glauben." "Dann glaube ich an das
Leben." "Obwohl es nicht ganz
erfüllt ist?" "Es muss nicht erfüllt
sein, um daran zu glauben." "Doch", sagte ich, "weil
Glaube Kraft und Trost spendet. Unerfülltes Leben tut es nicht." "Du hast viel zu viel
Bücher gelesen und redest wie ein Papagei drauf los!" "Bleib inhaltlich!" "Willst du mit mir eine
Wortschlacht machen?" "Bitte, ich meine es
nur gut mit dir!" "Dann habe ich schon
ein erfülltes Leben, an das ich glaube. Zufrieden?" Ich wandte mich zur Seite
und versuchte zu schlafen. Warum müssen die Menschen einen Panzer
um sich tragen? Wollen sie sich damit beschützen? War ich so aggressiv,
dass sie sich weigerte, sich vor mir zu öffnen? Oder war die Entfernung
unserer Länder daran schuld, dass wir nicht miteinander vertraut wurden?
Wir sind auch 14 Jahre auseinander. Sie war schon verheiratet als ich noch
in den Kindergarten ging. Aber der Altersunterschied mag wohl kein ausreichender
Grund dafür sein, dass wir zwei Schwestern nicht miteinander reden
konnten. Ich hatte keine innere Ruhe. Ich wollte einfach raus. Neeta las
weiter in ihrer Zeitschrift. Ich drückte ihre Hand und ging wortlos
aus den Zimmer. Ich nahm die Wohnungsschlüssel aus der Handtasche
meiner Mutter und sagte Sanyu Bescheid, die mit den anderen Frauen alte
Photoalben anschaute. "Bleib doch. Wo willst
du eigentlich hin?" fragte sie mich. "Ich muss kurz raus zum
Spielwarengeschäft, um nach den Spirographen zu fragen", sagte ich
und rannte die Treppen runter. Ich nahm eine Riksha
und fuhr zum "Deepak Store". Auf der Metalltreppe saß wieder der
südindische Junge. Ich erkundigte mich auf Hindi bei ihm nach den
bestellten Spirographen. Er hatte keine Ahnung und bat mich, auf seinen
Chef zu warten, der gerade nicht im Laden anwesend war. Ich schaute in
die Leere und wartete. Nach einer Viertelstunde Wartezeit ging ich in ein
benachbartes Lebensmittelgeschäft und kaufte Milch, Kekse und Toastbrot
für das Frühstück am nächsten Tag. Als ich zurückkam,
war der Chef immer noch nicht da. Ich ärgerte mich, nur da blöd
herum zu stehen. "Ich komme in 10 Minuten
wieder", sagte ich und ging zur nächsten Straßenecke, wo ich
eine Telephonzelle gesehen hatte. Ein blinder Mann saß da und verwaltete
die Zelle. Er wählte die gewünschte Nummer für mich. Ich
telephonierte mit Mañju, meiner besten Freundin in Mumbai. Wir hatten
schon dreimal miteinander gesprochen, seit ich in Pune war. Ich fand es
schade, dass ich sie nicht aus dem Hörer herauszaubern konnte. Wir
redeten ziemlich lange miteinander. Ich gab dem blinden Mann den Einheitsbetrag
und ging wieder zurück, um nach meinen Spirographen zu fragen. "Warten Sie noch ein
Weilchen. In fünf Minuten kann der Chef hier sein", sagte der Junge
zu mir verächtlich. "Weißt du, wie
lange ich schon hier gewartet habe?" fragte ich ihn direkt. Er zuckte mit
der Schulter und sagte: "Kann ich nix machen". Ich sagte ihm, dass ich
morgen noch einmal anrufen würde, und verabschiedete mich von ihm.
Ich fuhr zur Wohnung meiner Mutter und rauchte eine Zigarette. Es war laut.
Im Nachbargebäude waren die Bauarbeiter. Dort wurde ein Stockwerk
erweitert. Die Betonmischmaschine machte monotone Geräusche. In 30
Meter Entfernung von dem Gebäude stand eine Festhalle. Jeden Tag fanden
dort irgendwelche Zeremonien statt. Heute feierte die lokale "Harijan Partei"
ihre Versammlung dort. "Harijan" heißt "Gottesvolk"; Mahatma Gandhi
hat die niedrigen Kasten so genannt. Die Lautstärke der Reden war
nicht zu überhören. Manmas Dienstmädchen hatte heute frei,
deshalb putzte ich die Wohnung und wischte den Staub ab. Es tat gut, zu
putzen, und gegen Abend fuhr ich wieder zur Sujata. Die Wohnung war viel
voller als heute morgen. Mit den Angehörigen kamen auch die Familienfreunde
zu Besuch. Die arme Rashmi weinte, weil sie die vertraute Umgebung bald
vermissen würde. Sie umarmte alle Frauen, und die Frauen weinten auch
mit. Die Männer saßen ziemlich uninteressiert da. Das Weinen
gehört zu einer Hochzeit, es ist nichts Befremdliches, dachten sie.
Der eine von Rashmis Onkeln war gesprächiger. Er behauptete, dass
er ein guter Handleser sei. Er saß mit gekreuzten Beinen auf einem
Stuhl und sprach von der alten Tradition der Handwahrsagerei: "Chirologie ist eine
alte Lehre der Konstitutionsdiagnostik des Charakters aus den Formen und
Linien der Hände." "Wo werden die Deutungen
herausgelesen?" fragte ein anderer Onkel. "Aus den Formen der Hände
und der Finger, auch aus der Nagelbildung sowie den Bergen und Linien der
inneren Hand", antwortete er. Seine Frau redete dazwischen:
"Ich kenne einen großen Mann in Mumbai, der liest keine Hände,
sondern spürt nur den Puls wie ein Arzt, um wahrzusagen." Ich war neugierig und
bat ihn, die Stellen zu zeigen. Er setzte seine Brille auf die Nase und
nahm einen Kuli aus seiner Hemdtasche. Er streckte seine Handfläche
vor und tippte mit dem Kuli auf seinen Daumen. "Der Daumen", informierte
er mich, "gilt als Verkörperung des Ichs; der kleine Finger als Entsprechung
der Umweltbeziehungen, der Venusberg unten als Symbol der Triebsphäre.
Nach der Marslinie kommt die Lebenslinie als Zeichen der Vitalität
und ihrer Entwicklungsphasen. Sie begegnen sich horizontal zur Kopflinie,
und über der Kopflinie befindet sich die Herzlinie. Ehe- und Kinderlinien
sind an der Seite des kleinen Fingers über dem Merkurberg." Die Kinder und ich schauten
neugierig auf unsere Hände. Die anderen waren stolz und schauten nicht;
'Sich zu benehmen', heißt es in der Erwachsenensprache. Wir hatten
kein Problem, seine Kompetenz zu akzeptieren. Kritisch aber unschuldig
sah ich ihn fragend an. "Bei Frauen liest man
die linke Hand", unterrichtete er mich. "Möchtest du, dass ich deine
Hand lese, Uma?" Wird nicht schaden, dachte
ich mir und rückte an ihn heran. Es war kein Stuhl vorhanden, deshalb
saß ich auf dem Fußboden und hielt meine linke Hand zu ihm
hoch. Während er seine Deutung vortrug, bemerkte ich Sabrinas Blick.
