Frühmorgens, als
ich noch in meinem Tauwetterschlaf schlummerte, hörte ich Manma und
Sanyu in der Küche reden. Dorothee und Sabrinas Zimmertür war
noch geschlossen, und ich rief nach Sanyu. Sie kam zu meinem Bett und wir
kuschelten miteinander. "Hast du aufgepasst,
dass die Decke nicht mit Henna eingeschmiert wird?" fragte sie mich. "Ja", sagte ich, "Ich
habe meine Hand aus dem Bett hängen lassen und bin tief eingeschlafen;
und in der gleichen Position, in der ich eingeschlafen bin, bin ich aufgewacht." Sie kratzte ein bisschen
angetrocknetes Henna von meiner Handfläche und prüfte die Einfärbung
der Haut. "Du musst das Henna mit
Speiseöl wegrubbeln und in den nächsten Stunden jeglichen Kontakt
mit Wasser vermeiden. Es wird herrlich färben", riet sie mir. "Zeig mal deine Hände",
sagte ich und nahm ihre Hände in meine. Die waren tief orange gefärbt. "Keine besonders starke
Färbung", sagte sie enttäuscht. Ich summte ein berühmtes
altes Henna-Lied in ihre Ohren und kitzelte sie. Sanyu erzählte, dass
heute morgen eine Armreifen-Verkäuferin in Sujatas Haus komme, und
dass wir alle dahin gehen sollten. "Vor der Verlobungszeremonie sollten
wir Frauen grüne Glassarmreifen tragen", sagte sie, aber ich weigerte
mich. "Die arme Sujata, ständig
hat sie das Haus voll. Will sie nicht bis heute abend ein bisschen ausruhen?"
fragte ich. "Ja, ich habe gerade
darüber mit Manma gesprochen. Sujata sah gestern schon sehr gespannt
aus, und ihr Gesundheitszustand sollte sich nicht ausgerechnet jetzt verschlechtern.
Was denkst du, wird es gut sein, wenn ich allein dort hinfahre und für
euch die Armreifen hole?" Sanyu bat um meinen Rat. "Ja", sagte ich sofort,
"Ich will auch etwas Ruhe." Sanyu fragte umgehend,
"Ist das zu viel Trubel für dich? Es wird noch schlimmer! Du bist
die jüngste Tante der Braut und musst alles bereitwillig mitmachen." "Was du nicht sagst!"
wimmerte ich, "Es sind so viele Menschen hier, und es passiert ständig
so viel, und ich bin ein armes schwaches Geschöpf, das nicht alles
auf einmal ertragen kann." Manma kam mit Teetassen
zu uns und sagte, "Du bist sehr verwöhnt in Deutschland und entgehst
deinen eigentlichen Pflichten." Ich stützte mich
auf meinen Ellbogen und schlug ihr einen Kompromiss vor: "Meine gute, alte, barmherzige
Mutter, wenn ich hier bleiben darf, dann hole ich deine Schwester vom Bahnhof
ab und erfülle meine tägliche Pflichtenration." Manma lachte und entschuldigte
sich bei mir. Sie fragte: "Und deine Freundinnen? Was werden sie denn denken,
wenn sie nicht bei der Armreifen-Zeremonie dabei sein können?" "Ich werde es den beiden
erklären", sagte ich, "Sie sind keine Inderinnen, die über Kleinigkeiten
maulen und schmollen." "Du solltest es besser
wissen", sagte Manma verunsichert, "Ich möchte nicht, dass sie sich
später bei ihren Müttern über uns beklagen." Mich amüsierte die
Vorstellung von Dorothee, wie sie vor ihrer Mutter Beschwerde einlegt und
sich ausweint, dass sie nicht beim Armreifenanziehen dabei sein konnte.
Zwei Welten, dachte ich mir und warf mir die Decke über den Kopf.
Sanyu schlug mich, weil ich sie nicht in Ruhe bei mir liegen ließ.
Auf ihre kompetente, sachliche Art regelte sie die Aufgaben in ihrem Kopf
und listete sie laut auf: "Ich fahre zu Sujata.
Uma holt zusammen mit ihren Freundinnen Tante Mai und Swati vom Bahnhof
ab. Ich rufe Neeta an: Sie soll für uns das Mittagessen kochen. Und
Manma kümmert sich um die Wäsche und um die Dienstmädchen.
Janu hat ihr Pfadfindertreffen, und Tanmay muss lernen. So, jetzt gehe
ich rauf." "Trink bitte den ersten
Tee mit uns; danach kannst du herumwirbeln", bat Manma sie. Ich stand auf, wickelte
eine alte Milchplastiktüte um mein bemaltes Handgelenk und ging unter
die Dusche. Sabrina hatte sich auf das Fußgelenk ein Mandala und
auf den Handrücken ein "Om" malen lassen. Es war schwach, aber sichtbar
gefärbt. Dorothees Handflächenmuster zeigte ein tiefes Orange
wie Sanyus, und im Laufe des Tages färbte sich mein Henna in ein dunkles
Weinrot. Als wir mit dem Anziehen
fertig waren, redeten wir am Frühstückstisch auf Deutsch. Dorothee
wollte die Großstadt-Gelegenheit nutzen und bummeln gehen. Sabrina
wollte sie begleiten. Ich suchte ein dickeres Garn aus dem Nähkasten
meiner Mutter und nahm die Maße für die Armreifen. Ich war nicht
Experte genug, um nach einem Handdruck die entsprechende Größe
zu erraten. Wir alle bestellten jeweils 24 Armreifen. Sanyu nahm die Garnstücke
mit, als sie zu Sujata fuhr. Ich ging zum Bahnhof und meine Freundinnen
in die Stadtmitte. Ich holte meine alte
Tante, die Ärztin war, und meine Kusine, die Zahnärztin ist,
vom belebten Bahnhof ab. Meine Tante lebt acht Monate des Jahres in den
Vereinigten Staaten bei ihren Söhnen und vier Monate in Indien bei
ihrer Tochter. Sie war kürzlich aus Texas zurückgekommen. Sie
grüßte mich auf Englisch. In der Nähe des Bahnhofs war
eine berühmte Bäckerei von einem Perser. Meine Kusine Swati ging
dorthin, um einen Kuchen und Kekse zu kaufen. Meine Tante redete vom schrecklichen
Ereignis vom 11. September. Ihren blinden Patriotismus für die USA
konnte ich nicht nachvollziehen. Aber ohne jeglichen Kommentar respektierte
ich ihre Äußerungen. Ich fragte sie nach ihrer Gesundheit, eines
ihrer Lieblingsthemen, und die Türme des World Trade Centers blieben
fern von uns. "Was auf die Stirn geschrieben
ist, muss der Mensch erleben und leiden", antwortete Tante Mai. Ich war
erstaunt; meine geschiedene Tante hat ihr Leben immer in ihre eigenen Hände
genommen und sich nie auf das Schicksal verlassen. Ihr Beruf hat ihre selbstbewusste
Persönlichkeit geformt. Und jetzt im höheren Alter redete sie
auf einmal von Vorherbestimmung. Ein kleiner Junge kam
an uns vorbei. Er trug einen geflochtenen Weidenkorb mit einer Schnur um
seinen Hals, der mit gerösteten Kichererbsen gefüllt war. Er
hielt die Hülsenfrüchte mit einem kleinen Messingtopf mit brennender
Kohle warm, der oben im Korb auf den Kichererbsen lag. Als ich ihn zu mir
winkte, formte er ganz schnell und geschickt eine dreieckige Tüte
aus Zeitungspapier und füllte sie mit der gewünschten Menge der
Knabberware. Ich bezahlte ihn, und er ging weitere Kunden suchen. "Hier, Tante Mai, nehmen
Sie ein paar davon. Sie sollen gut sein gegen Gelenkschmerzen", sagte ich. "Nein danke, meine dritten
Zähne können sie nicht vertragen", weigerte sich meine Tante.
Als Swati zurückkam, verzehrten wir gemeinsam die gerösteten
Channas und fuhren mit einer Riksha nach Hause. Nachdem sie sich zu Hause
frisch gemacht hatte, holte Tante Mai die Bilder von ihren Enkelkindern,
die in Amerika geboren waren und dort aufwuchsen. Auf einem Photo war das
Zimmer von ihrer fünfjährigen Enkelin zu sehen. "Mita ist ein großer
Fan der Tele Tubbies, und wir wollten sie an ihrem Geburtstag mit einer
neuen Zimmerausstattung überraschen", sagte Tante Mai liebevoll. Die Tapeten, Bettdecken
und Polstermöbel waren durchgängig mit gelben, grünen und
rosa Tele Tubbies bedruckt! "Hast du von diesen niedlichen
Comic-Figuren gehört?" fragte mich Tante Mai. Ich sagte: "Ja klar!" Sie erzählte uns
vom "Winke Winke" und ich fand es witzig. Meine Tante spielte Klavier und
ehrte Mozart und Bach. Ihre Liebe zu den Tele Tubbies konnte ich nicht
verstehen. Es ist immer ein ungelöstes
Rätsel, Widersprüche in ein und derselben Persönlichkeit
zu entdecken. Ich stellte mir vor, wie sich der gute, alte Bach und die
vier Tele Tubbies in einem Musiksaal miteinander unterhalten. Worüber,
das war mir unmöglich zu erraten, aber Mozart konnte bestimmt viel
Spaß mit diesen neuen Amerikanern haben, dachte ich mir und lachte
laut. Die anderen wussten nichts von meinen Gedanken. Sie nahmen nur mein
amüsiertes Gesicht wahr und verstanden mein Lachen als Zustimmung.
Ich wollte nicht über die verschiedenen Geschmacksrichtungen diskutieren.
Als wir uns weitere Bilder vom weiten Himmel über der Neuen Welt anschauten,
war ich begeistert. Meine Tante und ihre Familie machten gerne mit ihrem
Wohnwagen Ausflüge quer durch das Land von den Rocky Mountains bis
zur Prärie von Dakota. Die Menschen auf den Photos waren nur Inder.
Kein einziger weißer oder schwarzer Amerikaner war im Kreis der Freunde
und Bekannten auf den Photos zu sehen. Ich fragte Tante Mai danach. Sie
sagte: "Meine Söhne und
Schwiegertöchter haben nur am Arbeitsplatz mit den Amerikanern zu
tun. Außer 'Hi' und 'Bye' gibt es wenig Kontakt mit den Ausländern." "Tante Mai", fragte ich
halb abwesend, "Wer ist wo ein Ausländer?" "Wir sind NRI mit Green
Card. Und es gibt mehrere große indische Gemeinden überall in
den USA. Sie sind auch weiter aufgegliedert: Gujarathis, Puñjabis,
Südinder haben ihre eigenen Clubs. Und wir haben einen großen
Freundeskreis in der Marathi-Gruppe. Wir besuchen uns gegenseitig und regelmäßig,
was sehr richtig ist; und das Leben dort ist so rasant, dass kaum etwas
Zeit übrig bleibt, um eine amerikanische Freundschaft zu pflegen",
erklärte sie mir. "Fühlen Sie sich
wohl in dieser Ghettogemeinschaft?" fragte ich sie. "Ja", antwortete Tante
Mai, "Ich passe auf die Enkel auf, gehe viel spazieren und koche unser
indisches Essen. Und die Wochenenden sind immer belegt mit Besuchen oder
mit Einladungen. Es ist immer was los, und es ist nie langweilig dort.
Ja, es ist schön. German Town und Plano sind saubere Orte, es gibt
keine Slums, keine Bettler, keine Armut und keine Korruption. Das Verkehrssystem,
die Gesundheit und das Bildungswesen funktionieren tadellos. Alles ist
geregelt", schwärmte sie. "Haben Sie eine amerikanische
Freundin?" wollte ich wissen. Als sie zögerte,
eine Antwort zu geben, zwitscherte Janu dazwischen, die gerne Photos vom
Ausland sah. "Meine Schulfreundin
hat eine Brieffreundin in den USA", sagte sie erregt, weil sie auch etwas
mitzuteilen hatte und die Aufmerksamkeit aller auf sich zog, "Einmal hat
sie ihrer Freundin eine Rupie geschickt, nur so zum Spaß. Und stellt
Euch vor, ihre weiße Freundin hat ihr einen Dollarschein geschickt!
