Der Duft von angebratenen
frischen Korianderblättern weckte mich aus meinem tiefen Schlaf. Manma
war in der Küche beschäftigt und bereitete Masala für mich
zu. Geschälte Knoblauchzehen, geraspelte Kokosnuss, gemahlene Chilis,
Gelbwurz und Salz lagen in Haufen auf verschiedenen Tellern. Manma schaute
mich über die Pfanne hinweg kritisch an, weil ich mit offenem Haar
und ungewaschen in ihre Küche eintrat, um Guten Morgen zu sagen. "Du kannst mir helfen,
nachdem du dich gekämmt, geduscht und frühstückt hast. Sei
ein braves Mädchen", sagte sie zu mir und rührte die gedünstete
Koriandermasse weiter. Ich amüsierte mich über ihr ab und zu
auftretendes Verlangen, die Mutterrolle zu spielen und mich als kleines
Mädchen zu behandeln. "Vor ein paar Jahren
gab es einen Bestseller in Deutschland mit dem Titel 'Gute Mädchen
kommen in den Himmel und böse überall hin'", sagte ich ihr. "Aber nicht in meine
Küche", sagte sie halb dominant und halb vergnügt. Als ich ins
Bad ging, rief sie mir hinterher: "Du solltest lieber den
Knigge übersetzen, dann lernst du wenigsten etwas über gutes
Benehmen!" Meine Mutter wusste schon Bescheid über den "Umgang mit
Menschen". Den ganzen Vormittag
half ich ihr in der Küche. Die gerösteten Gewürze standen
seit über einer Woche in einem luftdichten Behälter bereit. Korianderkörner,
Lorbeerblätter, Kreuzkümmel, Mohnsamen, Sternanis, schwarze Pfefferkörner,
Griechisches Heu und alle möglichen herben Gewürzsorten waren
zusammengemischt. Ich mahlte sie in Manmas neuem Mixer, den sie von Sujata
als Hochzeitsgeschenk bekommen hatte. Die gemahlenen Gewürze siebte
Manma durch ein feines Maschensieb. Die Reste musste ich nochmals mahlen.
Wie eine Maschine arbeiteten wir beide regelmäßig, mit perfektem
Timing und ohne große Absprachen. Ab und zu musste ich wegen des
intensiven Aromas der gemahlenen Gewürze niesen. Manma gab mir ein
altes Taschentuch von Daddy, damit ich es mir vor die Nase binde. Sie selbst
brauchte keins. Als wir mit drei Kilo Gewürzmischung fertig waren,
röstete Manma noch Kokosraspeln an. Ich saß auf dem Boden und
nahm mir den großen Steinmörser. Ich zerdrückte Ingwer
und Knoblauchzehen zusammen mit etwas Salz in der schweren Steinschüssel
zu einer Paste. Manma hatte darauf bestanden, die feuchten Zutaten nicht
in dem Mixer zu mahlen. "Meine Freundinnen im
Rommé-Club wundern sich immer über mein Masala-Rezept", sagte
sie und legte die hellbraun gerösteten Kokosraspeln auf ein sauberes
Tuch zum Auskühlen, "Sie verstehen einfach nicht, warum mein Masala
jahrelang hält, obwohl frischer Koriander, Ingwer und roher Knoblauch
darin enthalten ist." "Tun die anderen keine
feuchten Zutaten in ihr Haus-Masala?" fragte ich sie. "Nein", sagte Manma,
"vielleicht machen es manche. Niemand verrät seine Hausrezepte. Ich
habe diese Art der Zubereitung von der Mutter deines Vaters gelernt und
dabei ein bisschen hinzu improvisiert." "Zum Beispiel?" fragte
ich sie interessiert und nahm die Koriandermasse, um sie zu einer feinen
Paste zu zerquetschen. "Zum Beispiel dieser
Koriander", sagte Manma, "Deine Oma hat den frischen Koriander direkt in
ihr Masala gemischt. Ich dünste ihn vorher und lasse den Wasseranteil
der grünen Kräuter ausdampfen." "Ya veo, ya veo", sagte
ich. "Was war denn das?" fragte
Manma. "Das war Spanisch", antwortete
ich. "Also spüle bitte
den Mörser gründlich mit etwas Wasser aus, bevor du die Kokosraspeln
darin zerdrückst. Und das Wasser schicke ich nach oben zu Sanyu. Sie
kann es ins Curry tun. Sie hat mir gesagt, solange du hier bist, nehmen
wir die Mittagsmahlzeiten bei ihr ein. Bist du damit einverstanden?" fragte
sie mich. Ich sagte laut "Ja" mit
großer Begeisterung. Für mich war Sanyu die beste Köchin
in gesamt Indien! Meine Mutter trocknete
selbst den Steinmörser mit einen Küchenhandtuch ab und wandte
sich den Gewürzhaufen zu. Sie mischte Chilipulver, Kurkuma und Asafoetida,
auf Deutsch: "Teufelsdreck", darin zusammen. Ihre erfahrenen Hände
arbeiteten geschickt, und während sie mischte, sagte sie zu mir: "Diesmal habe ich fertiges
Chilipulver aus dem Supermarkt gekauft. Und ich habe auf die Qualität
nicht aufgepasst. Es hat mehr Farbe als Schärfe." "Das macht nichts", sagte
ich. Manma bereitete Masala überwiegend nur für mich zu, damit
ich es nach Deutschland mitnehmen konnte. Und ich wollte nicht, dass sie
wegen irgendwelcher Kleinigkeit unzufrieden war. Die Zubereitung von Masala
ist eine mühsame Saisonarbeit, die man nur einmal pro Jahr unternimmt,
wie etwa das Sauerkrautmachen oder Obst-Einwecken in Deutschland. Normalweise
bereiten indische Frauen ihr Haus-Masala im Hochsommer zu, kurz vor dem
Monsun, wenn die Luft sehr heiß und trocken ist. Manma unternahm
diese Aktion im Dezember, allein für mich, und ich wusste es zu schätzen. "Das macht wohl was aus",
widersprach Manma mir, "Früher habe ich die Chilis selbst gemahlen.
Im Mai kann man die besten getrockneten Chilis aus Nordindien kaufen. Die
brauchen nur einen Tag Sonne, um von innen splittertrocken zu werden. Dann
sind sie im Gusseisen-Mörser innerhalb von zwei Stunden fertig gemahlen." "Ja, ich erinnere mich",
sagte ich zurückblickend, "Nach dieser Arbeit haben deine Nase und
Augen ständig geweint und ich mochte nicht mit dir kuscheln, weil
deine Finger auf meiner Haut brannten." Manma 1achte sehr mild
und sagte, "Es ist wahr. Die Terrasse von dem Haus in Mumbai war schön.
Sie diente zugleich als Jahresküche für mich." "Und das Treppenhaus
mit den Filigranwänden an der Westseite. Wenn die Sonne unterging,
machte sie Lichtmuster auf die Treppen, und jeden Tag spiegelten sich dort
neue Zwielicht-Farben", sagte ich. Als ich mit dem Kokos-Zerstoßen
fertig war, mischte Manma die gesamten Zutaten und ließ die Gewürzmischung
noch einmal durch den Mörser passieren. Das Masala war nach einer
vierstündigen konzentrierten und sorgfältigen Zubereitung endlich
fertig. Zur Erholung gingen wir
beide Mittags ins Kino. 'Lagan' hieß der Film, was 'Steuer' bedeutet.
Dieser populäre Hindi-Film dauerte zirka vier Stunden und lief seit
12 Wochen im indischen Kino. Die kolonialzeitliche Handlung war für
europäische Verhältnisse gewiss ein amüsantes Puppentheaterspiel.
Es ging um Dorfbewohner, die wegen des Mangels an Regen nicht die Erntesteuer
an die Briten zahlen konnten. Die armen Landarbeiter litten unter der Schuldenlast,
wobei die dekadenten Herrscher sich auf Kosten des regionalen Königs,
einer Marionette der Briten, vergnügten. Nach dem zweiten Jahr der
Dürre geht ein junger Bauer zu einem britischen Offizier, um ihn um
eine Ermäßigung zu bitten. Die Briten vergnügen sich bei
einem Cricketspiel, anstatt in ihren Ämtern zu arbeiten, und der aufrichtige
junge Mann spottet über deren Spiel und beklagt sich über die
Ungerechtigkeit. Der weiße Offizier bewundert und beneidet den Mut
des jungen Bauern und will gerecht und fair handeln. Er fühlt sich
von dem Spott über sein Lieblingsspiel provoziert und fordert die
Dorfbewohner mit folgender Wette heraus: Wenn die Bauern innerhalb von
drei Monaten sich das Cricketspiel selbst beibringen und danach in einem
dreitägigen Spiel die Briten besiegen, dann sind sie für die
nächsten drei Jahre aller Abgaben und Steuern ledig. Diese Herausforderung
akzeptieren die ahnungslosen Bauern in ihrer Not und fangen sofort an zu
üben. Die Schwester des englischen Offiziers hilft den Bauern heimlich,
das Spiel zu lernen, und verliebt sich unglücklich in den jungen Hauptdarsteller,
den Feind ihrer Brüder. Der junge Bauer ist allerdings glücklich
mit einer hübschen Dorfbewohnerin verlobt. Ein Viertel des Films bestand
in dem spannenden Entscheidungsspiel, dem die Kinozuschauer mit Begeisterung
folgten. Ich habe es im indischen
Kino immer wieder schön gefunden, wie die Zuschauer mit Herz und Seele
die Geschichte auf der Leinwand mitleben und spontan darauf eingehen. Im
Kino wird laut gelacht, mitgejubelt, Buh gerufen, nachgesungen, zusammen
geweint und heftig applaudiert. An nichts wird gespart. Die Zuschauer teilen
sogar dem unbekannten Sitznachbarn ihre Kritik mit. Es ist ein Ereignis,
dieses Kino, wo Hunderte von Egos ihr 'Ich-sein' vergessen und einen einzigen
Wahrnehmungskörper bilden. Dieses stundenlange gemeinsame Vergnügen
würde ich kaum als Gehirnwäsche bezeichnen, sondern eher als
eine erholsame Flucht in eine Traumwelt. Ich hielt mir die Hände
vor die Augen, als wir am Nachmittag aus dem klimatisierten, dunklen Kino
herauskamen. Die Sonne stand noch hoch und ihre flimmernde Hitze prallte
auf die staubigen, belebten Straßen. Manma war sehr angetan von dem
Film und redete mit mir darüber, während ich mühsam mit
ihr gemeinsam in der Stoßverkehrszeit versuchte, die Straßen
zu überqueren. Während ich mit ihr unterwegs war, verließ
sie sich ganz und gar auf mich und nahm keine Notiz von dem Verkehr. Voller
Vertrauen hielt sie meine Hand und ließ sich zwischen den Autos führen.
Sie erzählte mir von einen Szene, wo der junge Bauer der Engländerin
den Dorftempel von Radha und Krischna zeigte: "In den sechiger Jahren
hat meine Unifreundin ihre Doktorarbeit über die mythologische Beziehung
von Radha und Krischna geschrieben. In dem Film nun fragte die Ausländerin
auch dumm und naiv, ob die beiden Götter Eheleute oder Geliebte oder
Freunde oder Geschwister seien." "Ja Manma, pass auf,
der Radfahrer", sagte ich und zog sie zurück. Ich wunderte mich über
ihr "auch". "Es ist so schwer zu
erklären", sagte sie und zögerte ein bißchen, um die richtigen
Worte zu finden, "Zwischen einem Mann und einer Frau existiert nicht unbedingt
immer eine weltliche Verbindung. Der menschliche Verstand ist so kurz und
unentwickelt, wann er die Beziehungen von zwei Geschlechtern ordnet. Radha
und Krischna hatten zwei unterschiedliche soziale Standpunkte: Sie war
verheiratet, und er war ein Kind, und später, als er jung war, hat
er mit seiner Vertrauten die Rasalila-Nächte erlebt." "Den Reigen der Liebenden
auf spirituellem Niveau", ergänzte ich ziemlich oberflächlich. "Hat der junge Darsteller
nicht nett versucht, so genau wie möglich die Beziehung zwischen Radha
und Krischna auszudrücken? " fragte Manma mich. "Was hat er gesagt?"
fragte ich sie zurück und versuchte mich selbst daran zu erinnern. "Radha und Krischna sind
zueinander wie der Morgentau auf dem Lotusblatt: Sie trennen sich nicht
voneinander und vereinen sich auch nicht miteinander." "Sehr poetisch", gab
ich zu. Wir waren in unserer Gasse angekommen, wo es ruhiger war. Wir weilten
kurz unter einer üppigen Bougainvillea. "Man kann sagen, dass
es eine wahre Liebe zwischen zwei Göttern war", sagte ich weiter zu
Manma. "Wahre Liebe ist ein
schwieriger Begriff und eine noch schwerere Aufgabe", sagte Manma und lachte. "Wie willst du es dann
interpretieren?" fragte ich sie, weil ich sie nicht verstanden hatte. "Eine
vollkommene, wahre Liebe zwischen Menschen gibt es nicht. Wenn jemanden
es behauptet, erliegt er einer Illusion. Die Menschen haben Willen und
Wünsche, die stärker sind, als das Vollkommene in einem anderen
Menschen zu finden.", sagte Manma und machte ihre Sari zurecht. "Aber wir sprechen von
Göttern", erinnerte ich sie kurz. "Ja, Radha war Krischnas
Sehnsucht, und Krischna war Radhas Sehnsucht. So weit ich es mit meiner
durchschnittlichen Intelligenz begreifen und beurteilen kann, ist diese
Sehnsucht echt und wahr, weil sie nur aus Liebe besteht und nicht aus der
Hoffnung auf ein Ergebnis", sagte meine Mutter, "Sehnsucht zu haben ist
etwas Göttliches, und dieses Geschenk hat Gott den Menschen weitergegeben.