Vielleicht dachte sie, warum müssen die Frauen zu Fuß des Manns
sitzen? Der Onkel konnte genau so gut bei mir auf dem Fußboden sitzen,
aber das tat er nicht, und ich war nicht emanzipiert genug, vor ihm zu
stehen um meine Hand zu zeigen. So ein Verhalten kann Vorurteile über
eine unbekannte Person bilden. Meine deutschen Freundinnen betrachteten
ihn ironisch und belustigt, ebenso auch ich. Er erzählte viel über
mich, was überhaupt nicht stimmte, aber ich bewunderte seinen messerscharfen
Verstand, die Menschen zu beobachten und sie genau zu beschreiben. Das
Handlesen war mir eigentlich egal. Ich tauschte mit ihm eine wortlose Kommunikation,
welche mir viel interessanter schien. Es war eine stumme Unterhaltung von
Glaubwürdigkeit und Nichtglaubwürdigkeit, Respekt und Respektlosigkeit,
von Akzeptieren und Nichtakzeptieren. Über meine Vergangenheit
und meine Pubertätsprobleme wusste er schon Bescheid, weil wir Nachbarn
waren. Davon erzählte er mir überwiegend. Später wollte
ich ihn herausfordern und auf die Probe stellen. "Dorothee und Sabrina
kennst du noch nicht. Möchtest du auch die beiden mit deinen chirologischen
Fähigkeiten beglücken?" fragte ich ihn, und danach zu Dorothee:
"Willst du ihm bitte die Ehre erweisen?" Dorothee bejahte halb
amüsiert, aber ihre Hände waren schmutzig. Sie ging erst die
Hände waschen, um ihm so sauber wie möglich die fleckenlose Ehre
ihrer Handinnenfläche zu schenken! Sie war schlau und bestätigte
seinen Behauptungen nicht mit Ja oder Nein. Zufällig hat er die Zahl
ihr Geschwister richtig geraten. "Und wieviel Geschwister
hat Sabrina?" fragte sie ihn. Er schaute auch ihre
Hand und sagte: "Zwei." Sabrina lachte und sagte,
"Ich habe nur noch einen Bruder." "Ja, das sagte ich doch.
Ihr seid zu zweit", räumte er das Mißverständnis sofort
aus. Plötzlich war alles
dunkel. Der Strom war ausgefallen. Wir suchten nach Kerzen und nach dem
Stromgenerator. Ich nutzte die Gelegenheit und ging mit Neeta in die Küche,
um nach einer Streichholzschachtel zu suchen. Ich fragte sie vorsichtig: "Haben wir uns heute
Mittag gestritten, Schwester?" "Nein", sagte sie, "Wir
haben nur andere Ansichten. Das macht alles aus. Das macht die ganze Welt
aus." Sie stolperte über etwas in der Dunkelheit, und ich versuchte,
ihr zu helfen. "Hast du dir weh getan? Es tut mir leid", sagte ich zu ihr. "Du kannst nicht ich
und ich kann nicht du sein", sagte sie, "Eine Hebamme betrachtet das Leben
anders als ein Brandbestatter." Ich war überrascht
und hatte keine Ahnung, über was für Gedanken sie brütete. "Du übertreibst",
sagte ich zu ihr und versuchte schwach zu lachen. Ich fand die Streichholzschachtel
und zündete ein Streichholz an. Das Licht war klein, aber wir fanden
unseren Weg zu den andern. Im Flur streichelte Neeta meine Wangen mit ihrem
Finger und danach küsste sie die Fingerspitzen. "Alles in Ordnung", sagte
sie. Zu mir oder zu der Gesellschaft wegen des Lichtes? Es ist mir immer
wieder aufgefallen, dass die Menschen in verschiedenen Kontinenten sich
unterschiedlich miteinander austauschen. Inder reden immer in Rätseln,
selten meint das Wort nur etwas Sachliches. Die Sprache formuliert nicht
alles aus, sondern die Hintergrunde teilen Wesentliches mit. In Indien
spielt die religiöse Erziehung eine große Rolle in der alltäglichen
Unterhaltung. Dazu kommen noch die jeweiligen Persönlichkeiten, die
dem Gespräch eine eigene Note geben. Es geschah kaum, dass ich jemanden
gehört, verstanden, beantwortet und dann vergessen habe. Es gab immer
viel nachzudenken und zu bearbeiten. In der Nacht auf diesen unterhaltungsreichen
Tag blieb der erholsame Schlaf mir deswegen wieder fern.
8.
"Ich bin halb wach und
halb im Schlaf, die ganze Zeit", sagte ich nächsten Morgen zu Sabrina,
als wir gemeinsam den Tee zubereiteten. Sie stand selten ruhig und bewegte
Kopf, Schultern und Füße, als ob sie ständig tanzte. Dorothee
war immer gefasst und hatte ihre eigene Pose, das Körpergewicht auf
ein Bein zu legen. Die beiden wollten nach dem Frühstück zum
Cybercafé fahren. Ich machte ein Scherzpaket
für Amit fertig. Manma hatte sich etwas ausgedacht. Auf dem Esstisch
schrieb ich, während alle andern frühstückten, einen witzigen
Text auf ein schönes Briefpapier: "This year pumping joy
and next year jumping boy", hatte Manma diktiert. "Warum einen englischen
Text, Manma? Du kannst so schön in Marathi reimen. Mach bitte einen
Marathi-Limerick", sagte ich zu Manma. Ich mochte die englische Dominanz
nicht. Ich war die einzige in unserer Familie, die stolz auf unsere Muttersprache
war und viel Wert darauf legte, reines Marathi zu sprechen. Immer wieder
lachten die Leute mich aus, weil ich die aufdringlichen englischen Wörter
in meinem Gespräch mühsam vermied. "Ich habe es versucht",
sagte Manma zu mir, "Es klingt zu ernst. Und die jungen Menschen haben
heute keinen Draht zu solchen Marathi-Wortspielen. Auf Englisch kann man
den Spaß einfacher vermitteln." Ich bat sie, mir die
ins Unreine geschriebenen Marathiversuche zu zeigen. Sie waren sehr gut
und hatten gewiss ein hohes poetisches Niveau. "Ja, du hast recht",
stimmte ich Manmas Argument bei, "sie wären wirklich zu schade für
Amit. Lass uns lieber den Pumpingboy-Text schreiben." "Pumping ist joy und
jumping ist boy!" korrigierte mich Manma, ohne meine versteckte Eifersucht
zu merken. Ich schrieb und faltete
das Papier kunstvoll zu einem Schmetterling. "Origami?" fragte Dorothee
und ich nickte. Diesen Schmetterling packte ich in eine kleine Schachtel
und umhüllte sie mit einem gebrauchten Geschenkpapier, setzte diese
Schachtel in eine andere, und diese wieder in größere. Fünfmal
packte ich die Schachteln ein, bis zu einem Schuhkarton als letzter Schachtel.
Für den Schuhkarton wählte ich ein teures glitzerndes Geschenkpapier
und eine Schleife aus Seidenband. Manmas Geschenk an den Bräutigam
war fertig. Heute wollten wir im
Hochzeitshaus Henna malen. Gegen Mittag wollten zwei von Rashmis Freundinnen
allen Frauen in der Familie ihre Malkünste zeigen. Ich bat Dorothee
und Sabrina, direkt zu Sujata zu gehen, wenn sie mit ihrer Emaille-Sendeaktion
fertig waren. Als die beiden sich von uns verabschiedeten, zeigte Manma
mir Ukhanetexte, Haiku-artige zwei- bis vierzeilige Gedichte, die den Namen
des Bräutigams enthielten. Es ist ein alter Brauch: In früheren
Zeiten haben die Ehepartner einander niemals bei Namen genannt. Besonders
die Ehefrauen haben ihren Mann nie mit dessen eigentlichem Namen gerufen.