Das sind 42 Rupien. Wow! Warum hat sie bloß nicht einen 100-Rupien-Schein
geschickt? Dann wäre sie jetzt reich und hätte uns allen einen
Festschmaus gegeben." "Ja, wirklich dumm von
deiner Freundin", bestätigte Swati lächelnd. Auch beim Mittagessen
redete Tante Mai von den paradiesischen Zuständen in der großen,
reichen Welt und von der gepflegten englischen Sprache. Sie und ihre Tochter
hielten einen respektvollen Abstand zu Dorothee und Sabrina. Am Mittag stieg die Sonne
hoch, obwohl es Winter war; und statt eine Siesta zu machen, ging ich mit
meinen Freundinnen hinaus, um spazieren zu gehen und das schwere Essen
zu verdauen. Die Frauen versuchten uns davon abzuhalten. Manma hatte Angst
um Dorothee und Sabrina, dass sie einen Hitzschlag bekommen könnten
oder ihre schöne weiße Haut braun werden könnte. Ich sagte
ihr, sie solle sich keine Sorge um die beiden machen. Morgen Nachmittag,
nach der Trauung, wollten sie abreisen, und es war die einzige Gelegenheit
für mich, mit den beiden allein etwas zu unternehmen. Ich bedeckte
meinen Kopf mit einer Chunni und zog meine Sonnenbrille an. Gemeinsam gingen
wir zum Tuldsai Berg. Die Straßen waren
ziemlich lebhaft um diese Uhrzeit. Sabrina fotografierte in einem Pipulbaumschatten
sitzende Bananenverkäuferinnen, Sandalen reparierende Schuster und
bunt uniformierte Musiker von der benachbarten Festhalle. Sie hatten gerade
Mittagspause und plauderten in einer offenen Teestube. Ihre glitzernden
Silberposaunen waren an der Theke angelehnt. Dorothee wunderte sich über
ihre dicken Anzüge, hohen Stiefel und Uniformmützen. Mit ihren
kleinen Schnurrbärten sahen sie für mich so komisch aus wie Charlie
Chaplin im Film 'Der Diktator'. Ich fand mich in einer
seltsamen Lage, mit zwei exotisch angezogenen fremden Mädchen in das
einheimische Leben hineinzuspazieren: Gemüsereste fressende Kühe,
herumstreunende Hunde, braune Menschengesichter und Leute in traditionellen
Kleidern. Die Hitze und die staubigen Straßen waren mir so vertraut
und gleichzeitig so fremd, wie den beiden. Ich sah, was die andern nicht
sahen, und wusste, dass meine Freundinnen dasselbe Empfinden mit mir teilten.
Wir redeten über den Alltag und über die Unterschiede in beiden
Kulturen, über das Gegenwärtige und über das Ferngebliebene,
über uns und über die andern. Unter glühender
Sonne fingen wir an, den steilen Berghang hinaufzusteigen. Es war angenehm
für mich, nur in einer Sprache, nur über ein Thema und nur mit
einer Person zu sprechen. Ich wies in die Ferne auf andere Berge, die mit
grünen Laubbäumen bedeckt waren, und auf die verschiedenen Wanderwege
dorthin. Am Rand unseres Pfads waren schwarze Flecken; dort war das Gras
abgebrannt worden, um den Weg zu verbreitern. Tamarinde, Nimbäume
und Weiden warfen einen durchsichtigen Schatten auf uns. Der Wind war lau,
aber frisch. Kleine vorbeilaufende Mädchen in weißer und blauer
Schuluniform musterten meine Freundinnen mit Neugier und lächelten.
Auf einem Rasen spielten einige Jungen Cricket und riefen Dorothee etwas
hinterher. Ich ermahnte die Jungen auf Marathi und bat sie um ein bisschen
Respekt und Anstand gegenüber den fremden Gästen. Ich übersetzte
die Rufe, die nicht böswillig gemeint waren, sondern nur als lockerer
Flirt. Danach sagte Sabrina etwas zu mir, das unangenehm für mich
war. "Heute morgen, als wir
unterwegs waren, lief ein aufdringlicher Mann ständig hinter uns her.
Er hatte Geldscheine in seiner Hand und machte uns unmoralische Angebote.
Wir waren ein wenig in Bange, weil wir so etwas bisher in Indien nicht
erlebt haben. Aber wir haben ihn ignoriert und gar nicht reagiert." Ich entschuldigte mich
bei ihr über dieses unmögliches Benehmen meines Landsmannes. Dorothee sagte, "Wieso?
Das hat mit dir gar nichts zu tun. Wir hätten besser aufpassen sollen." In diesem Augenblick
dachte ich mir, ich werde aufatmen, wenn die beiden heil nach Hause kommen.
Keiner hat mich darum gebeten, auf sie aufzupassen. Beide waren zäh,
stark und erwachsene Mädchen, die auf eigene Verantwortung reisten.
Aber solange sie meine Gäste waren, fühlte ich mich verpflichtet,
für ihr Wohlbefinden zu sorgen. Sabrina schwäbelte
und redete immer mit leiser Stimme, deshalb fuhr ich zusammen, als sie
plötzlich laut schrie. Sie hatte eine Herde Büffelkühe entdeckt,
die in den Büschen weideten. Indische Büffelkühe sind riesengroße
Tiere und nicht unbedingt ungefährlich. Ein paar weißgekleidete
Hirten hüteten die herumlaufenden Tiere mit Gerten in den Händen.
Eine kohlrabenschwarze Büffelkuh mit elegant gekurvten Hörnern
fiel Sabrina besonders auf. Ihre große Flanke war in Kreisen rasiert,
und mitten in dem Kreis war das "Om"-Schriftzeichen eingeprägt. Sabrina
wollte sie unbedingt photographieren, aber die Büffelkuh hatte gar
keine Lust, zu posieren. Sie lief einfach weg. Ich redete mit dem Hauptviehhüter,
und er schickte einen Mann hinterher, um 'Lakshmi' zu holen. Lakshmi ist
die Göttin des Reichtums, so hieß die 'Om- Kuh'. Der alte rustikale Mann
fragte mich in einem Marathi-Dialekt, ob die beiden Mädchen aus dem
Ausland kommen. Ich bejahte und sagte, dass sie aus Deutschland sind. Er
wusste nicht, wo Deutschland war, und fragte mich, ob dieser Ort in Nordindien
lag. Ich sagte: "Nein Onkel, es ist ein
Land mehrere tausend Kilometer entfernt, in der Richtung, wo die Sonne
untergeht." "Welche Sprache reden
sie? Englisch?" fragte er mich voller Neugier. "Nein Onkel", sagte ich,
"Deutsch". "Deutsch? Kenn ich nicht",
er zuckte die Schultern und fragte weiter: " Warum sind sie hier?" "Weil sie den Tempel
besuchen wollen, der oben auf dem Gipfel ist", antwortete ich. "Sehr schön, wir
mögen religiöse Menschen. Sind die beiden verheiratet?" fragte
er. Er hatte die Fußringe an Sabrinas und Dorothees Zehen entdeckt.
Fußringe dürfen in Indien nur verheiratete Frauen tragen. "Ja, Onkel, die beiden
sind verheiratet", log ich, ohne mit der Wimper zu zucken. Ich wollte die
überflüssige Diskussion vermeiden. "Die beiden sind wunderschön
mit ihrem Schmuck und sehen jung aus wie meine Tochter. Ja, sie ist auch
verheiratet. Früh übt sich. Schön, schön", lobte er
mit Kopfnicken. Ich versuchte zwischendurch,
Sabrina und Dorothee unser Gespräch zu übersetzen. Wir hatten
eine nette Unterhaltung, bis Lakshmi in Sicherheitsabstand zu uns geholt
war. Der Hauptviehhüter stellte sich stolz neben sie und ließ
sich gerne mit fotografieren. Er wollte kein Geld dafür, aber ein
Abzug von dem Bild wollte er gerne haben. "Es ist das allererste
Mal in meinem gesamten Leben, dass eine Ausländerin mich und meine
Lakshmi photographiert. Bringen sie mir das Photo, wenn es fertig ist.
Ich bin jeden Tag hier", sagte der Viehhüter, und ich versprach, ihm
das Photo bald über meine Schwester zukommen zu lassen. Nach einer halbe Stunde
hatten wir den Tempel von dessen Rückseite erreicht und ruhten uns
auf der Treppe aus. Ich erzählte den beiden vom aktuellen Geschehen
in der deutschen Innenpolitik in deren Abwesenheit, von der Vertrauensfrage
für den Kanzler. Ich hatte mir wirklich überlegt, ihnen eine
deutsche Zeitung mitzubringen bevor ich flog. Aber ich hatte die ZEIT einfach
im Flugzeug vergessen. Ich gab den beiden den Rat, die Internetseiten verschiedener
deutscher Zeitungen zu besuchen. Ich konnte ihr Heimweh sehr gut nachvollziehen. "Ich möchte gerne
die Flügel von Ikarus haben, dann kann ich jederzeit überall
herum fliegen", sagte ich, ins tiefe Himmelblau schauend. Dorothee lachte über
meine Träumereien und sagte: "Aber bitte nicht zu hoch fliegen, sonst
teilst du sein Schicksal!" Einige halb bekleidete
Jungen, die sich dort herumtrieben, kamen in unsere Nähe und machten
es sich unter den Baumschatten gemütlich. Sie taten, als ob sie Karten
spielten, aber sie wollten nebenbei die fremden Mädchen genau unter
die Lupe nehmen. Ich warf ab und zu einen strengen wachsamen Blick in ihre
Richtung, dass sie sich bloß nicht von unserer Unwissenheit provoziert
fühlten und etwas Unüberlegtes sagten oder unternahmen. Ich mochte
meine Rolle als Beschützerin. Als wir hinabstiegen,
trafen wir wieder die Viehhüter. Sie saßen gemeinsam im Gras
und nahmen die späte Mittagsmahlzeit ein. Der ältere sah meine
Freundinnen rauchen und predigte sofort los: "Wir sind Hirten, Diener
Krishnas. Wir rauchen nicht, trinken nicht und laufen nicht den Frauen
anderer Männer hinterher. Trotzdem wünsche ich euch alles Gute!" Am Fuß des Berges
kauften wir Honigmelonen und marschierten nach Hause. Dort herrschte eine aufgeregte
Stimmung. Wie Feuerwerksraketen explodierten die Frauen vor lauter Freude
und Eile und wollten sich alle gleichzeitig waschen, anziehen und schmücken.
Es war Zeit, zur Verlobungsfeier zu gehen. Wir zogen unsere grünen
Glasarmreifen an. Sanyu musste ständig zwischen den Stockwerken hinauf-
und hinuntergehen, um die festlichen Kleider für ihre Kinder bereitzulegen
und uns die Saris anzuziehen. Es fehlte eine Bindeschnur in Dorothees Unterrock,
meine Bluse war zu locker, Tante Mai suchte Schlüssel für ihren
Koffer, und Manma war ratlos, ob sie den Perlenschmuck oder den Goldschmucksatz
anziehen sollte. Swati stellte die Rosen meiner Freundinnen, die sie mir
und Manma geschenkt hatten, in eine brüchige Vase, und das Wasser
lief ausgerechnet auf ihren Terminkalender, der auf dem Tisch lag. Sie
schrie und tupfte die Pfütze schnell mit dem Handtuch ihrer Mutter
auf. Meine Tante schimpfte auf sie für diese Tat, und ich musste hinauf
in Sanyus Wohnung laufen, um ein frisches Handtuch für sie zu besorgen.
Sabrina konnte die Euphorie und Hektik körperlich nicht ertragen.