Zumindest einen Teil davon." Ich war fasziniert von
ihren Gedanken. Ich knüpfte daran an: "Und nicht alle wissen
es zu schätzen und richtig zu entfalten." "Das ist ein anderes
Thema. Aber mich hat diese kurze Szene in Lagan sehr angesprochen. Der
Schluss leider nicht.", sagte sie. Vor dem Haustor traf
ich Sanyu, die sich gerade zu ihrem täglichen schnellen Spaziergang
auf dem Tuldsai-Berg aufmachte. Sie hatte ihre leichten Sportschuhe aus
Segeltuchstoff an. "Kommst du mit?" fragte
sie mich mit einem Armschwung, der mehr einen Befehl als eine höfliche
Frage andeutete. Manma war müde; deshalb ging sie in ihre Wohnung
zurück, und ich machte mich mit meiner Schwester auf den Weg. "Hat Rashmi heute schon
angerufen?" fragte ich sie voller Erwartung. "Nein", sagte sie, "nicht
direkt, aber Sujata hat mich angerufen. Sie erzählte, dass Rashmi
heute morgen schon bei ihr zu Besuch gewesen sei, um ihre Hausschuhe abzuholen!" "Hat die Familie Apte
keine extra Paar Hausschuhe?" fragte ich verwundert. "Die gleiche Frage hat
ihr Yash gestellt. Vielleicht war das nur ein Vorwand, noch einmal kurz
zu Hause vorbeizuschauen. Sujata sagte, dass Rashmi sehr glücklich
ausgesehen habe und voller Freude und Energie gewesen sei", sagte Sanyu. "Wann kommt sie uns besuchen?"
fragte ich, "Freitag Nacht fliege ich wieder zurück." "Bitte erwähne es
nicht", flehte Sanyu mich an. Sie war mit der Kürze meines Aufenthalts
nicht einverstanden. "Übermorgen kommen Rashmi und Amit uns besuchen.
Bis dann muss sie den Haushalt und die Hausregeln der neuen Familie kennenlernen.
Ihre Schwägerin wird ihr dabei hilfreich sein." "Und die Flitterwochen?
Unternehmen die beiden überhaupt keine Hochzeitsreise?" fragte ich. "Ja, nach zwei Wochen."
Sanyu wusste über alle Neuigkeiten Bescheid. "Sie warten, bis ihre
älteste Schwägerin wieder in die USA abreist. Danach fahren sie
nach Südindien, in eine traumhafte Gebirgsgegend." "Sehr schön", sagte
ich und schaute zu einem Gemüsehändler hinüber, der platt
und breit zwischen allen möglichen Gemüsesorten in seiner Bude
saß. Kleine weißviolette und hellgrüne Auberginen, lange
weiße Radieschen, Pilze, Yam, grüner Amaranth, Okra, Kürbissorten,
frische Tamarinde, grüne Kochbananen und verschiedenen tropische Gemüsearten
waren in der Bude auf hohen Holzbänken ordentlich verteilt. Ich hielt
kurz vor der Bude an, weil ich dort eine Wandkarte Indiens entdeckte. Die
Nordspitze von Jammu und Kashmir war auf diesem Gemälde vollständig.
Ich sagte zu Sanyu: "Sieh mal die Karte.
Im deutschen Fernsehen ist, wenn sie eine Nachricht aus Indien bringen
und dabei eine Landkarte zeigen, die nordwestliche Spitze angeknabbert.
Und hier sehe ich die Krone Indiens, wie ich sie in meiner Schule kennengelernt
habe." "Berichten sie häufig
über den Kashmir-Konflikt?" fragte meine Schwester. "Ab und zu ja", antwortete
ich, "Es tut mir immer ein bisschen weh in der Seele, wenn ich die geänderte
Heimatkarte sehe." "Vielleicht weiß
die Welt nicht, welche Region zu Indien und welche zu Pakistan gehört.
Wie zeigen sie Pakistans Landkarte auf dem Fernseher?" fragt sie mich. "Ehrlich gesagt, habe
ich darauf nicht geachtet", gab ich zu und sagte, "Aber wie ich sehe, sind
viele Inder noch in ihrem blinden Glauben und entscheiden selbst, wie die
Karte Indiens aussehen soll." Sanyu zog mich von dem
Gemüseladen weg und sagte: "Es ist ein Machtspiel zwischen zwei raffgierigen
Ländern, und die Leiden des Volks interessieren keinen. Aber der Witz
bei der ganze Sache ist, dass du den schwarzen Fleck auf der Stirn des
Gemüsehändlers nicht bemerkst hast!" Sanyus Andeutung ließ
mich aus allen Wolken fallen. Der Gemüsehändler war ein Muslim!
Ich musste selbst über mich lachen und fragte nur, ist es egal, ob
einer Hindu oder Muslim ist, sind sie wirklich überzeugte Patrioten
oder unschuldige Ahnungslose, oder sind sie teilnahmslose Opfer der Politik?
Was auch immer es sei, ich war für einen Moment verwirrt. Sanyu versuchte mich
aufzuheitern: "Was geht dich die Politik an? Du gehörst nicht zum
Haus und auch nicht zum Ufer. Du bist frei, ein freier Mensch!" "Ich bin mit dem Weltgeschehen
viel mehr verbunden, als du denkst", antwortete ich mürrisch. "Ich denke gar nichts",
sagte Sanyu, "außer, dass du viel zu viel ernste Gedanken über
unnötige Dinge verschwendest. Sieh den Sonnenuntergang an. Ist er
nicht wunderschön?" Sanyu fand immer schöne Ausflüchte,
wenn sie keine Lust hatte, ein Gesprächsthema weiter zu führen. Wortlos fingen wir an,
den Berg hinauf zu steigen. Die verdämmernden Farben des Himmels begleiteten
unseren schnellen Schritt. Ab und zu schauten wir uns an, um zu abzutasten,
ob wir die gleiche Wellenlänge teilten und lächelten verlegen
über diese Indiskretion. Sanyu fing an, eine Melodie von einem alten
Tagore-Lied zu summen. Ich folgte ihr und holte die Wörter aus meinem
Gedächtnis. Nach anfänglicher Verzögerung fingen wir beide
zu singen an:
"Wenn die zwei Schwestern
Wasser holen gehen, kommen sie zu dieser
Stelle, und sie lächeln. Sie müssen
jemanden gewahren, der da hinter Bäumen
steht, immer wenn sie
Wasser holen gehen. Die zwei Schwestern
flüstern miteinander, wenn sie an diesem
Platz vorübergehen. Sie müssen
das Geheimnis dessen ahnen, der da hinter Bäumen
steht, immer wenn sie
Wasser holen gehen. Ihre Krüge
schwanken plötzlich und etwas Wasser
spritzt dann über, wenn sie zu dieser
Stelle kommen. Sie müssen
herausgefunden haben, dass hier das Herz
von einem schlägt, der hinter Bäumen
steht, immer wenn sie
Wasser holen gehen. Die zwei Schwestern
schauen einander an, wenn sie zu dieser
Stelle kommen, und sie lächeln. Ein Lachen ist
im schnellen Schreiten ihrer Füße, und es verwirrt
den Sinn von einem, der hinter Bäumen
steht, immer wenn sie
Wasser holen gehen."
Danach sangen wir mehrerer
Lieder zusammen, die wir gemeinsam kannten, nicht nur in unsere Muttersprache,
sondern auch in Bengali und in Puñjabi und in Telugu. Als wir uns
auf der Tempeltreppe etwas ausruhten, bat Sanyu mich, ein deutsches Lied
zu singen, aber in dem Augenblick fiel mir keines ein. Ich sang einfach
ein 'Ave Maria' von Jakob Arcadelt. Es war ein seltsames Gefühl, in
einem Hindu Tempel "Benedicta tu in mulieribus, benedictus fructus ventris
tui Jesus" zu singen! Als ich mit "Ora pro nobis, amen" das Gebet beendete,
sagte Sanyu: "Ja, so sei es. Das habe
ich verstanden. Die deutsche Sprache ist nicht so schwierig, wie alle behaupten." Ich gab mir keine Mühe,
sie zu korrigieren. Deutsch hat wohl auch lateinische Einflüsse. Sanyu
stand auf und machte ihre Opfergabe in dem Altarraum. "Na, worum hast du heute
den guten Gott gebeten?" fragte ich, als sie zurückkam. "Ich habe gebetet und
nicht gebeten", antwortete Sanyu. "Ich habe von hier aus
gesehen, dass du Ganesha eine rote Hibiskusblüte geopfert hast", sagte
ich. "Das stimmt", gab
sie zu, "Ich habe alles Gute für das jung vermählte Paar gewünscht
und Frieden für meine Seele." "Hast du den wirklich
nötig? Du hast doch alles, worauf du stolz und glücklich sein
kannst", sagte ich. "Du hast keine Ahnung",
sagte sie und wir machten unseren Rückweg schweigsam in die Dunkelheit
hinab.
12.
Der nächste Tag
war ein Fastentag für meine Mutter. An diesem Morgen hatte sie auch
nicht gekocht, deshalb bekam ich Toastbrot mit Salz und Milchkaffee zum
Frühstück. Sie selbst trank nur rohe Büffelmilch. "Heute Mittag habe ich
einen Termin", sagte sie, als sie mühsam von dem Stuhl am Esstisch
aufstand. Ich war besorgt und dachte sofort an ihr schmerzendes Bein. "Musst du zum Arzt?"
fragte ich sie. "Nein", sagte sie, "wir
Nachbarn treffen uns zu einer gemeinsamen Lesung und zum gemeinsamen Gebet.
Der Dienstag ist der Tag des Gottes Ganesha." "Sanyu hat ihn aber schon
gestern im Tuldsai Tempel geehrt ", sagte ich. "Eigentlich ist der Montag
der Shiva-Tag, aber der dickbäuchige Ganesha liegt ihr am Herzen,
und sie kann ihn ehren, wann immer sie ein Bedürfnis danach hat. Ich
bin sicher, dass der Gott Shiva deswegen nicht böse auf sie sein wird",
verteidigte Manma meine Schwester, und ich schämte mich über
meinen kindischen Versuch, ihr vor unserer Mutter einen Irrtum anzuhängen. "Heute ist es aber eine
komplizierte und kniffelige Angelegenheit", resümierte Manma, "Ich
gehe mit ein paar Frauen zu Mrs. Ranade. Ihr Ehemann war beruflich in Kambodscha
unterwegs und hat dort aus Versehen etwas ganz Verkehrtes eingekauft." Manma machte eine Pause
und schaute sich meinen neugierigen Gesichtsausdruck amüsiert an.
Es klingelte an der Tür, und ich ließ schnell die Dienstfrau
herein. Manma kümmerte sich nicht um meine Spannung und gab zuerst
unserer dunkelhäutigen Putzfrau Anweisungen. "Was kann man Verkehrtes
einkaufen und dann noch in Kambodscha?" fragte ich meine Mutter ungeduldig,
als sie mit der Putzfrau redete. "Oma More, ick sag es
ihnen. Ick kann heute Nakmittag nikt wieder zu ihnen kommen, ick muss zu
Oma Ranade, sie braukt meine Hilfe", sagte die Putzfrau, befestigte ihren
losen Sarizipfel an der Taille und nahm den Besen zur Hand. Manma stimmte zu und
wandte sich danach zu mir. "Es gibt 20 berühmte
Ganesha-Pilgerorte, die überall in der Welt verteilt sind. Von Borneo
bis Mexiko und von Rom bis Japan", sagte sie, "In Kambodscha gibt es auch
einen Tempel. Als Mr. Ranade dort war, hat er eine Statue von einem stehenden
Ganesha gekauft und hat sie nach Hause gebracht. Und bei der Einweihungszeremonie
hat sein Priester das Schlimmste entdeckt." "Was?" fragte ich neugierig. "Der Rüssel", sagte
Manma, "Der Rüssel der Statue ging nicht zur linken Seite, sondern
bog sich zur rechten. So ein Pech für Familie Ranade!" Dieser beliebte Hindugott
hat einen Elefantenkopf, und ich wusste, dass der Rüssel aus ikonographischen
und religiösen Gründen immer auf der linken Seite liegen soll.
Es ist wichtig für die Gläubigen. "Hat Mr. Ranade nicht
darauf geachtet?" fragte ich sie. "Nein, das ist das Problem.
Er ist ein kluger Geschäftsmann und arbeitet als Vermittler für
eine französische Handelsfirma. Er wollte seiner Frau ein kleines
Geschenk aus Thailand mitbringen und kaufte die Statue in aller Eile, als
er ein paar Stunden in seinem vollen Terminkalender frei hatte. Und nun
bereut er es und denkt, es ist ein Omen.", erklärte mir Manma. Die selteneren Bilddarstellungen
von Ganesha mit einem auf der rechten Seite ruhenden Rüssel sind den
strengen Aspekten des Gottes vorbehalten. Ich persönlich betrachtete
den ganzen Aufwand als abergläubisch, widersprach aber meiner Mutter
nicht. "Und ihr wollt heute
gemeinsam beten, um diese Figur sanft zu stimmen. Wird es helfen?" fragte
ich sie.