"Das verkürzt das Leben", haben die Älteren immer wiederholt,
wie sie es von ihren Vorfahren gehört hatten. Es wurde immer "Vater
von soundso" oder "Hören Sie, Mutter von soundso" gerufen. Heutzutage
sind diese Regeln nicht mehr so streng. Mein Vater hat meine Mutter geduzt
und sie bei ihrem Namen genannt, aber meine Mutter hat ihn gesiezt und
mit "Hören Sie!" angesprochen. Meine Puñjabi-Freundin Mañju
siezt ihren Ehemann, und sogar ihren dreijährigen Sohn! Einmal, während
sie mit mir telephonierte, hat sie nebenbei zu ihm gesagt: "Mein Sohn, Karan, putzen
Sie endlich mal ihre schmutzige Nase" Es klingt amüsant
auf deutsch, aber ja, so ist es nun mal. Ukhanetexte werden von
den Angehörigen gedichtet, damit Braut und Bräutigam sie dann
am Hochzeitstag den Gästen auswendig vortragen. Sinn der Sache ist,
dass die Namen der neu Verbundenen vertrauter werden. Es ist eine heikle
Situation voll zärtlicher Poesie, wie wenn man in aller Öffentlichkeit
"Ich liebe Dich" sagt! Ukhane können zweideutig, ironisch, schrecklich,
witzig oder respektvoll sein. Hauptsache, der Name des Partners bzw. der
Partnerin kommt darin vor. Die Phantasie ist grenzenlos, und manchmal besteht
eine richtige literarische Konkurrenz zwischen den beiden Familien. Manma
wollte nicht, dass unsere Seite zu kurz kommt, und wollte ihr Bestes tun.
Ich war stolz auf sie, als ich ihre wunderschönen Ukhane las und fühlte
mich geschmeichelt, dass sie so viel Wert auf mein Urteil legte. "Übermorgen ist
die Hochzeit und das arme Kind ist so aufgeregt", sagte Manma, "Wie soll
sie sich konzentrieren, alle diese Ukhane auswendig zu lernen?" "Ich verstehe deine Sorgen
nicht", beruhigte ich sie, "Rashmi war immer ein intelligenter Kopf gewesen,
und es wird ihr nichts ausmachen, sich schon heute alle Ukhane eifrig einzuprägen.
Du wirst sehen!" Jemand rief mich von
der Straße aus. Es war Neeta: "Uma, komm mal schnell herunter. Ich
habe die Riksha angehalten, um dich abzuholen." Ich hatte es fast vergessen,
dass Neeta und ich ein paar Sachen für die Braut erledigen wollten.
Ich beeilte mich und sagte Manma, "Bye, bis später." Ich wusste, dass
Neeta ungern auf jemanden wartet und rannte los. "Konntest du nicht unten
auf mich warten?" schimpfte sie, "Der Zähler von der Riksha läuft
und schluckt die Zahlen wie ein Bakasur." Bakasur war ein Ungeheuer im
alten Epos Ramayana, das ständig Menschen und Tiere fraß. "Ja ja, ich bin doch
da und haue dem Bakasur eins auf die Nase", sagte ich aufgeregt, als ich
mit ihr in der Riksha saß, und boxte auf das Zählergerät.
Der Fahrer fand das überhaupt nicht witzig, aber seine gerunzelten
Augenbrauen waren mir egal. Zuerst fuhren wir zum
Schneider. Es war ein kleinerer Laden. Mehrere Männer saßen
vor den Singer-Nähmaschinen, die mit Füßen betrieben wurden,
und arbeiteten daran. Das strenge Summen der Nähmaschinen und Radiomusik
vermischten sich mit dem Straßenlärm. Fertig genähte Kleider
hingen über ihren Köpfen, und die bunten Stoffe lagen überall
herum. An einer Wand waren Götterbilder aufgehängt, und die Bilderrahmen
waren mit frischen Blumengirlanden umrahmt. In einer Wandritze steckten
ein paar Räucherstäbchen, deren Asche auf die Stoffe herunterfiel.
Auf der Wand gegenüber waren aus Zeitschriften ausgeschnittene Photos
von indischen Schauspielerinnen in schönen Kleider aufgeklebt. "Sind die Hochzeitsblusen
für Fräulein Rashmi Joglekar fertig?" fragte Neeta einen Mann,
der hinter der Ladentheke stand und konzentriert einen Stoff nach einem
aufgesteckten Papiermuster zurechtschnitt. Er schaute kurz hoch, pfiff
weiter und schneiderte zu Ende. "Haben Sie haben Sie
den Abholschein, gute Tante?" fragte er und nahm das Maßband vom
Hals. Neeta knallte den Abholschein auf den Tisch. Auf dem Schein waren
die dreieckigen kleinen Seidenreste von Rashmis Sariblusen eingeheftet,
um die Blusen am Stoff wiederzuerkennen. "Oh ja, oh ja", sagte
er, "Hatte die Schwester Rashmi keine Zeit gefunden, selbst zu kommen,
zu kommen um die Blusen anzuprobieren?" Neeta sagte, "Nein, sie
hat doch ihre Maße abgegeben." "Hat sie, hat sie. Sie
hat eine alte Leinenbluse abgegeben, um die Blusen nach dem gleichen Maß
anfertigen zu lassen; und wissen Sie, wissen Sie, die neuen sind aus Seide",
sagte er. Neeta war schockiert.
Sie faltete ihre Hände zusammen und fragte ungeduldig: "Was? Haben
Sie die Blusen noch nicht genäht? Übermorgen ist die Hochzeit!" "Doch, doch. Kein Grund
zur Panik, gute Tante. Aber ich kann Ihnen nicht garantieren, nicht garantieren,
ob sie perfekt sitzen", sagte er und pfiff lückenlos. Er suchte die
fertig genähten Blusen und reichte sie Neeta. Sie überprüfte
die Arbeit und nickte. Während er die Rechnung schrieb, sagte Neeta
zu mir: "Siehst du, dieses mal
hat Rashmi ein tiefes Dekolleté in Auftrag gegeben. Sehr kühn,
nicht wahr? Bei meiner Hochzeit musste ich eine langärmelige Bluse
tragen, die vom Hals bis zum Bauch aus rohem Seidenstoff bestand. Solche
Bikini-Oberteile waren damals nicht erlaubt." Ich lachte ein wenig,
um ihre Intolerenz nicht zu bemäkeln, und sagte: "Ja, ich erinnere
mich gut daran. War das nicht pfauenblau?" Neeta freute sich über
mein Gedächtnis. Sie bezahlte die Rechnung und nahm die Blusen, die
wegen der Seide in Zeitungspapier eingerollt waren. "Bis bald, gute Tante,
kommen Sie wieder, kommen Sie wieder", verabschiedete sich der Schneider
von uns mit seitlich nickendem Kopf. Als wir auf der Straße
waren, sagte Neeta zu mir, "Ich weiß nicht, warum Rashmi immer wieder
zu ihm geht. Dafür ist mein Schneider zehnmal besser, und der sagt
auch nicht 'Tante' zu mir, und ich werde verrückt von seiner ständigen
Stotterei!" "Das macht nichts, gütige
Frau, das macht nichts", scherzte ich und handelte mir einen Kopfklaps
von ihr ein. Dann kauften wir eine
dicke Decke, Kopfkissen und Kissenbezug für Rashmi. Alkatai hatte
uns gestern darauf aufmerksam gemacht. Kohlapuri Decken sind berühmt
für ihre handgewebten Muster. Kohlapur liegt südlich von Maharashtra
an der Grenze zu Karnataka, wo unsere Großeltern herstammten. "Alka ist eine kluge
Frau", sagte Neeta zu mir, als sie die Maschengewebe von einer purpurfarbigen
Decke zwischen ihren Fingern prüfte, "Sie denkt an solche Kleinigkeiten.
Rashmi wollte eigentlich ihre alte gebrauchte Decke in ihr neues Haus mitnehmen." "Gebrauchte Decken sind
kuschelweich, gut geeignet zum Schlafen", sagte ich und vermisste plötzlich
meine Daunendecke in Deutschland. "Jetzt hat sie jemand
anderen zum Kuscheln", sagte Neeta mit heiterer Stimme und errötete
wie eine Braut. Es freute mich, sie wieder glücklich zu sehen. Wir stopften uns und
unsere Einkäufe in eine Riksha und fuhren zu Sujata. Rashmi war nicht
begeistert von der neuen Decke, aber die Sariblusen saßen perfekt.