Sie tanzte unbewusst, was Janu, die fertig war, gerne sah. Janu trug soviel
Parfüm, dass ich sie erst einmal auf den Balkon zerren musste, um
sie durchzulüften. Sie fand mich und mein Niesen unmöglich und
hielt es für übertrieben. Dorothee lief nur in Unterrock und
Bluse vom Spiegel im Zimmer meiner Mutter zum Spiegel im Badezimmer. Swati
musterte ihren wohlgeformten Körper voller Neid und flüsterte
in meine Ohren: "Sie sieht sehr erotisch aus, nicht wahr?" Ich kratzte mich am Kopf
und stimmte zu. Als Sanyu uns die Saris
angezogen hatte, standen wir im Wohnzimmer und posierten als Models, und
Sanyus Ehemann photographierte uns. Wir bewegten uns anders in Sari. "Kleider
machen Leute". Wir fühlten uns eleganter und waren nun bereit, an
den Festlichkeit teilzunehmen. Abends gegen halb acht
trafen wir uns alle vor der Hochzeitshalle. Es waren etwa 150 Gäste
beider Familien eingeladen worden. Wir zögerten vor der Halle. In
Vordergarten war ein großes Buffet aufgebaut. Blumenhändler
schmückten das Eingangstor mit gelborangenen Dotterblumen. Auf der
Anzeigetafel standen die Namen der Braut und des Bräutigams in bunter
Kalligraphie, die Tafel war zudem mit Myrtenblättern umrahmt. An den
Bäumen hingen kleine bunte elektrische Lichter, die immerwährend
blinkten. Avi, der ein traditionelles
Gewand angezogen hatte, rief uns alle schließlich herein. Er gab
uns Frauen die Anweisung, den Bräutigam zu begrüßen. Zu
seiner Ankunft sollten wir Rosenblätter und Reiskörner auf sein
Haupt werfen. Wir nahmen unsere Position ein und standen vor der Veranda
in zwei Reihen einander gegenüber. Wir warteten. Ich grüßte
die Verwandten und spielte mit den rot gefärbten Reiskörnern
in meiner Hand. Ich war nervös und schaute zu Rashmi hinüber.
Sie saß auf einem Stuhl und sah gefasst aus. Sie trug eine karmesinrote
Seidensari. Der Glanz des nagelneuen Schmucks reflektierte auf ihrem zufriedenen
Gesicht. Ich lief schnell zu ihr, um zu erfahren, wie es ihr wirklich gehe.
Sie schaute in meine Augen und lächelte leise unter ihrem Perlennasenring.
Voll Freude küsste ich ihr schön frisiertes seidenweiches Haar. "Pass auf, mein Make
Up", sagte sie, und ich wusste, dass sie mit allen ihren Sinnen präsent
war. Amit kam in einem beigefarbenen
indischen Gewand mit einem goldgepunkteten roten Schal um den Hals. Er
hatte neue knarrende Ledersandalen aus Kohlapur an, und seine Augen lächelten
ein bisschen verlegen, als wir ihn mit Rosenblättern und Reiskörnern
grüßten. Mitten in der Festhalle
war ein Podest aufgestellt und ringsherum waren die Stühle verteilt.
Weiß bezogene Sitzmatratzen und Lehnkissen lagen auf dem Podest.
Zwei Priester legten ein Mahagoniholzbrett dorthin und verteilten die Ritualgegenstände
darauf. Naturalien wie Obst und Blumen lagen in Silbertellern bereit. Statt
der Götterfigur stand eine geweihte Kokosnuss vom Ganesha-Tempel in
einem Gefäß, als Symbol für einen guten Anfang. Zuerst ehrten Avi und
Sujata den Bräutigam. Sie gaben ihre Zustimmung zur Hochzeit und akzeptierten
ihren zukünftigen Schwiegersohn. Als Beweis für ihre Verbundenheit
brachten die beiden vor aller Augen dem Gott Ganesha einige Opfer. Diese
bestanden wie üblich in 16 einzelnen Opferhandlungen: Sie beteten und riefen
den Gott an, mit seiner Familie, seinen Körpern, Waffen und Kräften
herbeizukommen. Für den Gott, hier immer vergegenwärtigt durch
die erwähnte Kokosnuss, wurde ein Asana, das heißt ein Sitz,
aufgebaut aus fünf verschiedenen Blumensorten und Basilblättern.
Danach wurde Wasser in einen Teller gegossen, um dem Gott die Füße
zu waschen. Duftwasser wurde ihm angeboten, um die Hände zu reinigen.
Die fünfte Handlung bestand darin, dem Gott Wasser zum Trinken anzubieten,
um seinen Durst zu löschen. Danach wurde der Gott, in diesem Fall
also die Kokosnuss, gebadet. Dann wurde er mit einem neuen Stoff bekleidet.
In achten Akt wurde ihm eine geweihte Schnur gegeben, wie die Brahmanen
sie tragen. Dann bekam er einen Gandh, das ist ein roter Punkt auf der
Stirn. Blumen wurden ihm geopfert. Um das Böse zu vertreiben wurden
Kampferstücke und Räucherstäbchen entzündet. Avi und
Sujata bewegten einen Leuchter vor der Kokosnuss, um die Anwesenheit seines
guten Willens gewissermaßen auszuleuchten. Die 13. Handlung bestand
darin, eine zubereitete Mahlzeit zu opfern. Danach wurde der Gott mit fünf
tiefen Namaskaras, das sind Verbeugungen, geehrt. Danach machten die beiden
einen Rundgang um das Symbol, um die Herrlichkeit des Allwissenden von
allen Seiten zu betrachten. Zuletzt sangen sie unter ständigem Glockenklingeln
ein Gebet und erbaten den Segen des Gottes. Sujata wusch die Füße
von Amit und gab ihn traditionelle Geschenke: Stoff für ein Hemd und
eine Hose, eine geschmückte Kokosnuß, etwas Geld und einen kleinen
niedrigen Sitz aus Silber. Seine Mutter wurde auch geehrt. Danach schenkte Amits
Mutter Rashmi eine teure seidene Brokatsari, die sie am folgenden Tag zur
Trauung anziehen sollte, und vertraute ihr den Familienschmuck an. Um die
neue Verbindung zu bestätigen, umarmten je fünf dem Brautpaar
nahverwandte Männer der beiden Familien einander heftig. Eine meiner
Kusinen, die als Photomodel in Mumbai arbeitete, fand diese ganze Schau
überflüssig. Kokett sagte sie zu mir: "Ich habe mir nie träumen
lassen, dass Rashmi so eine altmodische und pompöse Hochzeit über
sich ergehen läßt. Sag mal, ist sie dazu gezwungen worden?" Ich lachte und sagte:
"Nein Chiba, wie kommst du denn darauf? Es war ihre freie Entscheidung,
vedisch zu heiraten statt nur auf dem Standesamt. Es ist auch sehr schön."
Manma, die neben uns saß, mischte sich in unser Gespräch ein:
"Avi und Sujata haben Rashmi gefragt, ob sie lieber eine traditionelle
Hochzeit oder das gesamte Geld haben möchte und meine Rashmi hat gesagt,
dass sie die große Hochzeit mit allem Drumrum haben will." "Rashmi ist auch klüger",
sagte Chibas Mutter, Manmas jüngere Schwester, "Sie hat in diesem
Fall an Amit gedacht. Er ist der einzige Sohn, und natürlich muss
seine Hochzeit standesgemäß gefeiert werden. Rashmi hätte
mit dem von ihren Eltern angebotenen Geld eine eigene Firma gründen
können. Man muss rechnen können, aber die Liebe macht blind,
das ist nichts neues." Obwohl es nicht heiß war, fächerte meine
jüngste Tante mit ihrem Sarizipfel Luft auf ihr dezent geschminktes
Gesicht. Manma runzelte die Stirn,
sagte aber freundlich zu ihrer Schwester: "Du bist nun mal hier. Und gib
bitte ohne Wenn und Aber dem jungen Paar deinen Segen. Das Buffet wird
gleich eröffnet. Du bist heute lange gereist. Du musst hungrig sein.
Wenn der Bauch satt ist, dann redet der Mensch auch nicht solch unsinniges
Zeug ." "Du wirst wohl nicht
aufgeben, die Älteste und Gelehrte zu spielen!" sagte meine Tante
und verzog den Mund seitlich. Ich hatte es satt, als
bloßer Zuschauer auf einem Platz sitzen zu bleiben. Ich ging herum
und grüßte die altbekannten Gesichter. Dorothee und Sabrina
waren still wie zwei Puppen und folgten der Zeremonie aufmerksam. Einer
von Rashmis jüngeren Vettern versuchte ständig, die Email-Adressen
mit ihnen auszutauschen und in ein Gespräch zu kommen. Ab und zu kam
er zu mir und fragte mich: "Was heißt auf Deutsch: 'Deine Augen sind
wunderschön' oder 'Ihr seht hübsch aus in Sari'", und so weiter
und so fort. Dorothee sah von seiner aufdringlichen Art ziemlich genervt
aus, und ich bat ihn, die beiden Ausländerinnen in Ruhe zu lassen. "Aber sie sind so still,
und kein Mensch redet mit ihnen. Für mich ist das unangenehm. Sie
sollten sich nicht vernachlässigt fühlen. Deshalb unterhalte
ich mich mit deinen Freundinnen", erklärte er mir mit unschuldigem
Gesicht. Ich lachte hilflos und wusste nicht so recht, welche Seite ich
zufrieden stellen sollte!
Amits Eltern redeten
mit Manma und schenkten ihr eine Sari. Die beiden lernten ihre Schwestern
kennen und fragten nach ihrem Wohlbefinden. Sanyu und ich gingen zum Podest,
wo Rashmi mit gefülltem Armen dasaß. Sanyu sicherte den Schmuck
und die geschenkte Sari in einem Koffer, und ich half Rashmi, die Reiskörner
und das Obst von ihrem Schoß zu entfernen. Ihre Freundinnen machten
ihren Schmuck, Schminke und Sari wieder zurecht. "Ich habe Hunger. Wann
wollen wir essen?" fragte ich mit leiser Stimme. "Wir auch", gaben Rashmis
Freundinnen zu, "Die beladenen Tische draußen sehen so anlockend
aus. Wir können das alles mit Tellern und Löffeln zusammen auffressen.
Nicht wahr, Rashmi?" "Uuh? Was habt ihr gesagt?
Wer sieht anlockend aus? Und wen fresst ihr auf?" fragte Rashmi ziemlich
verwirrt zurück. "Deinen Amit, du Dummchen!"
scherzte Sanyu mit ihr und umarmte sie liebevoll, "Hast du auch Appetit?" "Nein", sagte Rashmi
schüchtern, "Mummy hat heute Mittag mein Lieblingsessen gekocht und
ich habe so viel in meinen Bauch geschlagen, dass ich noch immer voll davon
bin." "Wir waren auch eingeladen",
sagte Vibha, eine verheiratete Freundin Rashmis, "Es war so lecker. Es
war auch die letzte Mahlzeit im Haus deiner Mutter, Rash. Morgen bist du
nicht mehr dieselbe wie jetzt." "Na, komm, komm, mach
ihr bloß keine Angst", sagte Sanyu, "Sie kann jederzeit Sujata besuchen
und dort ihre Lieblingsspeise essen." "Aber nicht mehr als
Mädchen, sondern als eine verheiratete Frau!" Vibha wollte nicht locker
lassen. "Sie ist und bleibt Tochter
des Hauses. Es ändert nichts daran ...", versuchte Sanyu das letzte
Wort zu behalten, aber Vibha streckte ihre Hand mit den rot lackierten
Fingernägeln an Sanyus Brust und schubste sie. "Und ob? Es ändert
sich noch viel mehr. Sie ahnen es kaum!" sagte Vibha. "Ja gewiß. Ich
bin schließlich auch verheiratet." gab Sanyu ihr zur Antwort und
zog die Lippen straff nach unten. Sie ging dann mit Rashmi bei allen Gästen
umher, um deren Segen zu empfangen. Ich schlich mit ein paar Kindern in
den Garten. Die warme, milde Luft
draußen war voll von Essensgerüchen. Mehrere Köche und
Kellner standen dort hinter den Tischen. Sie mischten und bereiteten kalte
und warme Speisen zu. Es zischte und brutzelte auf den heißen Kochplatten.