"Wer mir mit fromm ergebnem
Sinn Blatt, Blüte,
Frucht und Wasser gibt, Von dem nehm gern
ich dieses an, Wenn er mich über
alles liebt",
rezitierte Manma einen
Vers aus der Bhagavad-Gita. Sie ging zum Telephon und rief eine ihrer Freundinnen
an, um die Uhrzeit des Treffens zu klären. Ich schlenderte lässig
auf den Balkon und wartete auf Sanyu. Ich wunderte mich über meine
Mutter, die gleichzeitig auf so verschiedenen Ebene lebte. In zunehmendem
Alter ist es ihr nie schwergefallen, die dünne Trennwand zwischen
Realität und Spiritualität zu durchqueren. Es war selbstverständlich
für sie. Ich versuchte dieses Rätsel zu verstehen. "Swester Uma, wann fahren
Sie nak Hause?" unterbrach die Putzfrau meine Gedankenkette. "Meine Mutter ist für
Sie eine Oma. Dann muss ihre Tochter für Sie eine Tante sein und nicht
eine Schwester", korrigierte ich sie. "Sie sehen aber sehr
jung aus", sagte sie und fragte dann: "Ist das weit, wo Sie wohnen?" "Ja", antwortete ich,
"sehr weit". "Weiter als das Ende
dieses Himmels?" fragte sie und zeigte mit ihrem nassen Finger auf den
Horizont. "Sind Sie noch nicht
weiter weg gewesen als bis zum Ende dieses Himmels, Bai?" fragte ich sie
halb amüsiert. "Dock. Einmal war ick
in Mombay. Aber als ick im Bus saß, rannte der Himmel immer fort
weiter nack vorne hinaus. Ick war immer mittendrin und es hat mir so nen
Spass gemakt", sagte sie und wischte eifrig das Balkongeländer. "Kommen Sie", sagte ich
und ging mit ihr in das Wohnzimmer. Ich öffnete den Bücherschrank
und holte einen Weltatlas heraus. "Ick kann nikt lesen",
sagte die Putzfrau ängstlich, "nur recknen". "Keine Panik. Ich will
Ihnen nicht das Alphabet beibringen. Ich zeige Ihnen bloß die Länder
und vielleicht den unendlichen Himmel", beruhigte ich sie. "Auf dem Papier?" fragte
sie verwundert und betrachtete aufmerksam die Karten der Kontinente. Meine
Erklärungen und die Ländernamen waren fremd für sie. Es
war nicht leicht für mich, ihrem Vorstellungsvermögen die Meilenangaben
des Maßstabs in der Verkleinerung auf der Karte verständlich
zu machen. Aber die Daumennagelgröße Deutschlands, das nur ein
Zwölftel der Landfläche Indiens hat, brachte sie zum Lachen. "Der Himmel ist klein
dort, wo Sie wohnen", sagte die Putzfrau und stopfte sich eine Prise Schnupftabak
in die Nase. "Du kannst Bai gar nichts
Vernünftiges beibringen. Sie hat nur Flausen im Kopf", sagte Sanyu,
die gerade herunter gekommen war, "Am Anfang habe ich mir solche Mühe
gegeben, ihr das Schreiben beizubringen. Ich habe extra für sie eine
Schiefertafel gekauft und jeden Nachmittag mit ihr zusammengesessen. Aber
sie hat von mir gar nichts gelernt." "Das ist nickt wahr",
verteidigte sich die Putzfrau, "Ick kann meinen Namen sreiben und muss
nickt überall den Daumenabdruck geben." "Mag wohl sein, aber
du solltest erst einmal die offiziellen Papiere lesen können, bevor
du die unterschreibst", sagte Sanyu. "Das makt mein Sohn.
Er geht in die Skule", sagte Bai. Sanyu schüttelte
ihren Kopf und bat die Frau, weiter zu arbeiten. Ich legte den Atlas wieder
zurück in den Schrank und nickte Sanyu anerkennend zu. Wir beide fuhren in die
Innenstadt und besuchten zuerst einen Laden, wo Musikinstrumente gebaut,
verkauft und repariert wurden. Dieser Laden war eine großer, bekannter
Familienbetrieb, und die Instrumente fanden überall in Maharashtra
große Nachfrage. Ich wollte mich nach einer Tambura umschauen. Die
Tambura ist eine Langhalslaute mit einem kleinen halbbirnenförmigen
Corpus, das mit vier Saiten bespannt ist. Sie dient als Gesangsbegleiter
und gibt den bekannten klangreichen Bordunton im Hintergrund der klassischen
indischen Musik. In der Empfangshalle von diesem 'Mehendale Instrument
Workshop' wurden wir freundlich begrüßt. Im Verkaufsraum waren
mehrere klassische indische Musikinstrumente aufgestellt. manche hingen
sogar an der Decke. Zupfinstrumente wie Vina und Sarod und Streichinstrumente
wie Sarangi und Sarinda schwankten mit dem Wind des Dachventilators hin
und her. Sanyu warf einen besorgten, kurzen Blick nach oben und hoffte
laut, dass die Instrumenten gut befestigt seien. Trommelpaare aus Holz
und mit einem weißen Metallcorpus, die Tabala und Dhagga heißen,
waren auf dem Boden zu Schau gestellt. Da waren auch beidseitig geschlagene
Trommeln wie Mridangam, Dholak und Pakhwaj. Deren kleineres Fell wird in
der Oktave, Quinte oder Quarte zum Grundton des größeren Fells
gestimmt. In der linken Ecke des Ladens waren die populären Sitar-Instrumente
mit bis zu zehn Resonanzsaiten zu sehen. Sofort dachte ich an den in Benares
geborenen Virtuosen Ravi Shankar, der dieses aus der altpersischen Laute
entwickelte Musikinstrument im Westen bekannt gemacht hat. Daneben lag
eine siebensaitige Vina, die aus einem Bambusrohr gebaut war, das klassische
Instrument Indiens, geschaffen von Gott Shiva selbst. Die Vina hat zwei
hohle Kürbisse als Resonanzkörper an den beiden Enden des saitenbespannten
Griffbretts. Die Blasinstrumente waren an den Wänden aufgehängt.
Die Flöten waren in recht zahlreichen und unterschiedlichen Formen
bearbeitet. Das markanteste Blasinstrument, eine Oboe namens Shehnai, wurde
in einer Glasvitrine verwahrt. Es gab Handorgeln, Harmoniums in verschiedenen
Stimmlagen, außerdem noch Zimbeln und Glöckchen. Ich war froh,
dort keine elektrischen Melodymaker und Synthesizer zu entdecken. Als ich meine Wünsche
äußerte, nahm mich ein älterer Verkäufer an die Hand
und führte mich durch die dunklen Räume in den Innenhof. In diesen
dunklen Räumen arbeiteten Handwerker und junge Praktikanten an verschiedenen
Instrumenten. Neben Tönen und Melodien waren auch Klopf- und Sägegeräusche
zu hören. Der ältere Verkäufer schloß eine Zimmertür
auf, wo nur Tamburas aufgestellt waren. Als ich in den Raum eintrat, stieg
der intensive Geruch eines Poliermittels in meine Nase. Tamburas gab es
in dunklem Ebenholz, rötlichem Rosenholz und in hellerem Birkenholz.
Die halbrunde Form bestand aus einem hohlen Kürbis. Es gab mehrere
Preiskategorien. manche der kostbaren Tamburas waren sogar mit Elfenbein-Einlegearbeiten
geschmückt. Die Saiten waren noch nicht aufgespannt. "In welcher Stimmlage
singen Sie, mein Fräulein?" fragte mich der ältere Verkäufer,
und als ich ihm geantwortet hatte, suchte er sorgfältig ein paar Exemplare
für mich aus. Die Preise waren zu hoch für mich. Die billigste
Tambura kostete über 8000 Rupien, und ich überlegte, ob ich das
anderthalb Meter lange, zart bearbeitete, leichte Instrument gefahrlos
transportieren konnte. Ich redete mit Sanyu darüber. "Eine passende Baumwollhülle
ist im Laden erhältlich, in weiß und in lila", sagte der Verkäufer. "Stoffschutzhüllen
sind gut, um den Staub fernzuhalten", sagte Sanyu, "aber meine jüngste
Schwester muss es im Flugzeug transportieren. Ein versehentlicher Stoß
oder ein Kratzer genügt, dann kann sie die Tambura gleich als Brennholz
benutzen!" Ich lachte ziemlich enttäuscht,
weil ich mich nicht entscheiden konnte. Der ältere Verkäufer
war geschäftstüchtig, aber nicht aufdringlich. Er sagte hilfsbereit: "Es ist schön, dass
unsere Tamburas auch in Europa gefragt sind, aber leider können die
Tamburas nicht fliegen. Dazu fehlen ihnen die Flügel. Für einen
sicheren Transport kann ich ihnen einen Holzsarg empfehlen." "Wie bitte?" fragte ich
ihn schockiert. "Eine Holzkiste, meine
Fräulein. Ich kenne einen guten Schreiner. Wenn Sie möchten,
rede ich mit ihm. Aber schlafen Sie eine Nacht darüber und entscheiden
Sie sich in aller Ruhe. Morgen ist auch ein Tag", sagte er und verabschiedete
sich von uns. Als wir wieder auf die
Straße waren, schubste mich Sanyu mit ihrem Ellbogen und sagte: "Er hat es wohl gemerkt,
dass du keine ernste Absicht hattest, eine Tambura zu kaufen. Deshalb hat
er aufgegeben." "Aufgeschoben bitte sehr",
sagte ich, "nicht aufgegeben. Und die Kunden kommen immer mit mehr oder
weniger Interesse zu ihm. Es war seine Aufgabe, mich von einem Kauf zu
überzeugen und nicht meine." "Du warst und bist und
bleibst ein dreistes Mädchen", sagte Sanyu. Zum Mittagessen fuhren
wir zu Sujata und Avi. Die Wohnung schien sehr leer ohne Gäste und
ohne Rashmi. Wir waren unter uns. Avi zeigte uns die Glückwunschkarten
und die Telegramme von Verwandten und Freunden, die nicht zur Hochzeit
kommen konnten. Sujata war in der Küche und war gerade dabei, Yash
eine Predigt zu halten. Er war nach seinem College kurz nach Hause gekommen
und nur eben auf dem Sprung zu seinem Nachhilfeunterricht. Er aß
in der Küche im Stehen. "Du hast wie Krishna
selbst unter einem Baum gestanden, umringt von Mädchen. Hast du nichts
Besseres zu tun gehabt, als deine Zeit mit Plauderei zu verschwenden? Heute
haben wir es gesehen. Morgen sehen es die Eltern von diesen Mädchen
und übermorgen bekommen wir die Beschwerden", schimpfte Sujata. "Ah, du bist so altmodisch",
sagte Yash unbekümmert, "Wir haben über Elektroakupunktur diskutiert." "Was hat das mit deinem
Studium zu tun?" fragte Sujata umgehend. Yash fühlte sich
von seiner Mutter genervt, und statt zu antworten pfiff er lässig
und versuchte seinen Charme auf Sujata wirken zu lassen. Er kannte ganz
genau die Schwächen seiner Mutter. Er hängte den Adidas-Rucksack
über die Schulter und verschwand aus der Wohnung mit einem Augenzwinkern. "Unverschämtheit!"
rief Sujata hoffnungslos hinter ihm her und atmete heftig. "Lass dem Jungen seine
Freiheit", versuchte Sanyu zu vermitteln, "Das ist dieses Alter." "Du hast auch einen Sohn
in diesem Alter. Er steht aber nicht zwischen den kichernden Mädels
und diskutiert über EA. Wenn man ein Pferd nicht rechtzeitig zügelt,
dann rennt es ziellos. Ist das deine Definition von Freiheit?" fragte Sujata. "Unser Yash ist aber
kein Pferd", sagte ich piepsleise dazwischen. Ich dachte mir, es war
wohl ein weltweites Problem zwischen den Generationen. Wenn die erwachsenen
Kinder vom anderen Geschlecht begehrt werden, bekommen die Eltern ein unsicheres
Gefühl, angehaucht von Eifersucht und Verlustängsten. In Indien
spielt aber auch die Tradition eine große Rolle. Beim Essen versuchte
ich mich mit meiner Schwester darüber zu unterhalten. Aber wie ein
kurzes, heftiges Gewitter war Sujatas Beunruhigung innerhalb von Minuten
verschwunden. Sie machte Pläne und wollte Geschenke für mich
und meinen Ehemann besorgen. "Ich habe es nicht vergessen",
sagte sie, "Du hast mir versprochen, nach der Hochzeit etwas für Euch
auszusuchen." "Was haltet ihr von einem
Einkaufsbummel nach dem Mittagessen?" fragte uns Avi und tastete seine
Hemdtaschen. "Ich dachte, du bist
bankrott nach dieser Hochzeit!" scherzte ich mit ihm. "Noch nicht ganz. Ich
habe noch etwas für dich übrig", sagte er und mischte seinen
Joghurtreis reichlich mit Rahmmilch. "Versuche bloß
nicht, das Thema zu wechseln, Uma!" sagte Sujata, "Was wünschst du
dir?" "Silber", antwortete ich. Also fuhren wir nach
der Mahlzeit zur viert zu dem Stadtteil, wo sich die Juweliergeschäfte
befanden. Avi hatte Probleme, einen Parkplatz für seinen Fiat zu finden. In einer Seitenstraße
parkte er sein Auto unter einer Arekapalme. Ich machte Witze über
die Handgangschaltung, die mit dem Lenkrad verbunden war. "Ich bin ein armer Mann",
sagte er, "Meine Frau kann sich einen Mercedes leisten. Aber ich fahre
gerne mit meinem alten Ruckeltuckel-Wagen." "Ja, da fehlen nur zwei
Ochsen vor, sonst wäre es wirklich eine Karre!" nahm ihn auch Sanyu
auf den Arm. Avi steuerte auf ein
fünfstöckiges Juweliergeschäft zu. Die teure Innenarchitektur
wirkte bedrückend auf mich. Ich versuchte meinen zerknitterten Puñjabidress
glatt zu streichen, als wir durch die Glasdrehtür eintraten. Meine
staubigen Deichmann-Sandalen versanken in den Kaschan-Teppichen. Es funkelte
und blitzte überall von polierten Möbeln und Glasvitrinen und
natürlich von deren sichtbarem Inhalt. Es war dort sehr sauber, fast
steril, und angenehm kühl durch die Klimaanlage. Es war kaum zu glauben,
dass ein paar Meter draußen die Hitze und der Staub ein natürlicher
Bestandteil des Alltags waren. Ich kam mir wie Alice im Wunderland vor,
die plötzlich in eine andere Welt hineingeraten ist. Das Zauberhafte
war der Brunnen in der Mitte der Empfangshalle. Alle fünf Stockwerke
öffneten sich in der Mitte zu einem Atrium hin, und die Wasserstrahlen
des Springbrunnens stiegen bis zur Spiegeldecke der letzten Etage hinauf.