Ihre Freundinnen waren da. Tanu war Architekturstudentin, und Manu hatte
ihre eigene Boutique. Beide waren korpulent und hilfsbereit. Manu hatte
ein offenes Gemüt, Tanu war eher zurückhaltend. Gemeinsam schauten
wir uns in den Büchern Henna-Entwürfe an. Sie werden auf Hände
und Füße aufgetragen. "Es gibt immer ein Grundmotiv",
informierte mich Tanu, "Wir brauchen nicht die Muster aus dem Buch zu kopieren." "Ja, du kannst eins wählen
und den Rest erledigen wir für dich. Ja, ich meine, wir können
weiter improvisieren", sagte Manu. "Hat Rashmi schon ihre
Entwürfe ausgesucht?" fragte ich. "Ja, Wir fangen mit ihr
an. Wir werden mindesten zwei Stunden für sie brauchen", antwortete
Manu. Die beiden hatten mehrere
Tuben mitgebracht, die mit Hennapaste gefüllt waren. Solche fertig
gepackte Hennaschatullen sind in Kosmetikläden erhältlich. In
unserer Kindheit, wenn wir bei Oma im Dorf waren, haben wir die Hennablätter
direkt vom Baum geholt und die kleinen Blätter mit Wasser in einem
Steinmörser zermahlen. Wir haben alles mögliche da hinein gemischt,
Zitronensaft und Spatzendreck! Mit der groben Masse konnten wir die Handfläche
nur schmieren. Heute werden die Blätter maschinell bearbeitet. Je
feiner Henna gemahlen ist, desto besser kann man damit malen. "Es ist eine alte Kulturpflanze,
die einen rötlichen Farbstoff, im wesentlichen Naphthochinon liefert."
hörte ich Tanu zu Dorothee sagen. Sie hatte einen "Wen interessiert's,
Hauptsache, es färbt"-Ausdruck auf dem Gesicht. Wir nahmen die Mittagsmahlzeit
etwas früher ein als sonst, weil mit gemalten Händen die alltäglichen
Dinge schwer zu erledigen waren. Mit alten Tüchern saßen die
jungen Mädchen auf dem großen Bett. Zuerst rieben sie Rashmis
Handflächen mit Eukalyptusöl und fingen bei ihren Ellbogen zu
malen an. Manu malte mit sehr feinen Linien, Bögen und Kreisen ihr
Muster. Tanu hatte einen anderen Stil mit schwererem Fingerdruck. Ihr Muster
war dick aufgetragen, deshalb wurde sie auch schneller fertig. In wunderschönen
filigranartigen Zeichnungen versteckten die Malerinnen die Initialen des
Bräutigams auf der rechten Handfläche und die Initialen der Braut
auf der linken. Bei Gelegenheit sollte Amit diese in alle Ruhe suchen.
Es ist ein gut überlegtes Spiel, dem Bräutigam eine Chañce
zu bieten, sich mit der körperlichen Nähe seiner Braut vertraut
zu machen. Duft und Farbe des aufgetragen Hennas sollten ästhetische
und leidenschaftliche Gefühle erwecken. Es dauerte sehr lange
mit Rashmi, deshalb fingen manche Frauen selbst an, ihre eigenen Hände
und Füße zu bemalen. In der Zwischenzeit suchte ich für
Dorothee und Sabrina ein paar Brokatseiden-Saris mit passenden Blusen dazu
in Sujatas Garderobe aus. Ich wählte mir eine blaue für den Abend
des nächsten Tags und eine gelb-grüne für die Trauung. Meine
Freundinnen wollten ihre eigenen Saris haben, deshalb gingen die beiden,
als sie fertig waren, mit gemalten Händen hinaus Einkaufen. In der Küche machte
ich mit Yash und Sanyu einen dicken Sirup aus Zucker und Zitronensaft für
uns fertig. Dieser Sirup wurde ab und zu mit Watte auf das getrocknete
Henna getupft, um eine intensivere Farbe zu gewinnen. Yash rührte
rührend und geduldig die Masse, und ich fragte ihn: "Wirst du Rashmi vermissen?
Es wird für dich nicht einfach sein, wenn sie nicht mehr hier wohnt."
Yash wiegelte ab und bewegte seine linke Hand über seinem Kopf. "Es ist mir egal", sagte
er. "Ist das so? Du charmanter
Lügner!" sagte Sanyu zu ihm, und dann zu mir: "Weißt du, Uma,
er kann nicht einschlafen, ohne mit Rashmis Haar gespielt zu haben. Jeden
Tag klagt sie darüber, aber er hört einfach mit seiner Angewohnheit
nicht auf. 'Du bist jetzt erwachsen', mahnt ihn Sujata ständig, aber
es nützt nichts, nicht wahr, mein Lieber?" "Ja ja, dann ist sie
endlich von meiner Quälerei befreit, was solls?" sagte Yash zu seiner
Verteidigung. "Du kannst Tanu oder
Manu fragen, ob sie dir helfen können!" sagte ich ihm scherzhaft. "Oh nee, verschone mich
vor denen. Ich kann dickere und ältere Mädchen nicht leiden.
Dafür ist Dorothee zehnmal schöner", gab er offen zu. "Erstens hat sie kein
weiches Haar, zweitens hat sie einen festen Freund, und drittens waren
deine Bemerkungen auch schon mal besser", gab ich ihm meinen erfahrenen
Ratschlag. "Sag mal, Sanyu", wollte
ich wissen, "Warum ist Tanu so introvertiert? Sie ist ein junges Mädchen." "Sie hat Probleme mit
ihren Eltern", informierte mich Sanyu. "Weil sie beide berufstätig
sind?" fragte ich. "Uma, neugierige Katzen
fallen immer auf die Schnauze", mischte Yash sich ein, und ich zeigte ihm
meine Zunge. "Ah, weißt du nicht?
Die Eltern haben sich längst voneinander getrennt", las Sanyu das
überraschte Fragezeichen von meinem Gesicht ab und erzählte mit
leiserer Stimme weiter: "Es ist ein paar Jahre her. Sujata und ihr Ehemann
sind mit den beiden befreundet, und jetzt wissen sie nicht, wen sie überhaupt
zur Hochzeit einladen sollen. "Wo wohnt Tanus Vater?"
wollte ich wissen. "In Mumbai", sagte Sanyu,
"Er hat eine andere Frau, die wesentlich jünger ist als er, und hübsch
ist sie auch nicht." "Meine Güte", sagte
ich und konnte mir diese Westwinde in Indien gar nicht vorstellen. Manma
kam in die Küche und bereitete einen Tee für uns alle zu. "Über
wen unterhaltet ihr euch?" fragte sie uns. "Über Leute, die
sie gar nichts angehen, nämlich über Tanus Mom und Dad", sagte
Yash zu seiner Oma. "Ja, eine große
Familientragödie", Manma nickte unglücklich, "Ich habe gehört,
dass er einen Sohn von diesem Mädchen hat, das seine Tochter sein
könnte." "Hat er deswegen seine
Frau verlassen, weil sie ihm keinen Sohn geschenkt hat?" fragte ich naiv
theoretisch. "Nein, du redest ja wie
in 17. Jahrhundert", antwortete Sanyu, "Er ist einfach seinen Gefühlen
nachgelaufen. Zweiter Frühling heißt es. Aber ich sage dir,
Uma, klatschen kann man nicht mit einer Hand. Da muss etwas mehr in der
Partnerschaft passiert sein. Ein gebildeter Mann kann nicht aus heiterem
Himmel einfach eine Liebesbeziehung anfangen, und in diesen Alter!" "Sag mal, meine dritte
Tochter", fragte Manma unzufrieden, "Auf welcher Seite stehst du eigentlich?