Der Garten war hell erleuchtet. Janu schnupperte mit ihrer stumpfen Nase,
und ich ermutigte sie, einen Teller vom Stapel zu nehmen. Wir beide rannten
zuerst zum Vorspeisentisch. Ein Kellner füllte für uns bauchige,
knusprige kleine Teigtaschen mit gekeimten Linsen, süßem Tamarinden-Chutney,
rotem Chiliwasser und verschiedenen Kräutern. Wir stopften uns diese
gefüllten Pani-Puris ganz in den Mund und ließen die unterschiedlichen
Geschmäcker auf der Zunge zergehen. Der freundliche Kellner verwöhnte
uns und schenkte uns eine gefüllte Puri nach der anderen auf den Teller.
Wir aßen um die Wette. Ich konnte acht und Janu konnte zwölf
Pani-Puris essen! Langsam kamen die Gäste
und drängten sich an die Tische. Zahlreiche Gerichte aus Indiens verschiedenen
Regionen wurden angeboten. Sujata hatte dieses vielfältige Menü
für das Buffet zusammengestellt. Sie hatte bis vor kurzem als leitende
Bankkauffrau in Pune gearbeitet und hatte mit mehreren Leuten zu tun, die
aus allen Bundesstaaten Indiens stammten. In all diesen Jahren hatte sie
mit ihnen nicht nur Finanzgeschäfte gemacht, sondern auch deren Lebensweise
kennengelernt und natürlich Rezepte ausgetauscht. Heute profitierten
wir davon mit all unseren Sinnen. "Hallo Uma, erinnern
Sie sich noch an mich?" sprach mich jemand hinter meinem Rücken an,
als ich mit meinem zum dritten Mal gefüllten Teller herumging und
mit einer Bekannten gerade Small-talk trieb. Ich drehte mich halb um und
sagte: "Ja natürlich! Schön
Sie zu sehen, Mr. Kinikar, und hallo, Mrs. Kinikar, wie geht's?" Mr. Kinikar war mein
ehemaliger Verleger. Er und seine Frau hatten einen eigenen Verlag. Sie
beide veröffentlichten Avantgarde-Literatur auf Marathi und waren
wohlbekannt in den künstlerischen Kreisen Punes. Wir hatten unsere
Zusammenarbeit vor vier Jahren nach einer Meinungsverschiedenheit beendet,
trotzdem grüßten wir uns gegenseitig herzlich. Nachdem wir das
Buffet und die Braut gelobt hatten, fragte mich Mrs. Kinikar: "Wie geht es dir in Deutschland?
Es ist alles anders dort." Ich wartete, bis ich
zu Ende gekaut hatte, aber dann sagte Mr. Kinikar ganz gleichgültig
dazwischen: "Was soll denn da so anders sein? Das Beten und das Ficken
ist überall gleich auf dieser Welt." Ich verschluckte mich
und hustete heftig. Dorothee stand neben mir, und ich dachte, wie gut,
dass sie unserer Sprache nicht beherrscht. Mrs. Kinikar gab mir ihr Wasserglas
und sagte ihrem Ehemann vorwurfsvoll: "Jetzt hör mal auf, Anil!" Ich schaute mir seinen
exakt gebügelten, handgewobenen Leinenanzug und die dicke Brille an.
Seine Augen waren ganz schmal hinter den starken Gläsern. Ich tat,
als ob ich seine Bemerkungen in der lauter werdenden Gesellschaft überhört
hätte. "Ist das eine Krankheit?"
fragte mich Dorothee ganz leise über Mrs. Kinikar. Ihre Haut und ihr
Gesicht waren von mehreren Pickeln und Schwellungen übersät.
Ich nickte und sagte: "Ja, eine unheilbare Hautkrankheit", und nahm eine
Tomatenscheibe von Dorothees Teller, um unsere Frage und die Antwort nicht
merken zu lassen. Es war eine merkwürdige
Situation für mich, dass meine beiden Gesprächspartner mir etwas
ganz Unterschiedliches mitteilten und ich den Inhalt voreinander verheimlichte. "Was haben Sie neulich
veröffentlicht?" fragte ich oberflächlich, als ich wieder zu
mir kam. "Wir haben gar keinen
Verlag mehr. Ich arbeite jetzt als Lektor", informierte mich Mr. Kinikar. "Ja das Geschäftemachen
lag uns nicht. Die erhöhten Papierkosten und die Zahlungsmoral der
ehemaligen Druckerei haben unsere Träume scheitern lassen", sagte
Mrs. Kinikar, "Wir haben immer die originellen, unbekannten jungen Künstler
unterstützt, deren Sachen veröffentlicht und den Marathi-Lesern
regelmäßig Neues und Gehaltvolles zum Lesen angeboten. Aber
wir konnten nicht davon leben." Ihre Kontakte und ihre
Kompetenz in diese Brañche waren noch immer beachtlich. Ich bedauerte
ihren Konkurs sehr und sagte: "Schade eigentlich!" Mrs. Kinikar sagte weiter:
"Nun unterrichte ich an der Universität von Pune als Gastprofessorin." "Welches Fach?" wollte
ich wissen. "Philosophie. Überwiegend
französische Aufklärung", sagte sie. Ich wusste, dass sie in
ihren jüngeren Jahren in Paris studiert hatte. "Interessant", sagte
ich und dachte an Rousseau und Voltaire. Ich zitierte spontan: "Möge
Gott, falls es einen gibt, meiner Seele gnädig sein, falls ich eine
habe!" Wir lachten zusammen.
Mrs. Kinikar zeigte mir ihren Warnfinger und sagte: "Sei dankbar, dass
du es nicht zur falschen Zeit am falschen Ort laut sagst, sonst werden
die Leute dich wegen Gotteslästerung anklagen." "Und Sie als Ketzer bei
lebendigem Leib verbrennen!" sagte Mr. Kinikar auf seine Art und ließ
sich auch diese Gelegenheit, mich auf den Arm zu nehmen, nicht entgehen. Ich hatte große
Lust, es ihm heim zu zahlen, wechselte das Thema und fragte ihn: "Sie tun mir so leid,
Mr. Kinikar. Jetzt müssen Sie gewiss viele Kompromisse machen, nur
weil Sie als Lektor in einem anderen Verlag arbeiten. Ich kann verstehen,
wie schwer es für Sie ist, wenn die Prosatexte und die Gedichte nicht
ihre Erwartungen und ihren Geschmack treffen können." Er antwortete: "Ich bin
mit Ihnen, wie immer, nicht einverstanden, liebe Uma. Meine Änderungsvorschläge
werden in den meisten Fällen gut akzeptiert. Mein Verleger ist ein
guter alter Freund von mir, und ich arbeite bei ihm auf freier Honorarbasis.
Ich wähle meine Bücher selbst aus. Ich weiß, was verbesserungsbedürftig
ist, und was bei den Lesern gut ankommt. Dabei denke ich nicht nur an die
Absatzpolitik, sondern auch an das literarische Niveau. Das ist die Hauptsache.
Also Ihr Bedauern ist völlig überflüssig." "Vielleicht haben Sie
recht", gab ich ihm zu. "Was ist in Deutschland
gegenwärtig in der Literatur populär?" fragte er nach. Ich berichtete ihm von
all dem übersetzten englischen und amerikanischen Kram, nämlich
den vielgelesenen Romanen, und von der wissenschaftlichen Fachliteratur,
die meistens sehr gut ist. Ich klagte auch darüber, dass dichterische
Werke kaum veröffentlicht werden. Als er mich nach der Ursache fragte,
sagte ich ihn etwas allgemeines vom deutschen Geschmack und von der Verkaufsstrategie.
Es wurde ein spritziges und interessantes Gespräch. Dauernd musste
ich zwischendurch Bekannte begrüßen. Von weitem zeigte mir Mrs.
Pankaj ihre dunkelrot eingefärbte Hennahand, und ich winkte ihr mit
meiner zu. Ich nahm die Einladung des Intellektuellenpaars, sie bald zu
besuchen, an und ging zu Mrs. Pankaj. Wir betrachten unsere Hände
voller Bewunderung. Nicht einmal die Braut hatte diese intensive Färbung. "Die früh blühende
Magnolie welkt schneller als der Salbei. Aber sie sieht sehr schön
aus", sagte Mrs. Pankaj. "Was meinst du damit?"
wollte ich wissen. "Die Henna hat sich so
schnell eingefärbt, sie wird auch schnell wieder verbleichen", erklärte
sie mir. "Ah was!" sagte Alkatai,
den safrangelben Gemüsereis in den Mund stopfend, "Ihr beide habt
zufällig eine Henna-Kartusche erwischt, die voll mit Chemie war." "Ah was!" sagte ich,
"Du bist bloß neidisch, weil deine Hände nur hellorange gefärbt
sind. Freudeverderberin!" Alkatai war verdutzt
von meiner Bemerkung und fand mich frech. Sie ging von uns weg, laut vor
sich hin sagend: "Erziehung muss man haben." Ich rief zurück,
"Wen meinst du denn?" Mrs. Pankaj lachte über
mein kindisches Benehmen und sagte: "Ihr versteht Euch wohl nicht so gut." "Ansichtssache", sagte
ich, "Die heile Welt spielt von außen immer schön und gut mit
einem unsichtbaren verdorbenen Unterton, und wer sich laut dagegen äußert,
ist ein erziehungsloser Sünder. Darauf beruht der Welt Gerechtigkeit!" "Du übertreibst
und dramatisierst alles so leicht. Nimm doch alles entspannter", versuchte
Mrs. Pankaj mich zu beruhigen. "Du bist eine von denen,
die Gandhis Lehre gehorsam befolgen. Wer dich auf eine Backe schlägt,
dem reiche auch die andere dar", sagte ich mürrisch, "Ich habe mehr
Verständnis von dir erwartet." "Schon wieder fängst
du damit an", sagte sie, "Ich werde dich nicht in der falschen Richtung
unterstützen." "Habe ich mich falsch
benommen?" fragte ich sie überrascht, "Alkatai sagt immer etwas gegen
mich, weil sie mich nicht leiden kann. Du hast das doch gerade erlebt.
Innerhalb von wenigen Sekunden hat sie mich zweimal angegriffen. Ich musste
mich ja wehren." Mrs. Pankaj nahm mich
in ihren Arm, und wir gingen auf die Veranda. Sie sagte mit heiterer aber
ernster Stimme: "Uma, wenn einer Unvernunft zeigt, muss man ihm nicht sogleich
mit Unvernunft antworten. Es verursacht nur Streiterei. Das Böse kann
nur mit Güte besiegt werden. So ein positiver Wille rührt das
Gewissen. Das entspricht unserer alten Tradition." "Ausgerechnet du solltest
nicht so einen allgemeinen Kram reden", unterbrach ich sie, "So einfach
ist das nicht." "Laß mich zu Ende
reden. Es ist nicht falsch, Contra zu geben oder, wie du es sagst, sich
zu wehren. Aber wenn diese Verteidigung in sich ungute Keime wachsen lässt,
dann ist sie auf gleicher Ebene mit dem, was du Ungerechtigkeit nennst.
Wer sich getroffen fühlt, sollte Abstand nehmen können, um die
ganze kleinere oder größere Problematik von weitem zu betrachten
und danach mit Vernunft zu handeln." Ihre reiferen Worte faszinierten
mich, und ich vergaß den Zwischenfall mit Alkatai. In diesem Moment
dachte ich, dass sie mir alle Antworten auf meine Fragen geben könne.
Ich äußerte meinen Zweifel: "Das entspricht nicht
ganz unserer Tradition. Sieh mal, wie Kalimata die Dämonen blutrünstig
mit brutalem Waffeneinsatz besiegte. Oder die neun Inkarnationen von Vishnu.
Die haben auch durch List oder Krieg die Teufel besiegt und den Weltfrieden
hergestellt." "Du verwechselst die
Tradition mit der Mythologie und den Epen. Es ist nicht dasselbe", sagte
Mrs. Pankaj. "Aber sie sind doch Teil
unserer Tradition, diese uralten literarischen Werke", sagte ich. "Das stimmt", bestätigte
sie mich, "Sie sind von Mund zu Mund weitererzählt worden und immer
wieder von dem einen oder anderen Phantasiereisenden erweitert worden.