Es war ein faszinierendes Wunderwerk. Eine gut angezogene Frau
kam zu uns und grüßte uns höflich. "Silber?" fragte sie
uns zurück und wies hinauf: "Dritte Etage. Der Aufzugmann wird Ihnen
gerne helfen." Als wir im Glasfahrstuhl
standen, sagte der uniformierte Dienstmann zu mir: "Jetzt drücke ich
einen Knopf und sage einen Spruch. Dann in Null-komma-Nix wird die dritte
Etage herunterkommen. Sie werden es sehen!" Ich lachte ein bisschen,
um ihn nicht zu mißachten, und dachte: Wie oft und zu wie vielen
Menschen muss er diesen Satz jeden Tag sagen! Nicht umsonst hat der Gott
zu Adam gesagt: "Du musst schwer arbeiten, damit du und deine Familie satt
werden. Denn auf deinem Acker werden auch Dornen und Disteln wachsen." Auf dieser Etage wurden
in verschiedenen Abteilungen nur Silberwaren verkauft: Schmuckwaren, Tafelgeräte,
Münzen, Götterfiguren, Accessoires, Nachbildungen von Gegenständen
zum Opfern und sogar ganze Möbel – alles aus Silber! Mit großer
Sorgfalt suchte ich für mich einen Puja-Teller und ein kleines Öllämpchen
aus. Sujata und Sanyu waren beim Einkauf kritisch wie immer. Ich hatte
wegen meines Mangels an Wissen in Edelmetallkunde keine besonderen Ansprüche,
deshalb ließ ich die beiden meine Wahl ruhig mehrmals überdenken
und änderte meine Entscheidung abermals. Nach einer Stunde hatte ich
gar kein Lust mehr. Ich beneidete Avi, der gemütlich mit eine Tasse
Tee auf einer Plüschcouch saß. Er las geduldig die Börsenseiten
in der Tageszeitung. Er kannte seine Weiber beim Einkaufen. "Welches gefällt
dir?" fragte mich Sanyu. Ich blickte auf die 30
Puja-Teller auf der Theke und kratzte mich am Kopf. Sanyu schlug auf meine
Finger und sagte mit ihren Augen: "Nicht in aller Öffentlichkeit!"
Meine Schwestern sahen meine Ratlosigkeit als eine Schwäche an und
nahmen die Entscheidung selbst in die Hand. Nach einer halben Stunde überreichten
sie mir das Geschenk und schickten mich zu einer Frau, die nur für
die Gravur zuständig war. Ich schrieb meinen Vor- und Nachnamen auf
einen Zettel. Vor mir stand eine schicke Frau, und obwohl sie Sari trug,
wusste ich sofort, dass sie nicht in Indien wohnte. Wir musterten uns gegenseitig
unauffällig. Sie hatte so viele Tafelwaren eingekauft, dass es mit
dem Namenschreiben lange dauerte. "Sind das Eierbecher?"
fragte ich sie, von meiner eigenen Spontaneität überrascht, als
ich die sechs fein gearbeiteten Silberbecher auf der Theke sah. "Oh no", sagte sie und
lachte süß wie eine Schauspielerin, "sie sind zum Likörservieren
gedacht." Ich überlegte, wie
die Säuren auf das Silber wirken würden, äußerte aber
meine Vermutung nicht. Ich gab ihr das gleiche oberflächliche Lachen
zurück und wartete geduldig.
Ich hatte Freude daran,
die Frau zu beobachten, die konzentriert die Namen auf die Silberwaren
schrieb. Die Maschine machte ein Geräusch wie ein Bohrer, wenn die
stechende Nadel das Edelmetall berührte. Wenn sie eine Pause machte,
war das Geräusch nur ein leiseres Brummen. Die angestellte Frau war
keine Schönheit, ihre Haare glänzten von Öl, aber sie strahlte
eine beeindruckende innere Ruhe und Gleichmut aus. Ich betrachtete sie,
während sie arbeitete, und dachte, sie hat sich in ihrem ganzen Leben
nie aufgeregt. Ihre sanften Gesichtszüge und die spannungslose Haltung
waren frei von jeglichem Zwang. Ein paar mal blickte sie hoch zu mir und
lächelte mich an, ohne die Lippen zu bewegen. Sie nickte kurz, um
zu bestätigen, dass ich gleich drankäme. Selten begegne ich solchen
Engeln, die auf dieser Erde nicht wirklich zu Hause sind! Ich hatte den
Drang in mir, sie auf irgend eine Art bei mir festzuhalten. Mit ihrer Erlaubnis
fotografierte ich sie ganz schnell. Meine munteren Schwestern
waren im Kaufrausch. Sie wollten in den nächsten Straßen Nähstoffe
anschauen gehen. In der Kreuzung am Ende der Juweliergasse sah ich ein
Spielwarengeschäft und dachte an die Spirographen, die nirgendwo zu
bekommen waren. Gemeinsam marschierten wir in diesen Laden, um uns zu erkundigen.
Und ein Wunder! Zwei Packungen waren tatsächlich da. Ich kaufte sie
sofort und bestellte noch zehn dazu. Die waren morgen zu haben. "Du tust, ob du dich
ohne deine Spirographen in Deutschland nicht mehr blicken lassen kannst",
sagte Sanyu. Ich lächelte sie nur an und war sehr froh, endlich das
gefunden zu haben, was ich so lange gesucht hatte. Sanyu und Sujata gingen
in einen Stoffwarenladen, und ich besuchte mit Avi eine offene Bude, wo
Zuckerrohrsaft angeboten wurde. Der Entsafter wurde mit einem primitiven
Motor betrieben. Auf der blauen Wand war ein komplizierter Kabelsalat zu
sehen, zum Teil geknotet und weitergeleitet zu einer Neonröhre und
einem Wandventilator. Der süßherbe Duft des gepreßten
Zuckerrohrsafts lockte lästige Fliegen in die Bude. Die Bänke
und Stühle waren herrlich schmutzig, aber die Gläser waren fingerabdruckfrei
sauber. Was für Kontraste! Avi musterte zwei afrikanische Studentinnen,
die uns gegenüber saßen. Sie trugen Jeans und Hemden mit schottischem
Karomuster und hatten lockere Rastazöpfe. Wir genossen den Saft mit
etwas Meersalz und gepresster Limette. Avi nutzte die Gelegenheit und fing
wieder an, von seinen alten Träumereien zu reden. "Es könnte ein blühendes
Geschäft werden, wenn du es ernst nehmen würdest", sagte er. Ich schaute das bambusähnliche
Zuckerrohr an, das in einer Wandnische angelehnt war. Er redete weiter: "Du brauchst nur Marktforschung
zu machen. Sag mir, was in Deutschland nachgefragt wird: Textilien, Kunstwerke,
Gewürze oder elektronische Teile? Ich kann alles arrangieren und die
Waren nach Deutschland schicken. Ich erledige den ganzen offiziellen Kram
mit den Exportbehörden. Wir können mit beschränkten Angeboten
anfangen und mit Versuch und Erfahrung weiter expandieren." Eine der afrikanischen
Studentinnen hakte ihr Bein um das Bein ihrer Freundin unter dem Tisch.
Ich hoffte, dass es keiner merkt. Ich schaute in Avis Augen, der neben
mir saß, aber er war nicht abgelenkt. "Wenn du nicht selbständig
verkaufen willst, dann kannst du unsere Ware in verschiedenen Geschäften
anbieten. Die können dann ihre Prozente haben", sagte er. "Es gibt wenig Einzelhandel
in Deutschland, verglichen mit Indien", sage ich ihm. Die Studentin streichelte
die Oberschenkel ihrer Freundin mit ihren langen rotlackierten Fingernägeln. "Das glaube ich nicht",
sagte Avi, "Das mag wohl sein, dass in Europa die Konsumwaren überwiegend
in großen Einkaufszentren und Supermärkten verkauft werden.
Aber denk dran, wenn wir einen Auftrag zum Beispiel von Baumwollhemden
für eine einzige Kette und nur für ein einziges Jahr bekommen
könnten, dann wären wir wenigstens im Geschäft. Ein Anfang
ist immer etwas mehr als die bloßen Pläne." Die langen rotlackierten
Fingernägel rutschten weiter nach oben. "Ah, hör mal auf",
rief ich so laut, dass die anderen Gäste erschraken, "Es gibt tausend
Probleme zwischen Theorie und Praxis. Und ich möchte nicht darin verwickelt
sein." "Warum regst du dich
so auf?" fragte mich Avi ziemlich irritiert. "Es tut mir leid", entschuldigte
ich mich verlegen bei ihm in Englisch. "Sieh mal, ich habe Verständnis
für deine komischen ökonomischen Prinzipien", sagte Avi mit ruhiger
Stimme, "Wir können die allgemeinen Geschäftsbedingungen auf
Papier festlegen, zu deinen Gunsten. Ich übernehme Bankverbindungen,
Einkauf, Versicherung, Lieferung und Spedition, und du kümmerst dich
nur um Zoll und das Verkauf." Die Studentinnen bezahlten
und gingen. Ich atmete erleichtert auf. "Ich habe gar keine Ahnung
davon", sagte ich ihm. Avi bestellte noch einen Saft für mich. "Wenn
du möchtest, kann ich dir ein paar Bücher über Außenhandel
und Betriebswirtschaft besorgen. Es ist nicht so kompliziert, wie du denkst",
sagte er. "Was ist nicht kompliziert?"
fragte uns Sujata, die gerade zusammen mit Sanyu beladen mit Einkaufstüten
die Bude betreten hatte. Die beiden setzen sich zu uns. "Was kann komplizierter
sein als deine Schwester selbst?" fragte Avi seine Frau zurück. Danach
sagte er zu mir: "Überlege es dir
gut: Selbständigkeit für dich und ein Nebengeschäft für
mich. Wir sind eine Familie! Eine bessere Partnerschaft gibt es nicht.
Mit etwas Glück und Geschick können wir beide neue Geldquellen
entdecken." Ich nickte ihm beinahe
zu ernst zu. Zu Hause saß Manma
mit gekreuzten Beinen auf der Couch. Auf dem niedrigen Tisch waren mehrere
Putzmittel verteilt. Sie inspizierte ein Etikett mit ihren schwachen Augen. "Na, hat der Gott Ganesha
sich beruhigt?" fragte ich sie, als ich in die Wohnung hineinspazierte. "Was hast du denn da
alles aus Deutschland mitgebracht?" fragte sie mich, ohne mir eine Antwort
auf meine Frage zu geben. Ich merkte, dass sie die Leichtigkeit in meinem
Ton nicht mochte. "Dieser Chemikalienmüll
ist nicht von mir", sagte ich und hielt ein Bodenreinigungsmittel hoch. "Die Etiketten sind auf
Deutsch geschrieben. Das kann nur von dir sein", sagte Manma. Ich sah die
klein geschriebene Gebrauchsanweisung und den "Made in India"-Stempel. "Es ist Englisch, Manma.
Woher hast du denn den ganzen Kram her?" fragte ich überrascht. "Ich weiß es nicht",
sagte Manma, "woher es kommt. Die Flaschen stehen schon ziemlich lange
im Badezimmer. Und ich dachte, du hättest sie letztes Mal mitgebracht.
Seitdem habe ich mir keine Mühe gegeben, sie voneinander zu unterscheiden
und zu verbrauchen. Sag mir bitte, wozu sie gut sind." "Das machen wir gleich
gemeinsam, wenn ich meine Füße gewaschen habe", sagte ich. Manma neigte leicht dazu,
alltägliche Dinge anderen in die Schuhe zu schieben. Jahrelang hatten
wir ihre Hilfe gebraucht, etwa um unsere Schulhefte einzuhüllen oder
Aufsätze zu korrigieren. Und jetzt brauchte sie meine Hilfe. Sie verdrängte
die Erfahrung, von ihren Töchtern nicht mehr gebraucht zu werden,
und täuschte Hilflosigkeit vor. Ich wollte aber die gleiche fleißige,
ehrgeizige und starke Mutter haben, die sie in ihren früheren Jahren
für uns war. Ich holte ein Vergrößerungsglas vom Arbeitstisch
meines Vaters und ein Englisch-Marathi-Wörterbuch. Geduldig und mühsam
las Manma die englischen Wörter auf den Gebrauchszetteln und übersetzte
sie selbst. Schwierige Wörter, die sie nicht kannte, schaute sie im
Wörterbuch nach. Sie konnte die Putzmittel selbständig voneinander
unterscheiden: Spülmittel und Bügelspray, Silberpolier und Kachelwunder!
Wir kicherten wie zwei gleichaltrige Freundinnen und lachten gemeinsam
über die steife Sprache. Tanmay und Janu kamen mit einem Gesellschaftsspiel
in den Händen herunter und fanden unseren Rollentausch amüsant.