Du kannst nicht Verständnis für einen Mann zeigen, der seine
Ehefrau mit zwei Töchtern in Stich gelassen hat." "Es war umgekehrt Manma,
sie hat ihn verlassen, weil sie sein Techtelmechtel mit dem jungen Dingsda
nicht tolerieren konnte. Und ich verteidige niemanden. Ich versuche nur
sachlich zu sein. Ich verstehe auch, dass Tanus Mutter, obwohl sie nicht
finanziell von ihm abhängig ist, die Verantwortung für zwei jüngere
Mädchen zu tragen hat. Und es ist nicht einfach. Sie ist auch dominant
und hat ihren eigenen Willen. Kein Wunder, dass er sich von ihr entfremdete." "Ein Hoch auf die emanzipierten
Frauen!" rief Yash dazwischen. Manma ignorierte ihn
und sagte zu Sanyu, "Ich verstehe deine zwei Zungen in einen Mund nicht.
Denk mal an die Kinder." Sujatas alte Putzfrau,
die uns die ganze Zeit zuhörte, sagte, "Kaliyug, Kaliyug", und polierte
weiter die Kupfer und Silberwaren. Kaliyug ist der letzte
Äon, in dem diese Welt zur Unvernunft und Unmoral geführt wird
und endlich zerstört wird, wie im jüngsten Gericht. Manma rezitierte Sanskrit
mit geschlossenen Augen:
"Stets wenn Verbrechen
sich erhebt Und Frömmigkeit
zu wanken droht, Erschaffe ich mich
selbst erneut Durch meines Willens
Machtgebot. Ich schütze
den, der tugendhaft, Vernichte aller
Bösen Brut, In jedem Weltenalter
neu Begründe ich,
was recht und gut."
"Schon wieder deine Bhagavat-Gita.
Krishna lehrt Arjuna im vierten Gesang, Vers fünf und sechs", sagte
ich und freute über meine Kenntnisse. "Vers sieben und acht",
korrigierte Manma mich sanft. "Es ist immer das gleiche
mit der alten Generation", sagte Sanyu, "Pass auf, der Tee kocht. Immer,
wenn die Argumente fehlen, greifen sie zur Religion. Alte Texte in heiligen
Büchern sind schön und gut, aber wir haben nun das 21. Jahrhundert.
manchmal denke ich, dass die juristischen Gesetze und psychologischen Therapien
für die Familien nützlicher sind als Gebete." "Meinst du wirklich?
Ist das deine neue Religion? Mein Gott, wo habe ich denn bloß die
Lücken in deiner Erziehung gelassen?" sagte Manma enttäuscht. Sanyu deckte den Topf
mit einem Deckel zu, um den Tee in der Nachwärme weiter ziehen zu
lassen, legte ihren Arm um Manmas Schulter und sagte: "Ich hatte nicht die
Absicht, respektlos zu sein, Manma. Bitte verzeih mir. Ich bin auch nicht
dafür, dass die Familien auseinandergehen. Und ich weiß, dass
Religion vor Untugend bewahrt. Ich versuche, das Problem nur menschlich
zu betrachten. Wenn ich für deine Ohren aggressiv klinge, dann nur
aus Zweifel. Ich bin unzufrieden, weil ich das, was du und Daddy, uns durch
eure Erziehung vermittelt habt, nicht weiter an meine Kinder vermitteln
kann. Die Zeiten ändern sich, und das neue Umfeld erweitert ihre Horizonte.
Ich habe wenig Einfluß auf was das, was ich meinen Kinder beibringe
und nicht beibringe." Yash und ich folgten
Sanyu aufmerksam. Sie fuhr fort: "Du magst wohl recht
haben, dass der fehlende Glaube die Menschen dazu ermutigt, sich so zu
benehmen und zu handeln, wie sie es gerade wünschen und wollen, solange
gar keine Vernunft vorhanden ist. Aber wir sind keine Fundamentalisten
hier. Ich wollte keinem die Schuld geben, weder Tanus Vater noch ihrer
Mutter. Was sie beide getan haben, haben sie selbst zu verantworten. Ich
werde mich nicht in die Einzelheiten einmischen. Ich machte mir nur Gedanken
über die beiden Töchter, als Uma mich danach fragte." "Es ist gut", entschuldigte
Manma Sanyu und verfolgte den Ariadnefaden weiter: "Diese jungen Mädchen
erfahren zu Hause das Leid ihrer alleinerziehenden Mutter. Und eines Tages
werden sie selbst Ehefrauen; und wenn Probleme auftauchen, trennen sie
sich einfach von ihren Ehemännern. So drehen sich die Konsequenzen." "Manma," sagte ich, "Wir
müssen nicht ein Vorbild für die Gesellschaft sein und uns dabei
opfern." "Doch", sagte Manma,"
soziale Verantwortung heißt es in eurer modernen Sprache." "Nein Manma," sagte Sanyu,
"soziale Verantwortung ist nicht nur Frauensache. Männer können
schließlich auch dazu beitragen." Die alte Putzfrau hörte
auf zu polieren und mischte sich ein: "Frauen sollten wie die
Muttergöttin Sitamai sein. Wie die Erde sollten sie alles erdulden
und in sich hineinnehmen, um die süßen Früchte voran zu
bringen. Deshalb sind sie edler als die immer betrunkenen Ehemänner." Ich wusste, dass ihr
Ehemann arbeitslos und Alkoholiker war, und es überraschte mich, dass
sie auch etwas zu sagen hatte und es auszusprechen wagte. "Bai, wenn Sie mit der
Silberware fertig sind, geben Sie sie mir eigenhändig. Ich will sie
im Tresor abschließen." sagte Manma und siebte den Tee in mehrere
Tassen. "Es ist nur eben schade,
dass Tanus Mutter anders behandelt wird als die verheirateten Frauen, die
einen ansehnlichen Stand in der Gesellschaft haben und dies bei jedem Anlass
unbewusst genießen", sagte Sanyu, ohne auf die Idee der 'edlen Frau'
zu achten. Ich konnte nicht still
bleiben und fragte: "Ist diese Sicherheit des Standes auf Dauer wohltuend?
Vielleicht beneiden viele Ehefrauen heimlich Tanus Mutter, weil sie Stolz
und Würde zeigt." "Das ist eine westliche
Denkweise", sagte Manma, ohne zu zögern, "Was nützt ihr dieser
Stolz und diese Würde, wenn sie und ihre Töchter mit seelischen
Wunden ihren Alltag bewältigen müssen? Stolz steht niemandem
zu, und Würde verdient sich ein Mensch nicht durch die bloßen
Umstände." Yash rührte den
Sirup, bis der Zucker ganz im Zitronensaft aufgelöst war, und zeigte
ihn Sanyu. Sie nickte und drückte ein Tablett mit Teetassen in Yashs
Hand und sagte: "Gut gemacht. Geh jetzt
bitte und serviere allen den Tee!" Er seufzte erleichtert
auf und ging bereitwillig aus der Küche. Sanyu und ich sahen auch
keinen Zweck darin, unser Gespräch weiterzuführen, und es war
auch nicht möglich. Zwei Dienstboten kamen von Familie Apte, um Rashmis
Gepäck abzuholen. Unsere Hände waren noch nicht bemalt, deshalb
kümmerten wir uns darum. Manma telefonierte mit
Mrs. Apte, Rashmis Schwiegermutter, und sagte höflich: "Meine Vertraute, bitte
machen Sie das weiße Bündel auf, das gerade zu ihnen unterwegs
ist. Darin sind ein paar persönliche Sachen von meiner Enkelin. Ich
weiß, dass Sie viel zu tun haben, aber machen Sie einer alten Frau
eine Freude und verteilen Sie die Sachen in Rashmis und Amits Zimmer. Übermorgen,
wenn Rashmi in ihr neues Haus eintritt, möchte ich gerne, dass sie
sich dort gleich vertraut und wohl fühlt. Ich danke Ihnen." Sujata fand den Anruf
überflussig und schlug Manma vor, auch Henna aufzutragen. Manma weigerte
sich, aber schließlich ließ sie sich einen Kreis auf die linke
Handfläche und auf die Fingerspitzen malen. Sie bat mich, nach Hause
zu fahren und die Wäsche zu machen. Als Janu ihre Hand bemalte, sagte
sie zu mir: "Es muss wieder Wasser in der Leitung sein, und wir haben einen
Berg von Wäsche. Kannst du das schnell erledigen, Uma? Heute wird
es wieder Mitternacht, ehe wir nach Hause kommen. Du kannst mit Tanmay
und seinem Vater mit dem Auto zurückkommen." Es freute mich, dem ganzen
Chaos für ein paar Stunden zu entkommen und ein bisschen Ruhe zu haben.