Wenn du darauf aufbaust, dann denk an die letzte Inkarnation Vishnus: Der
Buddha hat weise Worte benutzt anstatt irgendwelcher Gewalt. Die Zeiten
bringen Verwandlungen mit sich. Und die Art der Botschaft ändert sich
der Zeit gemäß. Du wirst doch mit der Zeit gehen. Also versöhne
dich mit Schwester Alka und vermeide bittere Wortwechsel mit ihr. Eine
Hochzeit ist ein freudiges Ereignis und wir feiern es zusammen mit reinem
Herzen." Ihre klugen Worte klangen
schön in meinen Ohren. Ich bewunderte sie und fragte: "Du hast immer so einen
guten Überblick, als ob du jenseits von allem lebst, so abgelöst,
trotzdem machst du alles mit und nimmst teil an dem realen Geschehen. Wie
schaffst du es nur, im Wasser zu schwimmen und gleichzeitig trocken zu
bleiben?" Ich stützte mich
aufs Verandageländer; Mrs. Pankaj lachte herzlich und spielte mit
meinen grünen Armreifen. Wir schauten gemeinsam zu den Gästen,
die sich gegenseitig unterhielten, miteinander lachten und aßen.
Wir winkten Rashmi und Amit zu, die von jungen Freunden umgeben waren. "Ich nehme mir die Zeit,
mich zu besinnen", sagte sie. "Sind es deine Fastentagen?"
fragte ich. Mrs. Pankaj erzählte
bescheiden: "Ja, in unserer Jainagemeinde faste ich regelmäßig
für mehrere Tage und befolge eine absolute Rede-Enthaltsamkeit. Fasten
erhebt den Körper in ein anderes Bewusstsein. Am Anfang ist es beängstigend,
aber danach fühle ich mich nur noch wohl. Dieser Körper braucht
eigentlich nur wenig zum Überleben. Wir merken das sonst eben nicht,
dass man das ist, was man isst. Wir ernähren und verwöhnen uns
mit Essensköstlichkeiten und mit den damit verbundenen Eigenschaften
wie Egoismus, Ehrgeiz, Verlangen nach weltlichen und sinnlichen Freuden.
Die Natur und die Mitmenschen formen unser Bewusstsein, und darum geben
wir unserer Persönlichkeit die Tendenz, möglichst passabel und
akzeptabel zu sein. Was ja durchaus richtig ist. manche streben nach grenzenloser
Erfüllung, wo die fünf Sinne ihre Grenzen zeigen. Fasten ist
einer von mehreren Wegen, sich zu trainieren und seine Entwicklungschañcen
zu nutzen." "Wofür?" fragte
ich dazwischen, "Für die Erleuchtung?" "Das ist ein schwieriges
Wort", sagte sie, "Du hast nach Loslassen und nach Abstand gefragt, und
ich antworte dir im Maß deiner Frage. Nicht mehr und nicht weniger.
Das Fasten zieht mich auf eine andere Ebene des Bewusstseins, deshalb sehe
ich vielleicht alles deutlicher und klarer." Sie blieb still, und
ich nahm ihr Schweigen respektvoll entgegen. Ich wusste, dass ihre Erfahrungen
etwas ganz Kostbares und Persönliches waren, das sie mit niemandem
zu teilen wünschte. Ich fragte sie auch nicht weiter danach. Wir wechselten
einen langen verständnisvollen Blick und gingen wieder in den Garten. "Uma, hol bitte einen
Dosa für mich.", bat mich Manma, die mit Verwandten an einem Tisch
saß, "Seit ich letzte Woche meinen Zeh verletzt habe, kann ich nicht
richtig gehen. Und in diesem Gedränge muss ich besonders aufpassen.
Wenn jemand auf meinen Fuß tritt, kann ich nicht mehr laufen!" Gehorsam nahm ich ihren
leeren Teller und ließ sie weiter von ihren Altersbeschwerden reden.
Ich brachte ihr Weizengries-Fladen mit grünem Kokosnuß-Chutney
und bat sie um Erlaubnis, mich zurückziehen zu dürfen: "Dorothee
und Sabrina sind auch müde, Manma, können wir nicht nach Hause
fahren?" Manma gab mir widerwillig
den Hausschlüssel und küsste mich kurz zum Abschied, aber ausgerechnet
auf meine Brille mit ihrem fettigen Mund! Ich machte klagevoll große
Augen, aber die sah sie nicht. Ich und meine Freundinnen
sagten dem Brautpaar Aufwiedersehen und Gute Nacht und wir fuhren mit einer
Riksha nach Hause. Als wir uns umgezogen hatten und die Betten für
die anderen gemacht hatten, gingen wir zur dritt auf den Wohnzimmerbalkon.
Wir machten es uns auf dem Balkonboden gemütlich und rauchten eine
Zigarette. Wir redeten von Rashmi, die genau so alt war wie Dorothee, und
tauschten Gedanken über die verschiedenen Kulturen und Lebenswege
aus. Ich fand es schade, dass sie beide schon morgen wegreisen wollten.
Wenn ich mit den beiden zusammen war, erlebte ich einen Teil meiner Wahlheimat
in mir, und das war für mein Ausgeglichensein wohltuend. Wie ein Tornado
fühlte ich mich manchmal vom indischen Leben aufgesogen und fürchtete,
mich selbst dabei zu verlieren. Unsere Gespräche halfen mir sehr,
meine eigene Identität stabil zu bewahren.
10.
Am Tag der Trauung klingelte
der Wecker bei uns frühmorgens um fünf. Die Morgenröte war
noch umhüllt von der erholsamen dunklen Nacht. Tante Mai, Swati und
Manma wirbelten schon umher. Im Wohnzimmer schlummerten wir drei und nippten
unseren Bett-Tee in halbwachem Zustand. Die Saris und der Schmuck waren
bereit gestellt. Sanyu kam vollständig angezogen herunter, um uns
dabei zu helfen. Sie sah wie eine Göttin aus, in ihrer tannengrünen
Seidensari mit gold-roten Brokaträndern. Ihr prächtiger Schmuck,
ihr dunkles, lockiges Haar und ihr strahlendes Wesen waren bezaubernd.
Sie half zuerst meiner Tante und meiner Kusine, die Saris anzuziehen. Wir
hatten es eilig, zur Hochzeitshalle zu gehen, deshalb machte sie uns den
Vorschlag, uns dort umzuziehen. Also fuhren wir in unseren Alltagskleidern
zur Festhalle.
Die Zeremonien hatten
schon angefangen. Nur wenige Gäste waren anwesend. Zur Trauung waren
etwa 500 Leute eingeladen worden, die erst gegen 9.30 Uhr vollständig
da waren. Die Zeit für die eigentliche Trauung war astrologisch bestimmt
und festgelegt. Rashmi und Amit saßen mit einem Priester zusammen
auf niedrigen Holzbänken, nach Osten gewandt. Sie waren beschäftigt
mit Schönheits-Ritualen. Amit mit seinem blauen seidenen Dhoti und
einem um den Oberkörper gelegten weißen Baumwollschal und Perlen-Stirnschmuck
saß zur linken Seite Rashmis. Sie hatte die rote Sari an, die sie
gestern von ihrer Schwiegermutter geschenkt bekommen hatte. Einen feinen
violetten Schal hatte sie über ihre Schultern geworfen. Amit band
einen mit Gelbgewurz verknoteten Faden um ihr linkes Handgelenk, und sie
band einen um sein rechtes, als Zeichen für Verbundenheit. Die beiden
Eltern des Brautpaares opferten in unmittelbarer Nähe mit einem anderen
Priester eine Gabe für Gott Ganesha. Sie riefen ihn um seinen Segen
an, dass die Hochzeits-Zeremonie und der Tag ohne Hindernisse verlaufe. Ich grüßte
kurz das Hochzeitspaar. Amit war erstaunt über meine Alltags-Kleider. "Bist du hierher gekommen,
um die Töpfe zu spülen?" fragte er mich scherzhaft. "Sag nur, was du willst.
Heute ist dein Tag. Ich werde es dir nicht übel nehmen", antwortete
ich ihm und klopfte großzügig auf seine rechte bloße Schulter. Sanyu zog mich zusammen
mit Dorothee und Sabrina auf den ersten Stock des Gebäudes hinauf.
Dort standen zwei Zimmer für uns zur Verfügung. Sanyu half uns,
die Saris anzuziehen. Wir redeten, lachten und scherzten gemeinsam, bis
Swati zu uns kam. "Du siehst wie ein Gänseblümchen
auf der Wiese aus", machte sie eine Anspielung auf meine Körpergröße
und die von mir gewählte gelbgrüne Sari. "Und du wie eine Muschel",
sagte ich zu ihr. Swati hatte eine perlenfarbige Sari an. Als Sabrina ihre
Bluse anziehen wollte, schaute sie kritisch auf ihren Rücken. Sie
flüsterte in Sanyus Ohren, was nicht zu überhören war: "Mein Gott, sie hat Pilzkrankheit!" "Was du nicht sagst",
sagte ich in Marathi, "Es ist Sonnenbrand", und lachte auf ihre Verdächtigung. "Ich bin Ärztin
und ich merke so was mit einen Blick", sagte Swati stolz. Ich boxte sie auf ihren
molligen Oberarm und sagte: "Du bist Zahnärztin.
Das ist ein kleiner Unterschied." Sanyu ermahnte uns beide
und bat uns, den Wortwechsel umgehend zu stoppen: "Was auch immer es sei.
Es ist nicht angebracht, so etwas zu unseren Gästen zu sagen. Swati,
es geht dich gar nichts an, was für Flecken sie auf dem Rücken
hat, und Uma, du solltest es nicht übersetzen." "Die beiden werden sowieso
heute bei allen Leuten das große Gesprächsthema sein, wegen
ihrer Vogelnester", spottete Swati weiter über das wilde Haar der
beiden. Sanyu sagte endgültig:
"Ein rollender Stein sollte kein Moos ansammeln, Swati. Und jetzt gehen
wir runter." In der Zwischenzeit hatte
Amit die Hochzeitskette um Rashmis Hals gelegt. Diese Kette, traditionell
aus kleinen schwarzen Perlen und unten mit zwei offenen Halbkugeln aus
Gold, war der neueste Entwurf von Rashmis Juwelier. Die Kette war noch
umgekehrt angezogen, die beiden Kugelschalen nach vorne offen, um böse
oder neidische Blicke wie Hohlspiegel abzuwenden. Eine dieser beiden Mulden
war mit rotem und die andere mit gelbem Pulver aufgefüllt. Die Kosten
für diese Kette waren von beiden Familien übernommen worden.
Diese Kette sollte Rashmi nun für immer tragen, als Zeichen für
ihren neuen Familienstand und als Symbol dafür, dass durch die Heirat
zwei Menschen und zwei Familien zusammengefügt worden waren. Rashmi
machte dann eine Puja dafür, das Glück zu haben, diese Kette
bis an ihr Lebensende tragen zu dürfen. Das hieß, sie wünschte
vor ihrem Ehemann zu sterben. Indische Witwen dürfen keine Hochzeitsketten
tragen.