Als Manma mit ihrem Englischunterricht fertig war, stopfte sie alle Plastikflaschen
in einen Beutel und legte sie beiseite. "Für Amits Praxis",
sagte sie, " Seine Putzfrau kann damit besser umgehen als meine." Zu viert spielten wir
ein Spiel namens Vogelhochzeit. Das deutsche Volkslied war tatsächlich
wörtlich übertragen und zu einem Brettspiel umgebaut worden: "Ein Vogel wollte Hochzeit
halten in dem grünen Walde..." Beim Würfeln fragte mich Manma
nach meinem Tagesablauf und ich berichtete. Janu wollte eine konzentriertes
Spiel und lenkte uns immer wieder von unserem Gespräch ab. "Der Pfau mit seinem
stolzen Schwanz, der führt die Braut zum ersten Tanz", schrie sie
laut und rückte ihre Figur auf Feld 39. Tanmay fand das Spiel mädchenhaft
und zwang sich regelrecht, bis zum Ende dabei zu bleiben. Bald gewann er
das Spiel trotzdem. Siegreich rückte er seine Figur auf Feld 50 und
leierte: "Der Hahn der krähte
Gute Nacht, da ward der Lampe ausgemacht." Diese Nacht schlief Tanmay
unten bei mir, und als er die Lampe ausgeschaltet hatte, sagte er mir,
dass er seit zwei Jahren mit seiner Schwester nicht redet. Ich hatte es
nicht gemerkt und war erstaunt.
13.
Je näher der Tag
meiner Rückreise kam, um so weicher und liebevoller wurde meine Mutter
zu mir. Morgens kam sie zu mir und setzte sich auf mein Bett. Ich wachte
von ihrer Handwärme an meiner Schulter auf. Ich schmunzelte und kuschelte
mich bei ihr an. Die körperliche Nähe war wohltuend, und ich
träumte, frühmorgens auf taugebadetem Rasen barfuß zu laufen. "Wo ist Tanmay?", fragte
ich sie, als ich das Bett neben mir leer sah. "Er ist Cricket spielen
gegangen", sagte sie, "kommt aber in eine Stunde wieder." Diesen Vormittag machte
ich mich mit Tanmay auf den Weg in die Stadt. Sanyu und Manma hatten gar
keine Zeit, weil sie beide das Begrüßungs-Abendessen für
das neu verheiratete Paar und unsere Familie zubereiten wollten. Bevor
er zur Arbeit ging, brachte Sanyus Ehemann Lammfleisch und Hühñchen
von der nahe gelegenen muslimischen Fleischerei. "Frisch geschlachtet",
sagte Pradeep stolz, als er Manma die roten Fleischtüten aushändigte. Nach dem Frühstück
fuhren Tanmay und ich in die Altstadt und besuchten den Shanivar-Wada,
'Samstagpalast'. Dieser Palast stammte von Baji Rao, einem Fürsten
aus der Peshava-Dynastie, die seit Anfang des 18. Jahrhunderts leitende
Minister der Marathen waren. Deren Regierungssitz war in Pune. Der Shanivar-Wada
war 1827 abgebrannt, aber das prächtige Eingangstor steht immer noch,
mit den gegen den Angriff von Elefanten durch Eisenstacheln geschützten
Türflügeln. An den Mauern waren Reste von Malereien zu sehen.
Die Bilder waren kaum erkennbar. Sie waren von Industrie, Verkehrsausdünstungen
und Staub verschmutzt. Der Denkmalschutz ist in Pune immer noch kein ernstes
Thema. Historische Gebäude und Gegenstände waren einfach da,
ein Teil des Alltags. Wir liefen die alte Stadtmauer entlang. Sie wurde
von Wanderarbeitern aus Nepal und Tibet für den Wollhandel geschickt
genutzt. Die lang gestreckten Mauern waren an vielen Stellen von Holzgerüsten
gestützt . An diesen Gerüsten hingen selbstgestrickte bunte Pullover,
Wollschals, Mützen und Handschuhe. Die kleinen schlitzäugigen
und gelbhäutigen Händler schrien auf Hindi ihre Waren aus und
lockten Kunden an. Wir flanierten bis zum
Budhwar-Peth, dem 'Mittwochsviertel'. Dort war auch Tanmays College. Er
verabschiedete sich von mir und ging in seine Seminare. "Bis heute Abend", rief
ich ihm hinterher; er war heute morgen nicht sehr redefreudig. Mitten im Stadtgewühl
stand der alte Vishram-Bagh-Palast, ein stolzer Bau der Peshwa-Dynastie.
Dieser grau und orange bemalte Marathen-Palast war gut erhalten. Dort lagern
noch alte Dokumente aus der Peshwazeit in einem Archiv. Ich blickte in
eine Vorhalle hinein, die mit Holzbalken und Säulen gestützt
war. Der Innenhof sah verlockend aus, mit seinem schattigen Garten und
den Springbrunnen. Aber der Eintritt war für Schaulustige verboten.
Ich wusste, dass dieser Palast früher als Sanskritschule und später
dann als Gerichtsgebäude genutzt worden war. Ich lief wie eine neugierige
Fremde durch die Altstadt. Ich wollte eine Verbindung zu dieser Stadt finden,
die ich zwar häufig besucht hatte, in der ich aber nicht aufgewachsen
war. Die Geschichte der Marathen in Pune gehört gewiss auch zu meinem
kulturellen Gedächtnis, aber Mumbai war mir vertrauter. Ich überlegte,
ob ich einen Tag mit meinen alten Freunden in Mumbai verbringen könnte,
aber dann dachte ich an die Handwärme meiner Mutter an diesem Morgen,
und es schien mir unmöglich, sie schon am nächsten Tag zu verlassen.
Von einer Telephonzelle aus rief ich also meine beste Freundin Mañju
in Mumbai an und verabredete mich mit ihr zum Abreiseabend am Flughafen.
Ich fuhr quer durch die Stadt und erledigte meine Einkäufe: wunderschönes
Briefpapier einer bekannten Kunstgalerie, handgearbeitete kleine Geschenke
aus dem Rajasthani-Kunsthandwerks-Kaufhaus, getrocknete 'Rosen von Jericho'
aus einer Gärtnerei und natürlich meine bestellten Spirographen. Auf dem Rückweg
ging ich in ein Reisebüro und kaufte mir eine Busfahrkarte für
übermorgen nach Mumbai. "Wir holen Sie von zu
Hause ab, Madame, und bringen Sie direkt zum Internationalen Flughafen",
war ein Serviceangebot. Ich legte noch 100 Rupien drauf und nahm dieses
Angebot in Anspruch. Bequemer geht es nicht, dachte ich, und gab dem Reisekaufmann
meine Aufenthaltsadresse. Zuhause zeigte ich Manma und Sanyu meine Einkäufe
und die Busfahrkarte in der Küche, wo sie eifrig kochten. "Meine Güte", sagte
Manma ängstlich, "du fliegst am Neumond! Konntest du nicht einen anderen
Tag für die Abreise wählen?" "Ich fliege Freitag Nacht
ab ein Uhr, also es ist dann ein Samstag. Es ist nicht mehr der Neumondtag",
beruhigte ich sie. Ich wollte beim Kochen
mithelfen, aber Sanyu weigerte sich. In der Küche standen schon Manma
und die Großmutter ihrer Schwägerin, die zufällig vorbeigekommen
war. Sie teilte Paneer-Käse in Würfel und wälzte sie zum
Ausbacken in einem Teigmantel. Ihr Kopf wackelte ständig. Sie war
uralt und ihr Gesicht hatte unzählige Falten. Ihr weißer Dutt
wackelte mit, als sie arbeitete. "Sie haben nur noch zwei
Tage das Vergnügen, also erholen Sie sich, meine Liebe, im Hause ihrer
Mutter! Genießen Sie es!" sagte sie zu mir, "Wenn Sie einmal im Hause
ihres Mannes abgeliefert worden sind, dann ist Schluss mit der Freude und
Ruhe. Dann haben Sie das ewige Rad des Kochens und Bedienens in Gang zu
halten." Ich lachte und plauderte
ein wenig mit dieser interessanten Oma, die als Dreizehñjährige
verheiratet worden war und als Vierzehñjährige ihr erstes Kind
geboren hatte. Im Laufe des Gesprächs erwähnte sie, dass sie
eine sehr gute Geschichtenerzählerin sei. Ich freute mich darauf,
und nach dem Mittagessen machten wir es uns in Manmas Schlafzimmer bequem.
Janu kam hüpfend aus der Schule und wollte auch ein Märchen von
'Uralte Oma' hören. Sie fing an: "Sehen Sie, meine Liebe!
Es war einmal ein Reich namens Ujjain. Dort herrschte ein König. Er
hatte eine Frau. Sie hatte zwei Söhne. Als sie starb, heiratete der
König eine andere. Die neue Frau hasste ihre Stiefsöhne. Sie
fasste einen bösen Plan und täuschte eine Augenkrankheit vor.
Sie sagte, ein Schamane habe ihr geraten, sich ein Kummerherz von einem
Fuchs aus dem dichten Wald zu besorgen und es zu essen, um geheilt zu werden.
Die Söhne sollten das Kummerherz für sie aus dem Wald holen." "Kummerherz? Was ist
denn das?" fragte Janu. "Nicht dazwischenreden",
fauchte die Oma. "Also der König schickte seine Söhne in den
Wald. Die beiden überquerten einen Wald, den zweiten Wald, den dritten
Wald, den vierten Wald, den fünften ..." "Sie haben hundert Wälder
überquert, geehrte Oma. Erzählen Sie weiter", bat Janu. Oma sagte: "Warte, nicht
so schnell! Den sechsten Wald, den siebten Wald. Danach begegnete ihnen
ein Schwan. Die Jungen baten ihn um Hilfe, und der Schwan hatte Mitleid
mit ihnen. Er nahm sie beide auf dem Rücken und flog über das
Meer. Er überquerte ein Meer, das zweite Meer, das dritte Meer..." "Alles klar, über
sieben Ozeane ist er geflogen. Was dann?" fragte Janu weiter. "Nicht so ungeduldig,
mein Janulein", sagte die Oma und fuhr fort: "Dann landete er und fing
an, Aloeäste zu sammeln. Er trug einen Ast in seinem Schnabel, danach
einen zweiten Ast, einen dritten Ast, einen..." Janu hatte gar keine
Lust mehr. Sie legte sich in Manmas Bett und drehte ihren Kopf zur Wand. "Der Schwan hat einen
Haufen Aloeäste gesammelt", sagte ich vorsichtig mit leiser Stimme. "Meine Liebe, nicht so
vorauslaufen! In der Zwischenzeit suchten die beiden Jungen kleine bunte
Jaipuritsteine. Sie fanden einen Jaipuritstein, den zweiten Jaipuritstein,
den dritten Jaipuritstein ..." Oma meinte es ernst mit ihrem Märchen. "Mein Gott!" sagte ich,
"wunderbar, ein Berg von bunten Jaipuritsteinen." "Das sage ich doch."
Jetzt war die Uroma voller Eifer. Sie saß sehr aufrecht, und mit
gestikulierenden Händen setzte sie ihre Fabel fort. Ich unterdrückte
meine Enttäuschung und mein Gähnen aus Achtung vor ihrem Alter.
Ich beneidete die selig schlafende Janu und warf einige verstohlene Blicke
zur Wanduhr. Ab und zu kam Sanyu an der halboffenen Zimmertür vorbei
und grinste. Sie kannte wohl Uromas Selbsteinschätzung ihrer rhetorischen
Künste. Ich war böse auf Sanyu, weil sie meine Rettung suchenden
Blicke missachtete. Nach zweieinhalb Stunden war dieses Märchen endlich
bei seinem glücklichen Schluss angekommen. Und ich sagte nur: "DANKE."
und schlief sofort fest ein. "Schöner heißer
Tee mit Ingwer", sang Sanyu und weckte mich nach ein paar Stunden. Ich
erschrak und fragte sie mit kniependen Augen: "Ist sie weg?" "Nervensägerin",
sagte Janu, die neben mir lag. "Ja, sie ist vor einer
halben Stunde heimgegangen", sagte Sanyu und hörte einfach nicht auf
zu lachen. Ich stellte die Teetassen beiseite und verprügelte erst
einmal meine Schwester. "Du hast es wohl gewusst", schimpfte ich mit ihr,
"aber du hast keinen Finger krumm gemacht, mich vorher zu warnen!" Janu unterstützte
mich und schlug ihre Mutter auch. "Die Uroma hätte eine große
Märchenerzählerin werden sollen, aber ich weiss nicht, wo die
Fliege geniest hat!" sagte sie. Sanyu versuchte, sich zu verteidigen, aber
wir kämpften weiter. "Gib mir die drei kostbaren
Stunden meines Lebens zurück, die ich nur deinetwegen verloren habe",
bedrängte ich sie. "Ja, her mit den Stunden!"
wiederholte Janu meine Forderungen. "Du hast hier gar nichts
verloren", sagte Sanyu zu Janu, und danach zu mir: "Du solltest mir eigentlich
dankbar sein, Uma. Ich habe dir eine Chañce geboten, deine Geduld
zu bewähren und Selbstbeherrschung zu üben." Ich war über diesen
umgekehrten Spieß meiner klugen Schwester verblüfft und streckte
die Waffen. In der Dämmerungszeit,
als die ganze Familie zusammentraf, gab es nur dieses eine Thema und viel
Gelächter. Ich war nicht gerade erfreut, aber ich hatte keine Wahl.
Ich lachte wie eine saure Zitrone mit. Das Essen war fertig.