Ich fuhr nach Hause und machte zwei Waschgänge, schrieb mein Tagebuch
und telephonierte. Häufig rief ich meine Freunde in Mumbai an, wenn
ich allein war. Es war ganz anders, sie diesmal nicht treffen zu können.
Ich rief auch den 'Deepak Store' an, um nach meinen Spirographen zu fragen,
und als ich gar keine konkrete Auskunft erhielt, entschied ich mich, die
Sache an den Nagel zu hängen. Als die letzte Wäsche im Trockner
war, nickte ich auf dem Esstisch für eine kurze Zeit ein. Ich träumte
von verschiedenen bunten Spirographenmustern, die um mich tanzten und nach
Eukalyptusöl dufteten. Viele Münder redeten gleichzeitig ohne
Worte, aber deren Stimmen hatten ein Echo. "Bei uns wird Nikolaus am 5.
Abend gefeiert" hörte ich Gott Krishna sagen und roch einen Duft von
Pulsnitzer Lebkuchen. Ich schwamm im flüssig-heißen Wachs einer
gigantischen Adventskerze. Tanmay weckte mich auf,
der mir die ganze Zeit Gesellschaft geleistet hatte und konzentriert irgendwelche
Formeln für die Schule auswendig lernte. Er sagte: "Du siehst müde
aus. Geh dich bitte erst einmal hübsch machen. Ich kümmere mich
um die Wäsche." Ich blieb halb auf dem
Esstisch liegen, und mit lang ausgestreckten Armen spielte ich mit seinem
Finger. Ich erzählte ihm von dem Rummel in Sujatas Haus und vom Hennamalen. "Warum sind deine Hände
noch blass?" fragte er mich. "Ich bin noch nicht dazu
gekommen", sagte ich, "Tanu und Manu sind ständig dabei, aber wir
sind einfach zuviel Frauen und jeder hat leider zwei Hände und zwei
Füße!" "Grausam bist du!" sagte
er und schlug mit seinem Bleistift auf meine Finger, "Haben deine Freundinnen
sich auch mit Henna bemalt, oder möchten sie sich lieber tätowieren
lassen?" Oh mein Gott, dachte
ich mir, ich habe die beiden ganz vergessen. Ich fühlte mich schuldig,
weil ich so wenig Zeit mit ihnen verbrachte. Wir beeilten uns mit dem Haushalt
und fuhren dann mit Sanyus Ehemann wieder zu Sujata. Auf der Straße
protestierte die fundamentalistische Hindupartei, die Shivsena, gegen das
neue Gesetz. Sie drohte mit einem Hungerstreik, falls die Bezirksregierung
nicht bald den Helmzwang aufhöbe. In der Stadt gab es auch eine Knappheit
an Helmen. Sanyus Ehemann sagte: "In Delhi spinnen sie
auch. Der Verkehrsminister verlangt, dass alle Autofahrer den Sicherheitsgurt
anlegen sollen. Die Regierung sollte zuerst den Straßenzustand verbessern
und die Benzinsteuer senken, danach kann man weiter über Sicherheitsmaßnahmen
reden." Abends war viel Trubel
im Hochzeitshaus. Bunte elektrische Lichterketten waren außen angebracht.
Über der Wohnungstür hingen grüne längliche Mangobaumblätter
und ein gezacktes rotes Samttuch mit einem goldenen Ganesha-Bild in der
Mitte, um die Gäste willkommen zu heißen. Vor die Türschwelle
hatte Sujata Rangoli mit einem wunderschönen Weinrankenmotiv gemalt.
Viele Bekannte und Familienfreunde kamen zu Besuch und die Vorfreude war
groß. Dorothee und Sabrina zeigten mir ihre Einkäufe. Ich redete
mit ihnen und mit den anderen gleichzeitig. In Indien wird häufig
schnell geredet und schnell ein Thema gewechselt. Ich redete manchmal mit
fünf verschiedenen Leuten über fünf verschiedene Themen
in drei verschiedenen Sprachen. Es war witzig und verwirrend. Ich übersetzte
viel, um das Tempo nicht zu verlieren, weil das Englisch meiner deutschen
Freundinnen schwach war und die Familie sich nicht so recht traute, die
beiden Fremden direkt anzusprechen. Ab und zu war das anstrengend für
mich, aber wenn ich zu müde war, sagte ich gar nichts und lachte nur. Tanus jüngere Schwester
wirbelte überall herum mit ihrer kindlichen Art und sorgte für
die fröhliche Stimmung im Frauenraum. Rashmi saß wie gelähmt
mit bemalten Händen und Füßen auf einer Couch und weinte
und lachte dann wieder, wie das Sonnenschein- und Regenspiel. Im Hintergrund
wurde ständig Henna gemalt. "Warum traut der Osama
Bin Laden sich nicht in den Garten?" wurde Sabrina von Tanus kleiner Schwester
angesprochen. Sabrina musste erst begreifen, dass es ein Rätselwitz
war. Sie überlegte und schüttelte den Kopf. Als wir uns geschlagen
gaben, sagte Tanus Schwester: "Weil es im Garten so viel bushes gibt!" Unser Lachen ermutigte
sie und sie stellte mehrere Rätselfragen: "Als die Chinesen ihre
berühmte Mauer gebaut haben, warum haben sie diesen Finger nicht benutzt?"
fragte sie und zeigte uns ihren dünnen Zeigefinger. Wir überlegten uns
alles mögliche und gaben uns wieder geschlagen. Sie bewegte ihren
Zeigefinger hin und her und antwortete unschuldig: "Weil es mein Finger
ist!" Sie hatte viel Spaß
daran, uns reinzulegen und ich nahm sie liebevoll auf meinen Schoß.
Obwohl wir uns früher nicht gekannt hatten, fühlte sie sich nun
wohl bei mir. Sie war kaum zu bremsen. Sie fragte weiter: "Sagen Sie mal,
fünf Ameisengeschwister gingen hinter einander auf einer Straße
entlang. Vier hatten blauen Unterhosen an und nur eine Ameise hatte eine
rote. Warum so?" "Weil sie als Warnsignal
nützlich sein wollte", versuchte ich zu raten. "Falsch, absolut falsch",
rief sie, "Weil es im Kleidergeschäft auf vier blaue eine rote frei
gab. Deshalb!" Sie stellte noch mehr
solche merkwürdigen Rätselfragen mit Elefanten in Kühlschränken
und sprechenden Schuhriemen und kichernden Erbsen. Ich freute mich besonders,
dort Mrs. Pankaj zu treffen, eine Freundin von Sujata und Avi. Sie gehörte
zur Religionsgemeinschaft der Jains, war mit einem Kaufmann verheiratet
und hatte eine Tochter, die in Mexiko studierte. Sie war eine kleine Frau
mit tadellos angezogener Sari und hatte eine madonnenhafte Strenge auf
ihrem von Masern gefleckten Gesicht. Sie war sehr freundlich und gutmütig.
Als ich ihr von Dorothee und Sabrina und ihren Problemen mit dem indischen
Essen erzählte, berichtete sie mir von zwei polnischen Gaststudentinnen,
die kürzlich bei ihr für sechs Wochen gewohnt hatten. "Sie mochten unser Essen
nicht, weil sie es sehr ungesund fanden. Kein Wunder, die beiden litten
unter Anorexie. Wir haben mehr Milchprodukte, Süßigkeiten und
Gewürze in unserer Küche als die Europäer, so behaupteten
sie jedenfalls. Unsere Familie isst rein vegetarisch, und das Fleisch in
den Mahlzeiten fehlte ihnen. Es ist eines unserer religiösen Gebote,
beseelte Lebewesen nicht zu töten. Wir dürfen auch keine Berufe
ausüben, die diese Gebote verletzen, und die Eltern der beiden Mädchen
hatten ein Import-Geschäft mit Pelzen aus Weißrußland!