Der Priester wickelte
einen Faden um das Brautpaar und umkreiste es mehrmals. Er rezitierte dabei
ständig alte vedische Mantren. Den Anfang des Fadens hielt Amit in
der Hand. Ich wollte wissen, was der Priester in diesen liturgischen Sanskritgesängen
mitteilte. Janu stand neben mir. Sie hatte diese Altsprache als Schulfach
gewählt. "Verstehst du, Janu,
was der Mann mit dem flachen weißen Käppi singt?" fragte ich
sie. "Einen Hindifilm-Song",
nahm Janu mich auf den Arm. "Du Schelm, sag es doch",
bat ich sie, "Oder gib zu, dass du eine Null in Sanskrit bist." Es half und sie kratzte
sich an ihrem Ohr. "Er singt etwas, ...mit
dieser Schnur sei euer Körper und die Herzen und die Gedanken und
die Sohlen miteinander hormonisiert ...", versuchte sie den Text zu übersetzen. "Seelen, du Idiot", korrigierte
ich sie, "und nicht hormonisiert sondern h-a-r-m-o-ni-siert!" "Ich habe es doch gesagt",
verteidigte Janu sich. "Ja, das hast du", gab
ich mit übertriebener Dankgeste zu und küsste ihre schwer parfümierte
Hand. Jemand verteilte Jasminblüten-stränge, die wir in den Haaren
tragen sollten. Dorothee band ihn um ihr Handgelenk, und eine der Verwandten
schaute dieser Aktion verdutzt zu. Nur Männer, die sich am Abend im
Kurtisanen-Stadtviertel amüsieren wollen, tragen Jasminblütenstränge
um ihr Handgelenk! Ich merkte es sofort, schmunzelte, aber äußerte
mich darüber nicht. Rukhavat, das Hochzeitsfrühstück,
war serviert. Heißer Kaffee mit dem Aroma von geriebener Muskatnuss
lockte uns in den Speisesaal. Ein traditionell gewürztes typisches
Marathi-Griesgericht wurde in kleinen Tellern verteilt. Amit und Rashmi
teilten ein Glas Milch und eine Banane nach alten Brauch und versprachen
einander ewige Liebe. Wenn sie in ihrem Eheleben Köstlichkeiten essen
und genießen, werden sie aneinander denken. Nach dem Frühstück
bekam Amit ein Betelnussblatt zu kauen, in dem eine Rupien-Münze versteckt
war. Er nahm die Münze aus seinem Mund und legte sie unter seinen
leeren Teller. Damit legte er einen Eid ab, dass er mit seiner Braut zusammen
ein perfekter Gastgeber sein werde. "Zum Glück hat er
dieses Mal die Münze nicht runtergeschluckt!" rief Avi laut in den
Saal. "Warum?" fragte ein älterer
Mann von Bräutigams Seite, "Hat er das auch fertig gebracht?" Mir sprang Astrid Lindgrens
Kleiner Michel aus Lönneberga ins Gedächtnis und ich war neugierig.
Avi erzählte: "Sie sollen es wissen
und alle anderen auch. Es war so: Ganz am Anfang, als er sich um unserem
Tochter bewarb, ist etwas Ähnliches passiert. Einen Abend kam er vor
unsere Haustür balañciert, mit einem Badminton-Schläger
in der Hand, und wollte nach Rashmi fragen, aber der Weltmeister brachte
keinen einzigen Ton aus seinem Mund heraus. Meine Frau fragte ihm abermals,
was er wolle. Nichts. Er stammelte und machte nur die Spielbewegungen mit
seinem Schläger. Damals waren wir von ihm nicht so sehr begeistert
und machten uns Sorgen um Rashmi, die solch einen merkwürdigen Kameraden
in ihrer Sportgemeinschaft hatte. Später irgendwann mal erklärte
diese Bursche uns, dass er kurz vor unserer Haustür aus Versehen eine
Münze runtergeschluckt hatte. Die Münzen gehören in die
Brieftasche und nicht in den Mund, habe ich ihm geraten, aber er entschuldigte
sich und sagte, dass er sehr aufgeregt und nervös gewesen sei, weil
er Rashmi zu einem Spiel einladen wollte." "Ja, so war es", sagte
Sujata und erinnerte sich auch gern an diesen komischen Fall, "Damals haben
wir uns wirklich nicht gedacht, dass dieser junge Mann eines Tages zusammen
mit unserer Tochter einen Rukhavat-Eid ablegt!" "Glauben Sie mir, meine
Geehrte", sagte der ältere Mann, sich seitlich neigend, "Er hat mit
Ihrer Tochter wirklich das große Los gezogen." "Vice versa", schenkte
der offenherzige Nandu ihm auch eine Freude. Sein Hemdkragen war hoch gestellt.
Nandu war in hellblauem Anzug. Als die anderen wieder zur Halle gingen,
kam er mit einer Krawatte in der Hand hilflos zu mir und fragte mich: "Du, halbe Europäerin,
so was kannst du im Nu erledigen, nicht wahr? Kannst du mir bitte helfen?" Ich hielt Kaffeetasse
und Unterteller fest in meiner Hand und sagte: "Leider nicht Nandu,
ich habe in Europa nicht viel gelernt, aber ich bin unheimlich sittsam
und bescheiden. Können Sie nicht ihre Angetraute zur Hilfe nehmen?" Neeta zog die Krawatte
aus seiner Hand und brummelte: "Die Zeremonien gehen weiter, und ich bekomme
wieder gar nichts mit. Muss der Mensch unbedingt einen Anzug mit Krawatte
tragen? Aber seit der Herr in der neuen Bank als Chef arbeitet, lehnt er
alle traditionellen Kleider ab. Es sieht nur mafiös aus!" Nandu schaute seine Frau
süß bittend an. Neeta band die Krawatte sehr konzentriert um
ihren eigenen Hals, um später den fertigen Knoten an ihren Mann weiterzureichen.
Dabei steckte sie ihre Zunge zwischen ihre gespannten rosa Lippen. Sie
schämte sich, vor allen Leuten die Krawatte direkt um Nandus Hals
zu binden. Nandu machte ihren Gesichtsausdruck liebevoll nach und wir lachten.
Dieses Zwischenspiel von Schüchternheit und Anstand faszinierte mich
und ich photographierte sie beide. Im Festsaal machten Sujata
und Avi 'Kanyadaan', einen althergebrachten Ritus der Schenkung der Tochter.
Sujata nahm die rechte Hand von Rashmi in ihre rechte Hand, und Avi nahm
die rechte Hand von Amit in seine rechte Hand. Sujata sprach nach, was
der Priester vorsprach: "Ich habe meine Tochter
bis jetzt mit unendlicher Liebe und mit großer Sorgfalt erzogen.
Nun gebe ich Ihnen die Verantwortung für sie. Haben Sie Respekt vor
ihrer Religiosität, ihren Lebenszielen und ihrer Jungfräulichkeit.
Ich gebe Ihnen meinen Segen und gute Wünsche für das Eheleben." Amit hielt Rashmis Hand
in seiner, und Avi rezitierte: "Ich schenke Ihnen meine
göttergleiche Tochter für immer." Amit legte seine Hand
auf Rashmis rechte Schulter und sagte: "Ich nehme Ihre Tochter
an, um mein Leben mit Glück zu erfüllen." Avi rezitierte weiter: "Sie sollen meine Tochter
niemals ausbeuten, wenn Sie Ihr Leben mit Glück erfüllen." Amit antwortete: "Ich werde sie niemals
ausnutzen. Das verspreche ich Ihnen." Amit und Avi wiederholten
den Dialog dreimal, und der Priester tröpfelte geweihtes Wasser auf
ihre verbundenen Hände. Sujata schenkte dem Bräutigam eine Laterne
für das Licht im Haus, einen Teller, eine Tasse und ein Glas für
die Mahlzeiten. Es waren symbolische Geschenke. Danach legte Amit seine
Handflächen auf Rashmis und schwur: "Meine selige Braut,
ich nehme deine Hand. Lass uns zusammen gedeihen und zusammen alt werden.
Surya, Indra, Aryaman und Bhaga haben dich mir gegeben." Manma, die neben mir
saß, trocknete ihre feuchten Augen und sagte leiser: "Mein kleiner Sperling
ist jetzt endlich abgegeben worden. Nun gehört sie nicht mehr zu uns." Ich nahm sie in den Arm,
um ihr schweres Herz etwas zu erleichtern, und fragte sie: "Welche Götter
hat er genannt?" Manma sagte halb abwesend:
"Den Sonnengott, den Gott der Donner und Blitze, den göttlichen Freund
und den Geber der Gaben." "Siehst du, du bist gar
nicht so gerührt, wie du tust. Du hast dir sogar alle Namen gemerkt",
sagte Sanyu mit munterer Stimme zu Manma, die zwischen uns beiden saß. "Ich wünschte nur,
dass Euer Vater diesen Tag erlebt hätte", sagte Manma und stand auf.
Sie ging zu den anderen älteren Frauen. Sanyu und ich saßen
stumm da, zwischen uns war ein leerer Sitz. Um diese unerträgliche
Lücke zu füllen, rückten wir gleichzeitig in die Mitte.
Unsere Köpfe schlugen zusammen und es tat uns beiden tüchtig
weh. Wir mussten lachen. Wir guckten uns vorsichtig um, ob jemand unsere
Panne beobachtete. Aber alle Gäste waren miteinander beschäftigt.
Wenige folgten den Zeremonien, und nur die Beteiligten waren mit den Priestern
beschäftigt. Langsam wurde die Festhalle
voller von den eingeladenen Menschen. Nahestehende Angehörige der
beiden Familien begrüßten sie am Eingang. Dorothee wunderte
sich, weil alle herumliefen und miteinander redeten und gar nicht auf den
Ritus achteten. "Christliche Hochzeiten
werden anders gefeiert", sagte ich zu ihr, "Für die meisten Menschen
in Maharashtra ist es keine Seltenheit, auf einer Vedischen Hochzeit zu
sein. Man geht hin, Frauen zeigen ihre neuen Saris und ihren reichen Schmuck,
Männer treffen alte Bekannte oder knüpfen Geschäftsverbindungen
bei solchen Anlässen, Kinder spielen miteinander, die Seniorengruppen
tauschen die Anschriften ihrer Ärzte oder Lachclubs aus, und die jungen
Leute flirten. Irgendwann segnen die Gäste das Brautpaar, nehmen teil
am Festschmaus, tauschen Neuigkeiten aus der Stadt aus und fahren heim.
So unkompliziert ist es!" Wie ein junger Prinz
lief mein Neffe Yash in seinem indischen Gewand zwischen den Gästen
umher. Ich ertappte ihn und erkundigte mich nach der Ohr-Drücken-Zeremonie.
Als Bruder der Braut war er zu dieser spaßigen Zeremonie verpflichtet.
Er sollte als Mahnung Amits rechtes Ohr zwirbeln und es so lange nicht
loslassen, bis Amit ihm versprach, seine Schwester gut zu behüten,
und ein sattes Lösegeld für das arme Ohr bezahlte. "Du solltest mindestens
3000 Rupien verlangen, auf keinen Fall weniger!" belehrte ich Yash. "Ja ja, ich mach das
schon", sagte Yash sorglos. "Er wird versuchen, zu
handeln und alle möglichen Kniffe und Tricks benutzen, um sein Ohr
frei zu bekommen, aber du solltest nicht nachgeben, bis er die gesamte
Summe auszahlt", bereitete ich Yash auf seine verantwortungsvolle Heldentat
vor. Yash kämmte sein mittelbraunes Haar zwischen den Fingern und
fragte mich: "Warum engagierst du
dich so sehr für diese Sache?" Ich zauderte ein bisschen
und sagte: "Warum? Weil ich gerne 10% von der Summe haben möchte,
für meinen guten Rat und dafür, dass ich dich darauf vorbereitet
habe." "Ach du lieber Himmel!"
sagte Yash und lachte, "Sanyu und Tante Neeta haben mir auch diese Ratschläge
gegeben und ihre Anteile gesichert. Es wird nicht viel für mich übrig
bleiben, wenn es mit den anderen Tanten auch so weiter geht!" Ich war überrascht,
dass ich zu spät mit ihm gesprochen hatte. Ich machte sein wildes
Haar zurecht und sagte: "Keine Sorge, du wirst es gut machen und nur an
das Ziel denken." In einem rechteckigen
Metallbehälter wurde Sandelholz angezündet. Der Priester rief
den Feuergott an und sang vedischen Hymnen. Das Brautpaar saß mit
gekreuzten Beinen und mit gefalteten Händen bescheiden vor dem Feuer.