Sanyu und Manma hatten 18 verschiedene aufwändige Gerichte zubereitet,
vegetarisch und nicht vegetarisch. Wir warteten auf Rashmi und Amit. Sie
wollten zwar etwas später, aber sicher kommen. Wir waren alle in fröhlicher
Stimmung. Yash und Tanmay machten Computerspiele. Janu schaute eine syñchronisierte
amerikanische Serie, 'Guck mal, wer da hämmert' im Fernsehen. Sanyu
und Sujata waren in der Küche und legten das festliche Essgeschirr
bereit. Manma zündete Räucherstäbchen vor dem Hausalter
an. Neeta räumte auf, und Nandu mischte Drinks. Mit Avi und Pradeep
reparierte ich eine alte Handorgel. In dem Moment, als ich die laute, hektische
Gemütlichkeit wahrnahm, dachte ich mir: "Das ist das Jetzt!" Wir Schwestern mit unseren
Familien waren mit unserer Mutter zusammen. Wir hatten keine Erbstreiterei
oder ernsthafte Auseinandersetzungen zwischen uns, wie es sie in manchen
Familien gibt. Unser Vater hatte es uns beigebracht, nach jedem kleinen
Zank und großen Zwist einander so bald wie möglich zu vergeben
und zu vergessen. Wir Schwestern waren wie die vier Himmelsrichtungen,
und wir hatten unterschiedliche Schicksalswege. Wir dachten verschieden
und hatten oft Meinungsdifferenzen. Gelegentlich gab Streit und Tränen
zwischen uns, aber wenn wir zusammen waren, waren wir eben zusammen, fest
und lieb. Ein unsichtbarer Engel schwebte über uns, und ich spürte
diesen starken Bund und dachte noch einmal: "Ja, das ist das Jetzt!" Als wir die Handorgel
einigermaßen repariert und geölt hatten, setzten wir sie in
Bewegung. Die Luftkammer des Instruments war verstaubt, aber es ließen
sich Töne herausquetschen. Avi krempelte seine Hemdsärmel hoch
und fing an zu spielen. Er spielte für mich die alten Hindifilm-Hits,
und ich versuchte, sie zu erraten. Ich wunderte mich über mein Gedächtnis.
Seit Jahren hatte ich mit den alten Liedern nichts zu tun gehabt, und doch
waren sie plötzlich da. Sujata und Sanyu sangen aus der Küche
mit, und Avi begleitete uns auf dem Musikinstrument. Er sang auch mit seiner
schönen Bariton-Stimme. Yash und Tanmay hörten zu spielen auf
und schalteten den Computer ab. Sie brachten Stahlteller aus der Küche
und schlugen mit den Fingern den Rhythmus. Wir sangen alle und hatten ein
richtiges Konzert. Janu saß zehn Zentimeter vor der Glotze, um nichts
von ihrer Lieblingsserie zu verpassen und protestierte ab und zu gegen
unseren Lärm. Aber keiner von uns schenkte ihr die geringste Aufmerksamkeit.
Manma klatschte vergnügt auf ihre dezente Art, als wir Marathi-Volkslieder
sangen. Die Jungen wollten Hindi-Pop. Die klassisch gestimmte Handorgel
kam bei den gehetzten Takten nicht richtig mit, aber Avi setzte alle seine
Kunst ein, um die beiden Jungen zu begleiten. Als Amit und Rashmi klingelten,
waren wir alle in voller Stimmung. Manma beeilte sich in der Küche
und machte eine Chapatti-Pfanne auf dem Gasherd heiß. "Noch nicht eintreten",
sagte sie zu dem jungen Paar und warf frische Chilis auf die heiße
Pfanne. Die grün-roten Schoten explodierten und warfen ihre weißen
Körner in die Luft. Es qualmte, und Manma brachte die Pfanne vor die
Wohnungstür, wo Rashmi und Amit geduldig warteten. Manma ließ
die rauchende Pfanne von deren Köpfen bis zu den Füßen
hinab und wieder hinaufkreisen und verbannte mit einigen Sprüchen
die bösen Geister. Als Rashmis Augen tränten und Amit heftig
hustete, war sie zufrieden. Dann konnten wir die beiden endlich begrüßen.
Es war eine Freude! Rashmi beugte sich höflich und berührte unsere
Fuße dreimal, um den Segen zu empfangen. Ich und Sujata tauschten
unsere Blicke. "Dreimal?" fragten wir uns mit den Augen. "Muss ein Brauch in der
Familie Apte sein", meinte Sujata wortlos. Ich lachte und zuckte mit meinen
Schultern. Wir berühren die Füße nur einmal, während
wir den Segen empfangen. Gemeinsam schauten wir
uns das Hochzeits-Fotoalbum an. Ich sah nur verschwommene Bilder von Menschen
und Farben auf dem Glanzpapier. Mühsam versuchte ich meine heimlichen
Freudentränen aus den Augen zu wischen. Rashmi bewegte sich in Sari
ganz anders als sonst und spielte unbewusst mit ihrer umgekehrt getragenen
Hochzeits-Kette. Wie sonst eher bei verheirateten Frauen in Nordindien
üblich hatte sie auf ihrer Scheitelmitte rotes Pulver aufgetragen.
Ihre Wangen hatten einen rosa Schimmer, den ich früher nie bei ihr
gesehen hatte. Sie lachte und redete so viel, dass Amit kaum zu Wort kam.
Ich fand ihre Redeweise auch verändert und wusste nicht so Recht,
wie ich mich mit meiner Nichte, die mir so vertraut und gleichzeitig so
fremd geworden war, unterhalten sollte. Beim Essen teilte Sujata
uns eine Neuigkeit mit. "Ich werde wieder arbeiten",
sagte sie, "Ich habe eine Stelle als Bankdirektorin in einer kleinen privaten
Bank angeboten bekommen. Ich habe zugesagt und fange schon nächsten
Monat dort zu arbeiten an." Wir jubelten und stießen
mit unseren Gläsern auf ihr Wohl an. Manma aber machte ein besorgtes
Gesicht. Sujata hatte mehrere Jahre in einer staatlichen Bank ihre Dienste
geleistet. Sie hatte deren Filialen im nördlichen Stadtgebiet von
Pune verwaltet. Ihr bankkaufmännisches Talent und ihre Erfahrungen
waren geschätzt. Vor fast anderthalb Jahren musste sie ihre Karriere
wegen Tuberkulose abbrechen. Es war ihr nicht leicht gefallen, gegen diese
Krankheit und die dadurch bedingte Arbeitsunfähigkeit zu kämpfen.
Nun blühte sie auf und erzählte uns von ihrer neuen Arbeit. "Es ist ein Kompromiss,
wenig Verantwortung und viel Fahrerei bis Pimpri, wo diese neugegründete
Bank sich etabliert hat. Ich fühle mich gesundheitlich fit, und was
soll ich auch sonst mit der Zeitlücke anfange, die Rashmis Weggang
hier gerissen hat?" "Du redest wie unsere
Mutter", sagte Neeta. So verlief der Abend
im familiären Gespräch, und ab zehn Uhr zog ich mich unauffällig
zurück. Ich ließ die anderen weiter beisammen sein. Übermorgen
würde ich nicht mehr hier sein, dachte ich mir, und wie Uromas unendliche
Geschichte sollte die Illusion weiterlaufen. Es wird sowieso keiner merken,
ob die eine oder andere Figur fehlt.
14.
"Ich brauche unbedingt
einen Wecker", hörte ich Manma sagen, als ich morgens aufwachte. "Wenn
ich spät ins Bett gehe, bekomme ich die morgendlichen Rituale nicht
auf die Reihe. Wann soll ich spazierengehen und Puja machen und Frühstück
kochen und die Wäsche erledigen? Bai kommt gleich, und heute wird
der Strom abgestellt. Und Wasser ist sowieso nur noch bis elf Uhr da." "Noch ein Und?" fragte
ich sie aus meinem Bett. "Und du solltest aufstehen.
Man soll nicht weiter essen, wenn man satt ist und man soll nicht unnötig
im Bett liegen, wenn man genug geschlafen hat", sagte sie. "Gibt es keinen Bhagavad-Gita-Vers
darüber?" fragte ich sie lachend. "Worüber?" fragte
Manma zurück. "Na, über sich satt
Essen und über genug Schlafen", antwortete ich. "Krischna hatte besseres
zu lehren als Essen und Schlafen. Und jetzt Schluss mit dem Unsinn. Ich
brauche dein Nachthemd, um die Waschmaschine vollzumachen", bat mich Manma
und machte die Vorhänge in meinem Zimmer auf. "Du bist heute Morgen
humorlos", klagte ich und nahm mein Handtuch von der Wäscheleine. Als ich ins Bad ging,
hörte ich Manma sagen: "Meinst du?" Ich öffnete die
Badezimmertür einen Spalt weit und machte ein neugieriges Gesicht.
"Ist was passiert?" fragte ich sie. "Ja, deine Worte in Teufels
Ohr! Gerade ist der Strom ausgefallen. Jetzt können wir bis heute
Abend keine Wäsche mehr machen. Das ist die Strafe dafür, dass
wir uns verschlafen haben." Manma hörte einfach nicht auf. Ich machte
schnell die Badezimmertür zu und ließ das Wasser laut brausen.
Ich sang auch ein albernes Dusch- Lied: "Warum reibst du nur,
o Mensch, mala mala nahai, deinen Körper mit
Wasser und Seife? Kratz lieber den Schmutz
ab, o Mensch, mala mala nahai, von deiner Seele mit
Jammer und Beichte." Nach ein paar Stunden
ging ich in das Büro von Swiss Air und ließ meinen Flug bestätigen.
Ich wartete auf der Brücke über die Mula-Mutha, wo wir uns verabredet
hatten, auf Sanyu. Mitten durch den Verkehr drängelte sich ein Pulk
der Shivsena-Partei mit ihren Anti-Helm-Gesetz-Parolen. Eine Handvoll bewaffneter
Polizisten begleitete diese Demo. Ich schloss mich einem schaulustigen
Zuschauerring an, wo ein Straßentheater von Affen stattfand. Ein
dünnes Mädchen in geblümtem Kleid schlug eine kleine Trommel
dazu, und ein Junge hielt einen Plastikring hoch. Drei Affen sprangen durch
den Ring hin und her. Zwei trugen Shorts und T-Shirts wie Jungen, und die
dritte eine kurze Bluse und einen langen Rock. Sie hatte sogar ihr Baby
auf dem Bauch kleben. Nach dieser Ringnummer balañcierten die drei
Affen auf einem Seil, das provisorisch zwischen zwei hohen Latten festgebunden
war. Ein Affe spielte den Clown und fiel immer wieder herunter. Dann äffte
er das perfekte Akrobatenpaar nach, raffte sich auf und versuchte noch
einmal zu balañcieren. Alle Zuschauer lachten und applaudierten. Ein Zigeuner hockte in
einer Ecke mit seinem jämmerlichen Hab und Gut und rauchte Bidis.
Er schaute seinen Kindern stolz zu und räumte danach die Spielgeräte
für die nächste Vorstellung auf. Seine Frau ging durch die Menschenmenge
und sammelte die Geldmünzen ein. Sie hatte ein winziges nacktes Kind
in ihren Armen, das an ihrer Brust nuckelte. Ich sah die Wöchnerin
an und gab ihr einen Geldschein. Die Zigeunerin schien von meiner Großzügigkeit
sehr überrascht zu sein. "Gott segne Sie", sagt sie und steckte den
Schein in ihre Bluse. Als sie weiter ging, zerstreuten sich die Schaulustigen,
und ich merkte, wie jemand auf meine Schulter klopfte. "Wo warst du denn gestern
Abend?" fragte Sanyu mich, "Wie eine Katze bist du heimlich davongeschlichen." "Ich war müde",
entschuldigte ich mich und versuchte, ihr meine Bedenken über 'Rashmi
als Fremde' zu erklären. "Sie muss zuerst selbst
in ihre neue Rolle hineinwachsen. Wir sollten uns auch daran gewöhnen.
Falls du dich gestern von Rashmi vernachlässigt gefühlt hast,
dann liegt es bestimmt nicht daran, dass sie dich nicht mehr mag", sagte
Sanyu. "Ja, ich bin egoistisch",
gab ich zu, "aber ich fliege doch bald fort, und wer weiß, wann ich
sie wieder sehe." "Das ist dein Pech",
sagte Sanyu knapp und überraschte mich mit ihrem harschen Ton. "Geht es dir gut?" fragte
ich sie. "Nein", antwortete sie
und öffnete die Tür zu ihrem Friseur. Sie hatte dort für
mich Henna zum Haarefärben bestellt. Henna ist eine natürliche
Glanzspülung für rauhes Haar. Sanyu nahm auch verschiedene gemahlene
Kräuter mit, deren Namen mir fremd waren. Weiß der Himmel woher,
immer wusste meine Schwester Bescheid über die einzelnen Eigenschaften
und Wirkungen der kosmetischen Kräuter. Zusammen fuhren wir zu
der Bank, in der Nandu arbeitete. Er half mir bei verschiedenen Finanzanliegen.
Ein Teil meines Erbschaftsguthabens vermachte ich ihm, weil er als Bankdirektor
2 % mehr Zinsen bekam. Er erklärte mir die komplizierten Gesetze für
'Non-residential'-Inder, die noch ein Konto in Indien führen. Die
Fachbegriffe gingen mir über den Kopf, und andauernd schaute ich zu
Sanyu hinüber, die geduldig auf einer Wartebank saß. Nandu sagte,
wegen des Stromausfalls seien die alle Rechner und Drucker lahm gelegt,
und deswegen könne er keines von meinen Sparbüchern auffüllen.