Das war ein einziges Problem, aber wir haben uns trotzdem sehr gut verstanden." Ich lachte und sagte:
"Nächstes Mal lädst du bitte Paul McCartney als Gaststudent bei
dir ein." Die Beatles waren ihre Generation, und ich wusste, dass sie alle
Schallplatten der Beatles in ihrer immensen Plattensammlung besaß.
Sie fragte mich nach George Harrison, als ob er mein Nachbar wäre. "Ich habe in der Times
of India gelesen, dass er sehr unter seiner Krebskrankheit leidet. Ich
mag ihn, weil er so eng mit indischer Philosophie und Musik verbunden ist
", sagte sie lobend. "Ja", antwortete ich,
"es sind wenige, die die wahre Seele Indiens entdecken und zu schätzen
wissen. Viele Ausländer kommen mit unterschiedlichen Interessen hierher,
als Touristen oder als Hippies oder aus Geschäftsgründen oder
als Entwicklungshelfer. Und wenn sie etwas lernen wollen, um Seelenfrieden
zu finden, dann laufen sie hinter jedem Tom, Dick und Harry, die sich Gurus
schimpfen, hinterher!" sagte ich sarkastisch. "Und welchen Zweck haben
deine Freundinnen, Indien zu besuchen?" fragte sie mich. "Du kannst sie beide
selber fragen", gab ich ihr als ausweichende Antwort. Sie ließ ihre Hände
von Tanu bemalen. Das Zimmer war voll von schwatzenden Frauen, und wir
unterhielten uns nebeneinander sitzend mit leiser Stimme. Mrs. Pankaj schaute
mich an und lächelte mit geschlossenen Lippen. Für eine Weile
taten wir, als ob wir die Malkunst von Tanu in aller Stille und Aufmerksamkeit
bewunderten. Danach fragte sie mich: "Wie ist es denn so für
dich, in Deutschland zu wohnen?" Ich merkte, dass es keine
allgemeine Frage war. "Sie zeigen wenig Gefühle", gab ich ihr meine
ehrliche Antwort. "Andere Länder,
andere Sitten", sagte sie ausweichend, "Nein, ich meine, es sind überwiegend
Katholiken und Protestanten im Land, und du bist, hoffe ich, immer noch
Hindu?" "Haben meine Schwestern
dich gebeten, mich danach zu fragen?" fragte ich unnötig alarmiert. "Nein, auf keinen Fall",
beruhigte sie mich, "Ich wollte nur wissen, wie du mit zwei verschiedenen
Religionslehren klar kommst, welche du akzeptierst und praktizierst. Die
Moralvorstellungen zwischen Abend- und Morgenland sind so unterschiedlich
wie Nord- und Südpol. In diesem Sinne meinte ich meine Frage, wie
du solche Differenzen überwindest." Ich schämte mich
wegen meiner Verdächtigung und war sehr erstaunt, dass sie so etwas
ganz nebenbei erwähnte. Dieses Thema hat mich seit Jahren beschäftigt,
und ich habe ständig versucht, mich mit dieser Problematik auseinanderzusetzen.
Ich habe selten gewagt, darüber mit jemandem zu reden, deshalb fühlte
ich mich überrumpelt von dieser plötzlichen Nachfrage. Ziemlich
unsicher, halb verlegen und deshalb unachtsam antwortete ich: "Als ich in die Schule
ging, hatte unsere Schuldirektorin uns einmal eine Geschichte von einem
Bauern erzählt, der in seinem Ackerfeld Zuckerrohr und Chili nebeneinander
wachsen ließ. Zur Erntezeit wunderte sich sein kleiner Sohn über
das Nebeneinander von süßen und scharfen Früchten. Es war
unbegreiflich für ihn, zu verstehen, obwohl Boden, Wasserzufuhr und
Wachstumszeit gleich waren, warum das Zuckerrohr süß und die
Chilis scharf schmeckten. Der Vater versuchte die unterschiedlichen Eigenschaften
der beiden Pflanzen seinem Sohn zu erklären. Zuckerrohr wird nie versuchen,
sich von den bitteren Stoffen aus dem Boden aufzubauen, und die Chilipflanze
wird auch niemals die süßen Stoffe in sich aufnehmen." Ich gönnte Mrs.
Pankaj einen Moment und resümierte dann: "So ist das auch mit den
zwei Religionen. Ich nehme nur das Gute an. Es ist eine Art von Bereicherung,
wenn ein Mensch in zwei Religionen und zwei Kulturen zu Hause ist. Aber
wenn du mich nach der Praxis fragst, ist diese Bereicherung voller Sehnsucht
und Wehmut. Viele betrachten mich deswegen als einen Atheisten, weil ich
die Lehre von allen Religionen gleich werte und nicht die Gotteshäuser
zum Beten oder zum Fasten oder zum Beichten besuche. Ja, es fehlen mir
die Feste, die Zeremonien und die Opfergaben." "Und wie gehst du mit
den freizügigen Beziehungen zwischen Männern und Frauen dort
um? Stört es dich nicht?" fragte sie mich noch leiser, um Tanu nicht
unnötig zu beunruhigen. "Wenn du mich ganz persönlich
fragst, lege ich viel Wert auf die Erziehung, die ich von Geburt an genossen
habe. Die europäische Lebensweise passt zu Europäern. Ich respektiere
und akzeptiere es. Ich sehe gar kein Problem damit", sagte ich. Bis jetzt hatte Tanu
mucksmäuschenstill unserem Gespräch gelauscht. Sie hörte
plötzlich auf zu malen, rückte nach hinten und sagte: "Dann muss das für
dich eine Hölle sein, in Europa zu leben, wo es Homosexuellen-Ehen,
unehehliche Beziehungen und allerhand solchen Kram gibt. Wie hältst
du das nur aus? Allein wegen der deutschen Staatsangehörigkeit? Ich
werde niemals in die USA oder nach Europa auswandern, um dort an Rand der
Gesellschaft zu leben. Lieber bleibe ich bei meiner Mutter und in meinem
Mutterland". Mrs. Pankaj und ich waren
überrascht. "Es ist schon gut", sagte ich und wusste nicht, ob ich
lachen oder weinen sollte. Mrs. Pankaj kam mir zur Hilfe und sagte zu Tanu: "Na wunderbar, Indien
braucht intelligente Architekten wie dich in Zukunft. Keiner zwingt dich,
dein Land zu verlassen und dahin zu gehen, wo du dich nicht wohl fühlen
würdest. Aber du solltest Uma gegenüber gerecht sein und ihr
keinerlei Vorwürfe machen, die nicht stimmen. Und sie hat gesagt,
dass sie keine Probleme mit der abendländischen Denkweise hat, was
die Sitten betrifft." Ich fühlte mich
beleidigt und hatte gar kein Lust mehr, weiter dort zu sitzen. Ich wollte
Mrs. Pankaj über ihre Fastentage fragen, die sie regelmäßig
ausübte, aber das verschob ich auf ein andermal und ging in das Wohnzimmer. Sabrina und Dorothee
nahmen das Abendessen mit den Kindern zusammen ein, weil sie früh
nach Hause fahren wollten. Die Männer schenkten sich gegenseitig Drinks
ein. Ich und Neeta waren die einzigen Frauen, die ihnen Gesellschaft leisteten.