Ein Zipfel von Amits weißem Überwurf und Rashmis violettem Schal
war zu einem Knoten zusammengebunden. Sie beteten zu Gott Agni, Zeuge der
Hochzeit zu sein und wünschten sich gesunde Kinder. Dreimal wandelte
das junge Paar um das heilige Feuer und nahm wieder Platz. Yash wurde gerufen
für die Lajja-Hom, eine Opfergabe an Gott Agni. Yash gab Rashmi eine
Handvoll Puffreis, die sie in das Opferfeuer werfen sollte. Er sprach dem
Priester nach: "Meine geliebte Schwester, wie dieser Puffreis mit dem Feuer,
so sei vollkommen verschmolzen in deiner neuen Familie." Mit ein paar anderen
Frauen saß ich auf der Bühne, direkt vor dem Feuer, um alles
zu sehen. Eine unbekannte Frau aus der Familie des Bräutigams flüsterte
in das Ohr ihrer Nachbarin: "Es sind ganz andere
Sitten zwischen den Brahminen, die aus dem Küstengebiet, und denen,
die aus dem Hochland stammen. Bei uns wird die Lajja-Hom gebracht, um die
Schamgefühle der neu Vermählten zu vernichten, und nicht für
die Fusion." Ich hielt Yash fest in
meinem Blick und nickte ihm ermutigend zu, als er Amits Ohr angriff. Das
Gelächter und die Aufmerksamkeit der Zuschauer machten Yash nervös.
Die Blitzlichter der Fotografen und die hellen Scheinwerfer der Videokameras
waren unangenehm für ihn. Er wechselte ein paar Worte mit Amit, und
bereits nach zehn Sekunden lies er Amits Ohr los. Ich schaute zu Sanyu
und Neeta hinüber. Sie waren genauso überrascht wie ich. Als
Yash von seiner Aufgabe erlöst war, kreisten wir ihn zu dritt ein. "Was ist denn passiert?"
fragte Sanyu ihn. "Du Feigling!" beschuldigte
Neeta ihn, bevor er zu Wort kam. "Es ist alles in Ordnung,
alles in Ordnung", murmelte Yash kleinlaut. "Nichts ist in Ordnung,
du hast einfach den Mut verloren", beschimpft Neeta ihn. "Amit hat mir versprochen,
das Geld später zu geben", sagte Yash. "Wie viel?" wollte ich
wissen. "Ja, es war so laut.
Ich habe es nicht so genau verstanden, ob es zwei oder drei war", sagte
Yash und winkte jemandem zu. Er hatte den Drang, wegzulaufen. Wir drei Schwestern schmunzelten,
als er schnell zu seinen Freunden lief. Neeta sagte voller Sorgen: "Was wird aus diesem
Jungen werden? Er soll lernen, tapfer im Leben zu stehen. Ich habe ihn
für diese Zeremonie so gut vorbereitet, aber es war alles umsonst.
In einen umgekehrten Krug kann man kein Wasser einfüllen." Später haben wir
erfahren, dass Yash gar kein Lösegeld von Amit bekam, sondern nur
einen feinen Stoff für Hose und für Hemd!
In der Zwischenzeit bereitete
ein Priester die 'Saptapadi' vor, einen weiteren wichtigen Ritus vor der
Trauung. Das Brautpaar sollte sieben Schritte gemeinsam gehen und sieben
Versprechen für die nächsten sieben gemeinsamen Leben äußern.
Auf einem flachen Holzbrett waren sieben kleine Reismulden angehäufelt,
nördlich vom heiligen Feuer. Amit leitete Rashmi zu diesen Brett.
Rashmi stellte ihren rechten Zeh auf eine Mulde, und sie beide versprachen: "Mit diesem ersten Schritt
wünschen wir uns ausreichende Nahrung für immer." "Mit diesem zweiten Schritt
wünschen wir uns die Quelle des Stärke." "Mit diesem dritten Schritt
wünschen wir uns blühenden Wohlstand." "Mit diesem vierten Schritt
wünschen wir uns gemeinsames Glück." "Mit diesem fünften
Schritt wünschen wir uns zahlreiche gesunde Kinder." "Mit diesem sechsten
Schritt wünschen wir, dass wir Gefährten werden, in allen Zeitenkreisen." "Mit diesem siebten Schritt
wünschen wir, dass wir Freunde bleiben auf ewig." Die Reishaufen waren
platt gedrückt. Jetzt nahm Rashmis Schwiegermutter sie in ihre Obhut.
"Von nun an bin ich deine Mutter. Du solltest mich Aai nennen", sagte Mrs.
Apte, Rashmi liebevoll umarmend. In Indien werden die
Mütter 'Ma' oder 'Aai' genannt. Man kann 'Ma' volksetymologisch als
Abkürzung von 'Atman', die Seele, deuten, und 'Aai' sehen viele als
Zusammenfügung von 'Atman' und 'Ishvara', Gott, an. Rashmi nahm dankbar die
traditionellen Kosmetikgeschenke von ihrer Schwiegermutter an. In einem
kleinen Korb waren ein Kamm, eine Puderdose mit rosa Talk, eine Flasche
mit Kräuteröl, rotes Kumkum und ein parfümiertes Blumengebinde
zusammengestellt. Als Witz hatte sie unter dieser Sachen auch eine Schachtel
Verhütungspillen versteckt. Unsere Frauen wunderten sich über
Mrs. Aptes dreiste Aktion. "Um Himmels Willen",
sagten sie zueinander, "Solche modernen Dinge gehören überhaupt
nicht in den Geschenkekorb." "Gottseidank, dass die
Männer nicht dabei waren, sonst wäre es ein Skandal gewesen!"
sagte die eine. "Mrs. Apte würde
so etwas nie wagen. Das ist bestimmt eine Idee von ihrer in den USA wohnenden
Tochter gewesen", sagte die andere. Rashmi und Amit gingen
hinauf, um sich umzuziehen. Eine Kosmetikerin wurde beauftragt, die Braut
zu schminken und anzuziehen. Wir blieben im Saal, und ich grüßte
altbekannte Freunde. Ich sah eine meiner Kusinen
fast nach 15 Jahren wieder. Mangal-Tai war alt geworden, aber ihr volles
welliges Haar und die quäkige Stimme waren gleich geblieben. Sie kam
aus Kohlapur mit ihrem kranken Ehemann und ihrem jungen Sohn zur Hochzeit.
Sie war berühmt für ihre polemische und ironische Art. Ich bückte
mich und berührte ihre Füße, um den Segen zu empfangen. "Der echte Mensch ist
ein Gewohnheitstier, egal auf welchem Erdteil er wohnt", sagte sie hocherfreut
über meine indische Art der Begrüßung. "Hast du die Sieben Schritte
gesehen? Sah Rashmis Fuß nicht entzückend aus, mit Schmuck und
Henna?" fragte ich sie. "Ja, aber Rashmi hätte
ihre Sari nicht so hochzuziehen brauchen. Es sieht nicht gut aus. Eine
Dame sollte sich benehmen, so dass sie keine Aufmerksamkeit erregt. Und
ich persönlich hätte nicht sieben gemeinsamen Leben versprochen.
Ich bin abwechslungsfreudig und hätte nichts dagegen gehabt, mir einen
anderen Mann für mein nächstes Leben zu wünschen", sagte
sie. "Sag es bloß nicht
laut vor deinem Ehemann, sonst wäre er todtraurig", sagte ich. "Ah was, er sagt dasselbe!
Weißt du, wir sind nicht so konservativ und altmodisch. Wir denken
modern heutzutage", sagte Mangal-Tai. Mich amüsierte die
moderne Idee meiner Kusine, sich einen andern Ehemann für das nächste
Leben zu wünschen. Ich dachte an die amerikanische Schauspielerin
Liz Taylor. Sie mag in Mangal-Tais Augen mit ihren sieben Ehen in einem
Leben wohl eine ultramoderne Frau sein. Ich lachte und fragte sie: "Also, du moderne Frau,
du bist seit zwei Tagen in Pune und hast uns nicht besucht. Eigentlich
muss ich dir das übel nehmen. Wir haben uns so lange nicht gesehen!" Mangal-Tai entschuldigte
sich bei mir und sagte: "Sei nicht sauer auf
mich. Wir waren sehr beschäftigt. In diesen paar Tagen haben wir fünf
Brautschauen für meinen Sohn Prasanna gehalten. Ja, er ist 30 und
fast über das Heiratsalter hinaus. Aber es war reine Zeitverschwendung.
Ihm hat keine von denen gefallen. Was soll man machen?" Ich schaute in Prasannas
Richtung, wo er sich mit anderen Männern unterhielt. "Ja, er ist ein hübscher
Junge und kann ruhig wählerisch sein, wenn er eine passende Frau für
sich aussucht, und selbstverständlich Manga-Tai, nur für das
eine Leben!" sagte ich halb scherzend und fragte weiter, "Was macht er?" "Prasanna hat sich selbständig
gemacht und eine Teefirma von seinem Onkel übernommen. Ein Qualitäts-Tee,
das sage ich dir, Uma, und er ist erfolgreich, sehr sogar. Er hat zwei
Filialen in Pune und auch eine in Mumbai", sagte sie, stolz auf ihren Sohn. Wir grüßten
gemeinsam andere Verwandte, und später fragte mich Mangal-Tai in vertrautem
Ton: "Sag mal, Uma, es ist
mir heute ganz zufällig zu Ohren gekommen, dass der ältere Bruder
von Avi eine heiratsfähige Tochter hat. Weißt du vielleicht,
welches Sternzeichen sie hat?" "Willst du nicht erst
mal wissen, wie sie heißt und was sie macht?" fragte ich sie zurück. "Ist nicht wichtig",
sagte Mangal-Tai unbekümmert, "Hauptsache, dass die Horoskope übereinstimmen.
Mindesten 36 Eigenschaften müssen zueinander passen, weißt du,
danach kann man weiter sehen." "Du redest, ob du Prasannas
Geburts- und Horoskop-Urkunden die ganze Zeit mitschleppst", sagte ich
überrascht. "Ja, freilich, was denkst
du denn? Ich habe immer eine Kopie mit in meiner Handtasche. Man kann nie
wissen", sagte Mangal-Tai und machte die Klammer von ihrer Handtasche auf,
um mir zu beweisen, dass sie tatsächlich eine pflichtbewusste und
sorgfältige Mutter sei. Ich entdeckte eine uralte Silberdose in ihrer
Handtasche, die meiner gestorbenen Tante gehört hatte. "Hast du die
geerbt? Sind da immer noch die gleichen Esssachen?" fragte ich sie neugierig.
Mangal-Tai machte die kostbare Dose auf und bot mir den Inhalt an. Sie
war gefüllt mit Nelken, Kardamom und mit Feñchelkörnern.
Ich nahm mir eine grüne Kardamom und steckte sie in den Mund. Ich
versprach ihr, dass ich mich nach Avis Nichte erkundigen und ihr heute
schon Bescheid geben werde. Ich wurde gerufen, die
in einem flachen Weidenkorb stehenden Lichter anzuzünden. Ich wusste
nicht, warum. Aus rotem Weizenteig waren 16 Lichtbehälter geformt,
die mit Butterfett und Wattedochten gefüllt waren. Ich nahm Feuer
vom brennenden Sandelholz. Zügig kam Alka zu mir und nahm den angezündeten
Stock aus meiner Hand. "Geh du mal lieber dich
um die Gäste kümmern!" sagte sie zu mir und zündete die
Lichter selbst an. Ich war überrascht und fühlte mich beleidigt,
aber meine Neugier war größer. Ich ging zu Manma, die mit anderen
älteren Frauen zusammensaß. Ich machte sie aufmerksam auf die
Lichter und fragte nach ihrer Bedeutung. Und fragte sie auch, warum ich
die Lichter nicht anzünden durfte. Manma schaute dort hin, wo Avi
und Sujata den leuchtenden Korb auf das Haupt von Amits Eltern und von
anderen nahestehenden Angehörigen stellten. Sie sagte: "Du hast noch kein Kind
geboren, deshalb bleibst du lieber fern von dem Ritus, bevor jemand dich
direkt anspricht. Bitte nimm es nicht so persönlich. Weißt du,
warum da 16 Lichter sind?" "Warum?" fragte ich. "Wie die ab- und zunehmenden
Mondsicheln so sollte das Brautpaar die auf- und abgehenden Schicksale
in seinem Leben gemeinsam liebevoll durchstehen, und die Verwandten sollten
ihnen dabei hilfreich sein. Avi und Sujata geben diese Verantwortung allen
neun Leuten", informierte Manma mich. Ich sagte: "Zum gleichen
Zweck sollten Amits Eltern mit dem Korb auch unsere Köpfe berühren!" "Meine Liebe", sagte
Manma zu mir, "wir haben unsere Tochter in dieses Haus gegeben und nicht
umgekehrt. Deine Emanzipations-Anfälle wundern mich, sie sind manchmal
fehl am Platz." Ich schaute meiner klugen
Mutter tief in die Augen und schämte mich danach. Rashmi kam mit ihren
Freundinnen in einer gelborangenen Sari nach unten. Sie wurde sofort zu
einer Ecke begleitet, wo ein Schrein der Göttin Gauri aufgestellt
war. Im Hinduismus wird diese Ehefrau Shivas besonders geehrt. Diese Prinzessin,
Tochter des Gebirges, hatte einen Asketen geheiratet und ging mit ihm als
arme Frau in den Himalaya. Die Göttin Gauri wird auf Hochzeiten von
der Braut geehrt, weil sie ihren Reichtum und ihren Königstitel wegen
ihrer Liebe zur Gott Shiva aufgab und mit ihm ein einfaches Leben verbrachte.