Ich bedankte mich herzlich bei ihm und erinnerte ihn an die Einladung:
Ich hatte meine ganze Familie in ein südindisches Gartenrestaurant
zum Abendessen eingeladen. "Ja", sagte Nandu, "wir
treffen uns direkt im Restaurant gegen neun Uhr." "Alle außer Rashmi
und Amit kommen. Sie haben etwas besseres vor als bei meinem Abschiedsessen
dabei zu sein. Warum?" jammerte ich wieder vor meinem Schwager. "Prioritäten, nehme
ich an", sagte Nandu und lachte über mein verärgertes Gesicht. Ich hatte ein unwohles
Gefühl, als ich wieder mit Sanyu auf der Straße war. Sie war
sehr schweigsam und redete nicht wie immer mit mir. "Hast du deine Tage?",
fragte ich sie besorgt. "Nein", war die knappe
Antwort. "Weißt du was",
fragte ich sie, "wir gönnen uns jetzt ein Eis. Was hältst du
davon?" Ich stoppte einen vorbeikommenden
Eisverkäufer. Sein Wagen war voll von bunten Flaschen, die mit verschiedenen
Obstsäften gefüllt waren. Große Eisblöcke waren in
Jute eingewickelt und lagen gut geschützt in einer Kiste mit Sägemehl.
Sanyu wollte Mango, und ich wollte Erdbeereis. Der Verkäufer nahm
ein Stück Eis und zerkleinerte es in einem nassen Tuch. Mit geschickten
Händen formte er zwei Eisbälle und steckte jeden auf einen Stock.
Er goss ein paar Spritzer Saft auf die Eisbälle und händigte
sie uns aus. Wir sogen die süße Kälte in uns hinein und
machten das Wettrennen zwischen Schmelzen und Genießen. Der rote
Saft lief mir bis zum Ellbogen herunter, aber dieses Mal ermahnte mich
meine Schwester nicht wie sonst. Sie gab mir nur ihr Taschentuch, um die
klebrigen Finger abzuwischen. "Kennst du ein gutes
Uhrengeschäft?" fragte ich sie mit heiterer Stimme, "Ich möchte
gerne ein Geschenk für Manma kaufen." Das Einkaufen und Bummeln waren
Sanyus Lieblingsbeschäftigungen. Es würde helfen, ihre gedämpfte
Stimmung etwas zu verbessern, dachte ich mir und kaute an dem Stock. Der kleine langgestreckte
Uhrladen hatte eine durchgehende Theke vom Eingang bis zur Hinterwand.
Der Laden war so eng, dass nur ein Kunde zwischen Theke und Seitenwand
stehen konnte. Auf der Rückwand hinter der Theke war ein großes
Wandplakat aufgeklebt, das eine Armbanduhr zeigte. Statt des Zifferblattes
war dort ein Globus zu sehen, und wenn ich ein paar Schritte nach rechts
oder links ging, veränderte dieser Globus sich in eine Münze.
Zahlreiche digitale und mechanische Armbänder, Ketten- und Ringuhren
waren in der Glastheke zu sehen. Eine Wand hinter unserem Rücken war
von oben bis unten voll von Wanduhren. Ich entdeckte dort die Nachahmung
einer Kuckucksuhr im typischen Schwarzwaldgehäuse. "Sie ist schön",
sagte ich zu dem Verkäufer, der mich bediente. "Ja, Madame. Das ist
das neueste Modell. Ich zeige es Ihnen gleich", sagte er und sprang über
die Theke. Eifrig zog er die Ketten herunter und drehte den großen
Zeiger kurz vor die Drei. Danach sagte er voll Stolz: "Bald kommt der Hahn
herausgesprungen und singt genau drei Mal. Das werden Sie sehen". Ich lachte
laut und das fand er witzig. Ungeduldig bekräftigte er: "Ehrlich. Glauben Sie
mir." "Kuckuck Kuckuck Kuckuck.",
sang die Uhr. "Na, was habe ich gesagt.
In Amerika haben die alle solche Uhren. Es ist Mode. Haben Sie Interesse?"
fragte er mich. "Nein danke", sagte ich
und unterdrückte mühsam mein Lachen, "Ich möchte eigentlich
einen Wecker mit fluoreszierendem Zifferblatt, und zum Selber-Aufziehen,
und bitte ohne Kikeriki." "Wie Sie wünschen",
sagte er ziemlich enttäuscht und zeigte mir ein paar Exemplare. Ich
wählte eines und prüfte die verschiedenen Funktionen. Ich ließ
den Wecker in ein rosa Geschenkpapier einpacken und bezahlte. Mittags nach dem Essen
überreichte ich Manma mein Geschenk. Janus scharfe Ohren hörten
das Ticken und sie rief: "Pass auf Manma, eine
Bombe!" Manma schaute das Paket
nachdenklich an. Im selben Moment klingelte der Wecker im Paket und Manma
ließ mein Geschenk tatsächlich auf dem Boden fallen. Ich hatte
im Laden aus Versehen den Wecker auf die jetzige Uhrzeit eingestellt, und
der musste ausgerechnet jetzt klingeln! Wir lachten alle, und nach dem
ersten Schreck freute sich Manma über ihren neuen Wecker. "Heute ist auch in Delhi
eine Bombe explodiert", informierte mich Tanmay, "Die Pakis haben in unserem
Parlament wild herumgeschossen!" "Wie konnten sie nur?
Scheiß Pakis!" ließ Janu ihren Frust heraus. "Na na, pass auf, mein
Mädchen, was du sagst!" ermahnte Manma sie, "Es waren Terroristen
und nicht die Pakistanis. Ich habe vorhin die Nachrichten gehört." "Aber die Pakis unterstützen
sie", sagte Tanmay. Janu stand stramm und
spulte das auswendig gelernte nationale Versprechen herunter, das sie in
ihrer Schule jeden Tag zusammen mit den anderen Schüler aufsagen musste: "Indien ist mein Heimat.
Alle Inder sind mein Brüder und Schwestern. Ich liebe mein Land und
ich bin stolz auf seine reichhaltige und mannigfaltige Erbschaft. Ich werde
immer danach streben, seiner würdig zu sein. Ich werde meinen Eltern,
Lehrern und allen älteren Menschen Respekt zeigen und jedermann höflich
behandeln. Meinem Land und meinen Leuten verspreche ich meine Hingabe.
In ihrem Wohlergehen und Erfolg liegt allein mein Glück. Lang lebe
Indien!" Tanmay klatschte dreimal
langsam und rief : "Bravo!" "Du bist eine feine Patriotin,
kleine Janu", sagte ich, "aber ein Papagei bist du auch." Wir schalteten das Fernsehen
an und schauten die aktuellen Nachrichten. Sujata, Neeta und Avi kamen
zu Besuch. Sanyu kam auch runter, und wir redeten über diesen Angriff.
Aufgeregt diskutierten ich und Avi über die Sicherheit unserer Nation,
über die Grenzpolitik und einen nicht ganz unwahrscheinlichen Atomkrieg.
Neeta packte meine Sachen. Sanyu mischte Henna mit gemahlenen Kräutern.
Manma und Sujata nippten an ihrem Tee. Die Kinder waren fort, und nach
einer Weile fragte Avi Sanyu: "Dein Ehemann hat uns
heute morgen angerufen. Er sagte, dass du langsam die Kontrolle über
dich verlierst. Was war denn da los bei euch gestern Nacht? Habt ihr euch
wieder gestritten?" "Ja", sagte Sanyu. "Ich weiß nicht,
was du hast", sagte Neeta, "Dir geht es gut, du hast ein sorgenfreies Leben
und zwei aufgeweckte Kinder." "Ihr wisst nicht, wie
er ist. Er ist ein Wolf im Schafspelz!" sagte Sanyu und siebte Henna. "Wie redest du denn über
deinen Ehemann?" mischte sich Manma ein, "Er ist derjenige, der den ganzen
Tag in der heißen Sonne unterwegs ist, arbeitet wie ein Pferd, um
seine Familie zu unterstützen, und deine Unzufriedenheit ist der Dank
dafür." "Ich schufte auch wie
ein Pferd", eskalierte Sanyu, "Bekomme ich jemals Dank dafür? Ich
kann mehr, als nur den Haushalt zu machen und die Kinder zu erziehen. Ich
habe nur gesagt, dass ich arbeiten gehen möchte. Das war es, was ihn
so aufgebracht hat. Sujata darf arbeiten. Neeta spielt kleine Nebenrollen
in irgendwelchen Filmen, warum darf ich dann bloß die Ehefrau spielen?" "Du, dritte Schwester,
ich habe seit Monaten keinen neuen Auftrag. Ich bin jetzt auch zu Hause",
versuchte Neeta sie zu beruhigen. "Es geht ja nicht darum.
Er hat Minderwertigkeitsgefühle, weil ich mehr studiert habe als er.
Und er hat Angst, dass ich mehr leisten kann als er. Er will die Oberhand
in der Familie behalten. Nur er hat das Sagen, wo ich lang gehen soll und
wo nicht. Meine Entscheidungen und Wünsche sind ihm egal. Es ist eine
Art von Unterdrückung, und ich weiß nicht, wie lange ich das
aushalten kann.", sagte Sanyu verzweifelt. "Bitte beherrsche dich
und übertreibe es nicht", sagte Avi, "Dein Mann ist konservativ. Das
wusstest du von Anfang an. Er hat dir alles geschenkt, wovon eine Frau
nur träumen kann. Er will, dass du für ihn und seine Familie
und Kinder immer da bist. Es ist eine Ehre, dass er dich auf Händen
trägt und dich nicht irgendwo arbeiten zu gehen zwingt, um den Familienunterhalt
mitzuverdienen." "Seit Jahren biete ich
ihm an, in seiner Druckerei mitzuarbeiten. Ich könnte die Buchhaltung
machen oder gelegentlich bei der Steuererklärung mithelfen, aber nein,
da ist kein Platz für Frauen. Solche Arbeiten erledigen Angestellte,
und die Frau des Chefs hat dort nichts zu suchen. Er hat eine komische
Rangordnung in seinem Kopf, und ich passe nur ins Haus. Das gefällt
mir nicht", sagte Sanyu. Ich hatte Angst vor dem
Zorn meiner Schwester. Sie hatte früher nie mit mir über diese
Probleme gesprochen. Sie redete jetzt aus dem Bauch heraus und vertraute
uns ihre Zweifel an. "Nur an das, was dir
gefällt, zu denken, ist einseitig", sagte wieder Neeta, "und es hat
einen Hauch von Selbstsucht. Du hast genug zu tun und zahlreiche Pflichten
zu erledigen. Wenn du den ganzen Tag arbeiten gehst, wie willst du dann
alles schaffen? Dein Ehemann und deine Kinder sind nicht daran gewöhnt,
dass du weg bist. Und wenn du mit deinem Hitzkopf nun einen unüberlegten
Schritt machst, dann bricht das gesamte alltägliche Muster in Stücke." "Du solltest zufrieden
und dankbar sein für alles, was du hast. Das ganze Menschenglück
besteht darin, dass man zufrieden ist. Eure Streitereien sind kein gutes
Vorbild für eure Kinder", sagte Manma und rezitierte:
"Wer noch, wenn
er im Körper weilt, die Aufregung besiegen
kann, Die ihm aus Gier
und Zorn entsteht, der ist ein wahrhaft
froher Mann. Wer ganz erfüllt
von Glück und Licht schon hier in diesem
Lebenslauf In Wirklichkeit
zum Brahman wird, der löst sich
in das Brahman auf."
"Warum versteht ihr Sanyu
nicht?" fragte Sujata und warf Manma einen Blick des Unverständnisses
zu, "Sie verlangt nach Selbstachtung. Und ich kann das sehr gut nachvollziehen." "Ich auch", wagte ich
mich einzumischen, "Sanyu, warum engagierst du dich nicht in einer sozialen
Initiative und arbeitest dort für ein paar Stunden die Woche?" "Er verbietet mir das.
Sozialarbeit ist etwas für Witwen, Ledige und Nonnen und nicht für
angesehene verheirateten Damen", antwortete Sanyu höhnisch. Neeta
schloss die zuende gepackten Koffer und sagte zu Sanyu: "Dein Mann ist eigensinnig
und du kannst ihn nicht ändern. Also füge dich und mach das Beste
daraus. Das schaffst du auch mit links. Alle mögen und loben dich
für deinen Fleiß und deine Freundlichkeit." "Ja, wie du uns ständig
bewirtest und verwöhnst mit deinen hervorragenden Kochkünsten",
sagte Avi und trank seinen Tee zu Ende. Es war kein Trost für
die aufgebrachte Sanyu. Jeder von uns würfelte seine eigenen Zahlen
und ließ meiner armen Schwester keine eigene Wahl. Alle erwarteten
ein bestimmtes Bild von ihr, und von einer Änderung war nicht die
Rede. Manma wollte eine zufriedene Tochter, Avi wollte eine gastfreundliche
Schwägerin, Neeta wollte eine kompromissfähige Schwester, Sujata
wollte Sanyu als emanzipierte Frau, die Kinder wollten eine fürsorgliche
Mutter und ihr Mann wollte eine ideale Hausfrau. Wo war dann sie selbst? Das erste Mal sah ich
meine Schwester als eine intelligente, aber mutlose Frau, sie hatte starkes
Verantwortungsbewusstsein, aber nicht genug Durchsetzungskraft. Sie liebte
ihr bequemes Leben, und deshalb war ich unsicher, ob sie wirklich meinte,
was sie wollte. Ihr Wunsch, berufstätig zu sein, war nur ein Vorwand,
aus allen Rollenzwängen auszubrechen. Ihre Aufregung zeigte bloß,
dass sie in Ruhe gelassen werden wollte. Die Hochzeit, mein Besuch, Manmas
Aufgaben und nicht zuletzt ihre eigene Familie mit ihren Ansprüchen
waren ihr in den letzten Tagen über den Kopf gewachsen. Ich fand diesen
Nachmittag unangenehm, weil er keine konkrete Lösung hervorbrachte.