Wir saßen alle an die Wand angelehnt auf dem Fußboden. In der
Mitte der Runde waren mehrere Teller mit leckeren Esssachen verteilt. Avis
Bruder erklärte meinen Freundinnen, dass die Frauen in der Familie
ihre individuelle Art haben, sich die Sari anzuziehen. -Seine witzige Erzählung
lenkte mich ab, und ich fühlte mich leicht und sorglos nach einem
Whisky. Rashmi telefonierte im geschlossenen Badezimmer mit Amit und Yash
donnerte an die Tür, weil sie solange die Leitung blockierte. Mobile
Telephone und Handys sind in den großen Städten wie eine Pest
verbreitet. Tanu bemalte Sanyus und Manu Sujatas Hände. Einige Frauen
waren in der Küche und verteilten das Abendessen in die Teller. Es
gab geröstete Brötchen mit püriertem Gemüse. Rashmis
Vettern begleiteten meine Freundinnen gegen ihren Willen ein Stück
nach Hause. Wir blieben im internen Kreis beisammen und unterhielten uns
über die guten alten Zeiten. Avis Familie und wir
als Mädchen waren Nachbarn in Mumbai und hatten wunderbare Erinnerungen
an unsere Kindheit. "Punkt halb fünf
Morgens kam der erste Zug angerollt und brachte 200 Liter frische Milch
von Karjat", sagte Avis älterer Bruder, "Und wir haben es zur viert
in verschiedene Haushalte verteilt." Avis Vater war Bürgermeister
von Dombivali, einem Vorort von Mumbai, wo wir wohnten. Er besaß
eine Molkerei weiter nördlich von Bombay und führte sie als Familienbetrieb.
Alle Söhne mussten mithelfen, bevor sie zur Schule oder in die Uni
gingen. Der Bahnhof war nur eine Straße weiter, und in den Siebziger
Jahren standen dort Pferdekutschen für die Güter oder für
den Personentransport bereit. Ringsherum gab es niedrige Häuser mit
zahlreichen Palmen und Obstbäumen. Dombivali war damals nicht dicht
besiedelt. Die Söhne brachten frische Milch in kleinen Kanistern in
die Nachbarschaft und die Angestellten verteilten sie mit Pferdewagen in
die fern liegenden Häuser. "Ich weiß, mein
Sohn, wie Sie ihre Dienste geleistet haben", sagte Manma, "Wenn Sie zu
mir kamen, war die Qualität der Milch wesentlich dünner. Sie
haben vorher heimlich alle Katzen in der Kolonie großzügig gefüttert
und ihre Kanister einfach mit Wasser nachgefüllt um die fehlende Menge
auszugleichen." "Aber nicht sehr oft",
sagte Avis älterer Bruder ein bisschen verlegen, "Da war auch Ihre
Katze dabei." "Deshalb habe ich Sie
auch nie verraten, mein Sohn. Ihr Vater war ein strenger Mann." gab Manma
zu. "Ich weiß Ihre
Güte zu schätzen, Manma. Ihre jüngste Tochter kam in den
Schulpausen nach Hause und trank Milch aus der Flasche wie ein Baby. Schön
brav heimlich, unter der Decke versteckt. Ich habe sie auch niemandem verraten",
sagte Avis älterer Bruder und blinzelte mir zu. "Ich weiß auch
Ihre Güte zu schätzen, mein Sohn", antwortete Manma ihm. "Meistens denke ich zurück
an unsere Ausflüge nach Karjat", wechselte Neeta umgehend das Thema,
um die Familiengeheimnisse verborgen zu halten, "es war so schön auf
der Farm. Ich rieche immer noch den herben Duft des Heus und des Kuhdungs." "Ja Neeta, heute existiert
die Molkerei nicht mehr, sonst hätte ich mit dem Dung Biogas produziert.
Früher haben die Dorfbewohner es einfach mitgenommen, um in ihren
Lehmhütten die Fußböden damit zu streichen." sagte Avis
Bruder, der jetzt eine Farm mit einem Mangohain verwaltete. "Igitt, mit Kuhdung?"
fragte die kleine Janu und rümpfte ihre Nase. "Wie Igitt?" Fragte Avis
Bruder sie mahnend, "Kuhdung desinfiziert; und außerdem sind die
getrockneten Fladen ein wunderbares Brennmaterial zum Kochen. Hast du das
nicht in deiner englischen Schule gelernt?" "Wir lernen so was Stinkendes
nicht in der Schule", antwortete Janu ihm frech. "Solche unklugen kecken
Mädchen wie du sollten für immer unverheiratet bleiben", fluchte
Avis Bruder und rief danach: "Hey Sanyu, mach was, dass deine Tochter von
hier weg kommt und erziehe sie richtig! Ein unverschämter Stolz tanzt
auf ihrer Nase, und das ist auf die Dauer nicht gut!" "Männer!" sagte
Sanyu und nahm ihre Tochter in Schutz. Sie war fertig mit dem Hennamalen
und brachte Janu zu Tanu um ihre Hände bemalen zu lassen. Wir unterhielten
uns weiter. "Das Tollste in Karjat
war der Shiva-Tempel, wo wir alle übernachtet haben, und der Fluß.
Wir sind wie Delphine dort geschwommen", erinnerte sich Avi. "Ja, und ihr habt uns
Mädchen immer einen Schreck eingejagt", sagte Alka, "als ihr untergetaucht
seid, nur mit den Füßen über der Wasseroberfläche,
und uns mit den Zehen zugewunken habt. Da dachten wir, ihr ertrinkt. So
was Dummes!" "Und weißt du,
wie Sujata das Schwimmen gelernt hat?" fragte Avi. "Ja, sie hat sich das
Schwimmen selbst beigebracht, dazu hatte sie sich eine leere Butterfettbüchse
auf den Rücken gebunden ", sagte Neeta. "Und einmal, als auch
mich der Mut packte und ich zu schwimmen versuchte, habt ihr in meine Metallbüchse
heimlich Löcher gebohrt", klagte ich. Alle lachten. "Und wie hat Uma geschrien,
als sie im Fluß untertauchte", sagte Alka, "Als ob das bisschen Wasser
in Nase und in Mund lebensdrohlich gewesen wäre!" Ich warf einen von meinen
bösen Blicken in ihre Richtung, aber dann lachte ich und nahm auch
am Mensch-ärgere-dich-nicht-Spiel teil. Wir redeten von vielen
Ereignissen: von kaputten Fensterscheiben, die wir mit unseren Cricketbällen
getroffen hatten, von den armen Katzen, deren Schnurrbart wir gestutzt
hatten, von alten Liedern, die wir gemeinsam in den Sommernächten
auf der Terrasse gesungen hatten, vom Holi-Feuer, wenn wir unsere Streite
und Feindschaften in einen Schrein gesperrt und verbrannt hatten, und von
der Monsunzeit, wenn wir bunte Drachen um die Wette in den Himmel hochsteigen
ließen. Es war alles wunderbar, die Nostalgie und der Whisky! Irgendwann einmal, kurz
vor Mitternacht, malte Tanu zuletzt meine linke Handfläche. Sie war
erschöpft und ich auch, deshalb trug ich Henna nur auf einer Handfläche,
ein grob gemaltes Muster. Als sie fertig war, sagte ich zu Tanu: "Weißt du, als
du noch nicht geboren warst, gab es hier einen Brauch: Wir haben immer
die Frauen geehrt, die unsere Zöpfe machten oder uns schön schmückten.
Darf ich dir auch die Ehre erweisen, weil du meine Hand gemalt hast?" Tanu schaute mich überrascht
an, und ich berührte tatsächlich ihre Füße und machte
ihr einen ordentlichen Namaskar. Manma bezeichnete mein unmögliches
Benehmen als "Betrübnis der Sinne durch den Geist namens Alkohol"
und sagte, es wäre jetzt Zeit, nach Hause zu fahren. Pradeep hatte etliche
Promille im Blut; deshalb fuhr Sanyu das Auto. Ihre Hände waren gemalt,
deshalb drehte sie das Lenkrad ganz vorsichtig, und Tanmay wechselte die
Gangschaltung. Ich musste ständig über diese abenteuerliche Fahrmethode
lachen, und als wir zu Hause ankamen, atmete Manma erleichtert auf und
sagte: "Was man nicht alles überlebt!"