Entweder musste Sanyu sich selbst helfen, oder wir konnten ihr helfen,
aber immerhin waren wir gemeinsam da und hörten ihr einmal zu. Das
war gewiss trostspendend für sie. Sie war wieder ruhig
und gefasst, als wir gemeinsam in dem südindischen Restaurant zu Abend
aßen. Die Stimmung war ein wenig gedrückt, wir redeten von Politik
und Wetter. Und falls es in Indien eine Queen gegeben hätte, hätten
wir bestimmt auch über sie geredet. Spät Abends nahm
mich Yash auf eine Fahrradtour mit. Er fuhr und ich saß auf dem Gepäckträger.
Die breit angelegten Straßen des modernen Wohnviertels waren fast
leer. Er fuhr ganz schnell und bremste immer wieder kurz vor den Verkehrsberuhigungsschwellen,
so dass ich fast von meinem Sattel fiel. Es brachte uns beide zum Lachen.
Als er mich nach Hause brachte, sagte er zu mir: "Uma, du bist der gütigste
Mensch, den ich je gesehen habe, und in dir steckt die Herrlichkeit aller
Götter." "Wieviel?" fragte ich
ihn. "50 Paisa. Ich muss die
Reifen auffüllen." "Du willst deine Lungen
mit Rauch auffüllen! Ich weiß, dass du rauchst, deshalb brauchst
du Geld für eine Zigarette. Also hör mal auf, mir was vorzumachen",
sagte ich und gab ihm die Münze. "Im Grunde meines Herzens
bin ich ein guter Junge", sagte Yash mit affektierter Bescheidenheit und
umarmte mich fest zum Abschied. "Und ich bin leicht wie
ein Spatz", rief ich ihm hinterher, aber er war schon verschwunden. Manma war schon im Bett.
Ich tappte durch die Dunkelheit und knipste den Lichtschalter in meinem
Zimmer an. Eine Katze sprang aus meinem Bett und verschwand durch den Balkon.
In meiner Abwesenheit hatte sie es sich dort bequem gemacht. Ich spürte
die Wärme auf der Decke, wo sie gesessen hatte, und bereitete mich
innerlich auf die Dezemberkälte in Deutschland vor.
15.
Mit Schneckentempo quälte
sich der Bus durch den dichten Verkehr zur Autobahn. Mehrere Fahrgäste,
die mit Nachtflügen ihre Reiseziele in die Welt hinaus erreichen wollten,
wurden zum Flughafen in Mumbai gebracht. Neben mir saß eine Geschäftsfrau,
die nach Südafrika wollte und ständig auf ihr Handy einredete.
Sie nervte mich mit ihren andauernden Monologen zwischen den Telefonaten,
dass sie so beschäftigt sei und keine Zeit hätte. Ich war nicht so beschäftigt
und hatte viel Zeit im Bus. Ich schaute mir durch die verdunkelten Fenster
die Stadt an: Geschäfte, Straßenverkäufer, Fahrzeuge, Menschenmengen,
und alles um mich herum wirkte betriebsam und war voller Eile und Hektik. "Es wird viereinhalb
Stunden dauern, bis wir zum Flughafen kommen. Und wenn wir noch weiter
in dem Stadtstau stecken bleiben, dann kann ich meinen Flug nach Johannesburg
vergessen", sagte die Frau und tippte etwas auf ihren Laptop. Meine Finger rochen immer
noch nach dem Mittagessen. Manma hatte eigenhändig meine Lieblingsspeise
gekocht. Während ich aß, witzelte sie: "Ein Löffelchen
für deinen Vater und ein Löffelchen für deine Oma, und der
nächste ist für deine Manma." Es fiel ihr schwer, sich
von mir zu verabschieden. Den ganzen Vormittag hatte ich mit ihr verbracht,
indem wir zusammen an einem Kinderbuch arbeiteten, das ich gerade übersetzte.
Sie korrigierte und machte hier und dort Verbesserungsvorschläge.
Tanmay und Janu nahmen meinen Segen, bevor sie in die Schule gingen. "Mach
weiter Bilder, wenn du redest", sagte ich Janu, und Tanmay empfahl ich,
sich mit seiner Schwester zu versöhnen. "Ist das nicht eine Unverschämtheit?"
fragte die Geschäftsfrau, ohne auf mein Reaktion zu warten, "Wir bezahlen
so viel Geld für die Fahrkarte, und die Klimaanlage im Bus ist kaputt.
Soll das der Vier-Sterne-Service sein? Ich werde mich schriftlich bei diesem
Reiseunternehmer beschweren. Darauf können sie Gift nehmen!" Ich lehnte mich in meinen
Sitz zurück und machte die Augen zu. Ich sah die Bewegung von den
Saris meine Schwestern vor mir und hörte ihre Armreifen rasseln. Sie
waren gekommen und hatten die Süßigkeiten mitgebracht. "Wie soll ich denn das
alles mitnehmen?" fragte ich sie, "Ich habe keinen Platz in dem Koffer." "Abwarten", sagte Neeta
und leerte meinen Rucksack, "Ich bin Expertin im Einpacken." Sie nutzte
jeden Zentimeter, stopfte die Sachen hinein und packte meinen Rucksack
neu. "Ich nehme nur soviel
mit, wie ich allein tragen kann", warnte ich sie. "Sei nicht deutsch!"
sagte Neeta. "Liebe ist keine Last,
und wie du siehst beansprucht sie auch nicht soviel Platz", sagte Manma. "Ich werde jeden Tag
an euch denken", sagte ich. "Wir haben uns so sehr
gefreut, dass du bei Rashmis Hochzeit dabeisein konntest", sagte Sujata. "Es war auch eine wunderschöne
Hochzeit", sagte ich und schaute die duftenden Rosen an, die Dorothee und
Sabrina Manma geschenkt hatten. Sie waren immer noch frisch. Sanyu hatte
die brüchige Vase mit Kerzenwachs zugeklebt. "Sehen Sie, das ist Indien",
sagte die Geschäftsfrau, "Nirgendwo auf dieser Welt kann man sehen,
wie sich die Kühe auf der Autobahn herumtreiben, nur hier. Ist das
nicht ulkig?" Ich lächelte sie
an und schloss die Augen wieder. "Ich habe gestern unnötig
Theater gemacht, und das alles kurz vor deiner Abreise! Mach dir keine
Sorgen um mich", sagte Sanyu. "Du brauchst dich nicht
bei mir zu entschuldigen, dritte Schwester. Ich glaube, du hattest Recht",
sagte ich lieb und sah, wie die Freude sich langsam auf ihrem Gesicht verbreitete.
Rashmi rief noch kurz an und wünschte mir Gute Reise. Sie bat mich,
zwei von meinen T-Shirts für sie dazulassen, weil sie sie für
den Fitness-Club brauchen konnte. Also holte Neeta wieder ein paar Sachen
aus meinem Koffer heraus und packte ihn noch einmal. Nandu kam in der Mittagspause
zu uns und schenkte mir kleine Werbegeschenke von seiner Bank. "Union Bank
of India: Gute Leute – Gute Bank" stand als Schlagwort auf den Kulis und
dem Adressenbuch. Pradeep und Avi riefen
mich von ihrem Arbeitsplatz aus an und sagten Bon Voyage. Avi hatte nicht
vergessen, mich noch einmal an unsere Business-Pläne zu erinnern. Als der Bus vor der Haustür
ankam, war ich noch nicht ganz fertig. "Du hast noch deine Zahnbürste
im Badezimmer liegen lassen," "Oje!" "Und kann ich deine verfärbten
Socken zum Polieren benutzen oder soll ich sie lieber wegschmeißen?" "Wie du willst." "Hast du deinen Pass
und dein Flugticket mit?" "Ja." "Hast du deinen Schmuck
sicher verstaut?" "Nein, die Dose liegt
immer noch in Manmas Safe." "O Gottogott!" "Sag dem Fahrer, dass
er mit dem Hupen aufhören soll. Sie kommt gleich runter." "Gib uns Bescheid, wenn
du angekommen bist", sagte Sujata und gab mir den Abschieds-Joghurt auf
die rechte Handfläche. Ich schlürfte ihn auf und wischte meine
Hand an meinem Haar ab, wie es Brauch war. Ich bückte mich und berührte
am Schluss die Füße meiner Mutter. Sie segnete und umarmte mich. "Hören Sie, wachen
Sie auf! Der Bus hält nur 20 Minuten hier in Lonawala. Möchten
Sie sich nicht erfrischen und etwas essen?" hörte ich den Beifahrer. "Ja, danke", sagte ich. Es war fast dunkel, als
wir durch Neu-Mumbai in die Metropole hineinfuhren. Mumbai, die sich stolz
'Urbs prima in Indis' nennt, zeigte ihre glitzernden und versteckten Seiten.
Es roch nach Meer, und es war wesentlich wärmer als in Pune. Hochhäuser,
Kabelmasten und große Kinoplakate reckten sich in den Himmel. Der
Verkehr lief langsam durch die dichte Menschenmenge im Slumviertel Dharavi.
Straßenverkäufer, behinderte Bettler, nackte Kinder, grell geschminkte
Prostituierte, Hunde und Katzen drängten sich auf hell beleuchteten,
schmutzigen Gassen. Hinter Ghatkopar verwandelte sich diese hässliche
Stadtenge zu einer fast menschenleeren, breiteren Straße mit Bäumen
und Blumenkästchen in Richtung Flughafen. Als ich einsam mit meinem
Gepäck aus dem Bus herabstieg, sah ich meine Freundin Mañju
mit ihrem Ehemann auf mich warten. Es war eine Freude! Mañjus Mann lud
mich in ein feines chinesisches Restaurant zum Abendessen ein. Gedämpfte
Lichter, Klimaanlage, Kellner im Anzug und Wein in Kristallgläsern!
Mañju und ich saßen auf einem gemütlichen Sofa und hielten
die ganze Zeit unsere Hände. Wir hatten einander so viel zu erzählen!
Meine Aufregung schlug auf meinen Appetit. Ich ließ meinen 'Starter',
nämlich die Vorspeise, unberührt zurückgehen. Mañju
und ich dachten gerne an unsere Studentenzeit zurück und lachten viel
über unsere Späße und Streiche in der Uni damals. Gemeinsam
hatten wir an verschiedenen Projekten gearbeitet, an Kulturveranstaltungen
aktiv teilgenommen und die Seminararbeiten zusammen geschrieben. Es waren
Zeiten voll jugendlicher Energie und grenzenloser Lebenslust. Nun saßen
wir nach mehreren Jahren für zwei Stunden da und wollten alles wieder
hervorrufen und noch einmal genießen. Die herrliche Blume war schon
lange vertrocknet, aber wir dachten gerne an den verlorenen Duft zurück.
Meine hübsche Freundin hatte schwarze Ringe unter ihren Augen. Sie
erzählte von ihrer Familie und ihrem Beruf als Schulpsyschologin.
Ihr Mann arbeitete als Buchhalter für einen Hindifilm-Regisseur und
wollte unbedingt nach Dubai, um mehr Geld zu verdienen, um sich mehr leisten
zu können. Es war teuer, in einer Weltstadt zu wohnen. Der Lebensstandard
erforderte nicht nur Nahrung, Kleidung und ein Dach über dem Kopf,
sondern stilvolles Aussehen, Markenschuhe und Parties. Und die teure Schulausbildung
für ihren Sohn war auch beachtlich. Die Zahlen in Mañjus Kopf
und die Ringe unter ihren Augen verwirrten mich. Wie der Esel hinter dem
Heubüschel rannte sie den Großstadtmoden hinterher. Ihre Strebsamkeit
war gewiss notwendig, um zu überleben. Sie war lieb, lebendig und
doch gleichzeitig fremd für mich geworden. Nach ein paar Stunden
tief in der Nacht saß ich in der Maschine, die mich nach Zürich
brachte. Als die Flugräder den Boden meiner Heimat verließen,
regte sich ein Gefühl von Verlassenheit in meinem Bauch. Hilflos versuchte
ich, mir die schönen Bilder von Weihnachtsmärkten und Adventskränzen
vorzumalen. Die Hochzeitsbilder mischten sich dazwischen, und ich sah nur
einen undurchsichtigen Schleier vor mir. In der Luft war ich irgendwo im
Himmel, und nirgendwo zu Hause. Es war eine Durchreise von der einen Kultur
zu der anderen, und ich suchte mich selbst überall. Das Fliegen kam
mir wieder wie das langsamste Fortbewegungsmittel der Welt vor, und ich
war in Zeit und Raum verloren. Ja, so war es. Veränderung ist
ein natürliches Gesetz, und wenn man an dieser Veränderung nicht
mitwirken kann, ist man nur ein passiver Teilnehmer, wie wenn man eine
Geschichte in einem Buch liest. Meine Indienbesuche sind immer so ein buntes
Passiv-Aktiv-Spiel. Die Heimat ändert sich, aber ich bin trotzdem
zu Hause, wenn ich dort bin. "Was verbindet einen Menschen wirklich mit
seinem Geburtsland?" frage ich mich jedesmal, wenn ich von Indien in meine
Wahlheimat zurückkomme. Ich habe heute diese Erinnerungen aufgeschrieben,
um eine Antwort zu finden. Ist es mir gelungen, den chaotischen Gedankenkreisen
und dem Gefühlswirrwarr meines Besuchs ein ordentliches und vernünftiges
deutsches Wort zu schenken?