Sie adaptierte die fremde Kultur, den Lebensstil und die Ideale ihres Mannes.
Der rote Schrein der
Göttin Gauri war mit Blumen geschmückt. Ihre Silberstatue war
auf ein Reisbett gesteckt. Rashmi wurde von dem Priester angewiesen, der
Göttin parfümierte Reiskörner zu opfern und dabei mit geschlossenen
Augen ständig zu beten. Rashmi war ernst und betete hoffnungsvoll
für ihre Eheglück. Amit kam von draußen,
wo er die Sonne geehrt und das Gleiche gewünscht hatte. Er hatte nun
einen weißen Hut, ein langes braunes Hemd und eine weiße Hose
an. Vor seinem Gesicht hing ein Schleier von Blumengirlanden. Er machte
seinen Weg durch die Menschenmenge zur Mitte des Saales. Die Zeit war gekommen.
An alle Gäste waren Reiskörner verteilt worden. Vor dem Podest
waren niedrige Holzbänke aufgestellt. Die Priester hielten ein mit
Svastiken bemaltes Baumwolltuch hoch. Ich erklärte Dorothee und Sabrina,
was zu tun sei, wenn der Priester singt. Amit stand auf einer Bank mit
dicht geknüpften Rosengirlanden in den Händen. Sein Antlitz war
hinter dem hochgehaltenen Tuchschleier verdeckt. Kurz nach zehn Uhr kam
Rashmi, den Blick zu Boden gewandt und mit einer Rosengirlande in den Händen.
Sie wurde von zwei Jungfrauen begleitet. Janu trug einen geweihten Wasserkrug
mit einer Kokosnuss, und das andere Mädchen eine Lichterlampe. Sujata nahm Rashmis Platz
vor dem Schrein der Göttin Gauri ein. Als Mutter der Braut durfte
sie die Trauung nicht sehen. Sie hielt zwei Tassen in den Händen,
eine war mit Milch und die andere war mit etwas Zucker gefüllt. Nach
der Trauung sollte sie die beiden Zutaten zusammenmischen und die süße
Milch trinken.
"Durch die Wahrheit wird
die Erde emporgehalten, durch die Sonne
wird der Himmel emporgehalten. Durch das Gesetz
haben die Himmlischen Bestand, und ist der Nektarmond
in den Himmel versetzt",
fing ein Priester an,
die Verse des Hochzeitslieds aus dem Rigveda zu singen. Alle Gäste standen
auf und hörten dem Gesang aufmerksam zu. Am Ende jeder Strophe rief
der Priester: "Achtung, unter glücklichem Vorzeichen nähert sich
die Hochzeit", und alle warfen die Reiskörner auf die Brautleute,
die zu beiden Seiten des hochgehaltenen Tuches still dastanden, ohne einander
zu sehen.
"Durch den Nektar sind
die Himmlischen stark, durch den Nektar
ist die Erde groß, und in den Schoß
dieser Sternbilder ist der Nektarmond gestellt. Achtung, unter
glücklichem Vorzeichen nähert sich die Hochzeit",
war der zweite Vers.
"Dornenlos, richtig sollen
die Wege sein, auf denen eure
Freunde auf die Werbung ausziehen. Aryaman und Bhaga
sollen euch zusammenführen. Gemeinsam soll
ein leicht zu führendes Hausregiment sein, o Götter! Achtung, unter
glücklichem Vorzeichnen nähert sich die Hochzeit."
Die Priester sangen rührend
hoch, mit ihren Tenorstimmen einander abwechselnd. Beim Wort "Achtung"
dachte ich an "Denn beim letzten Verse stech ich!" von Edmond Rostands
Cyrano de Bergerac. Ich musste lachen, weil ich mich in diese ernste Stimmung
nicht richtig hineinfinden konnte. Als ein paar Reiskörner auch auf
meinen Kopf fielen, landete ich innerhalb von Sekunden wieder in der Realität.
"Hier soll dir Liebes
durch Kinder zuteil werden, über diesem
Haus wache für das Hausregiment! Mit diesem Gatten,
liebe Rashmi, vereine deinen Leib und noch im Greisenalter
sollt ihr beide weise Rede führen! Achtung, unter
glücklichem Vorzeichen nähert sich die Hochzeit."
Rashmi zitterte und weinte
lautlos hinter ihrem blumenbedeckten Gesicht. In diesem Moment konnte sie
weder ihre Familie noch ihren Mann sehen. Sie war ganz auf sich allein
gestellt. Ich bewunderte ihre Frömmigkeit und ihre Stärke, die
ganzen Zeremonien durchzustehen.
"Nicht sollen Wegelagerer,
die auflauern, dich, Amit, antreffen. Auf guten Wegen
sollst du dem gefahrvollen Weg entgehen. Die Unholdinnen
sollen davonlaufen. Achtung, unter
glücklichem Vorzeichen nähert sich die Hochzeit."
Wie in Trañce
warf ich die Reiskörner mit anderen zusammen auf das Paar, als der
Priester nach der Strophe eine kurze Pause machte.
"Bringe sie hin, oh Sonnengott,
die gar Erfreuliche, in die die Menschen
den Samen säen, die uns verlangend
ihre Schenkel öffnen möge, in die wir verlangend
das Glied stecken wollen. Achtung, unter
glücklichem Vorzeichen nähert sich die Hochzeit."
Der Priester sang weiter:
"Bleibt immer hier, trennet
euch nicht, erreichet das volle Lebensalter, mit Söhnen und Enkeln
spielend, im eigenen Haus fröhlich! Achtung, unter glücklichem
Vorzeichen nähert sieh die Hochzeit."
Die achte und die letzte
Verse wurde lauter und eine Oktav höher gesungen:
"Alle Götter und
die Gewässer sollen euer beiden Herzen verschmelzen. Matarishvan, der
Schöpfer und die Weiserin sollen euch zwei zusammengeben. Von guter Vorbedeutung
ist diese Frau. Kommet alle und
betrachtet sie! Bietet ihr Glück
und geht dann auseinander nach Hause. Achtung, unter
glücklichem Vorzeichen steht jetzt die Hochzeit."
Der astrologisch ermittelte
Zeitpunkt war nun erreicht. Die Priester ließen das Tuch zwischen
dem Brautpaar herunterfallen. Rashmi schaute in Amits Augen und legte die
Blumengirlande um seinen Hals. Amit sah seine Braut an und tat dasselbe.
Alle applaudierten, und laute Musik wurde gespielt.
Neben mir standen meine
beiden Neffen. Ich hörte einen den anderen fragen: "Ich weiß nicht,
warum in Hochzeiten immer Reis geworfen wird?" "Weil die Tomaten Flecken
machen, du Idiot", antwortete Yash. Ich lachte. Beim Gaurischrein trank
Sujata die süße Milch mit Tränen in den Augen aus und ging
aufgeregt zu ihrer verheirateten Tochter, um sie zu umarmen. Alle waren
plötzlich laut nach der langen Stille, und ich zog mich zurück.
Ich wollte allein sein und flüchtete auf die erste Etage in unserem
Ankleidezimmer. Dort schlief auf einer Matratze ein kleines Mädchen
in weißem Kleid. Ich legte mich neben sie und schloss die Augen. Wie richtig, dachte ich
mir, war der Entschluß meiner Nichte gewesen, vedisch zu heiraten
statt nur gesetzlich in einem Standesamt. Durch die verschiedenen Rituale
wurde der eigentliche und wahre Sinn der Heirat dem jungen Paar eingeprägt,
und die alte Tradition weiter gepflegt. Die zahlreichen Zeremonien mögen
einem zum Teil primitiv und archaisch vorkommen, aber sie sagen nicht viel
anderes als ein moderner aufgeklärt-rationaler Eheschluss. Nur die
Rituale sind altertümlich, haben aber auch ihren eigenen Reiz. Für
Inder sind sie lebenswichtig. Sie leben in 21. Jahrhundert und arbeiten
schöpferisch und erfolgreich überall auf dieser Welt, aber wenn
sie ihre Hausschwelle betreten, leben sie im Mittelalter. Warum? Garantiert
die eigene Tradition eine eigene Individualität? Oder befestigt das
Praktizieren der Religion den Glauben? Ist es eine freiwillige Pflicht,
um seelische Stabilität, Daseinssicherheit und gemeinschaftliche Zusammengehörigkeit
zu gewinnen, den ewigen Bund mit Gott aufrecht zu erhalten? Rashmi war
in ihrem Elternhaus nicht konservativ großgezogen worden. Sie hatte
studiert, lebte und dachte zeitgemäß und wünschte sich
trotzdem eine traditionelle Hochzeit mit einem Mann, den sie liebt. Die Zimmertür ging
auf, und ich nahm die Lautstärke vom Festsaal wahr. Ein hübsches
Mädchen stürmte herein und ich fragte sie: "Wer sind Sie?" "Ich bin die Tochter
von Rashmis Kosmetikerin. Meine Mutter hat ihren Ohrring irgendwo verloren.
Ich habe ihn überall gesucht. Jetzt muss ich mich hier umsehen, bevor
alle anderen kommen", sagte sie verzweifelt. Meine Ruhepause war kurz.
Widerwillig half ich dem Mädchen, den goldenen Clip zu suchen. Ich
hörte halb zu, was sie mir vom Wert des Schmucks und von den Goldpreisen
heutzutage erzählte. "Arundhati, ich habe
den Clip gefunden", sagte eine agile Frau, die eilig ins Zimmer eintrat.
Das muss die Kosmetikerin sein, dachte ich mir, als ich ihre fein gerupften
Augenbrauen sah. Sie nickte mir kurz zu und sagte weiter: "Keine Sorge. Stell dir
vor, er hing die ganze Zeit an meinem Sarizipfel!" "Dann haben Sie aber
Glück gehabt", sagte ich und war erleichtert, dass die Suchaktion
in dem Rummel ein Ende gefunden hatte. Rashmi kam wieder in das Zimmer,
um sich noch einmal umzuziehen. Ich gratulierte ihr und redete sie als
Mrs. Apte an. "Wie oft willst du noch
die Sari wechseln?" fragte ich sie. "Heute ist es die letzte",
sagte Rashmi glücklich und zeigte mir eine türkisblaue Sari mit
goldenen Punkten und rotem Rand, "Wie findest du sie?" "Sehr schön", sagte
ich anerkennend und fragte weiter scherzend, "Und dein Ehemann? Welche
Sari zieht er jetzt an?" "Er zieht einen grauen
Anzug an, leider ohne Krawatte", sagte eine von Rashmis Freundinnen, die
sie begleitete, "und ein weißes Hemd mit hochgestelltem grauen Kragen.
Und das lockere Hemd hat fünf silberne karierte Knöpfe." "Woher weißt du
das denn so genau?" fragte Rashmi Manu, "Hast du ihn etwa beim Umziehen
heimlich beobachtet?" "Diese Freude überlasse
ich dir, Rash, für heute Nacht", sagte Manu großzügig und
lachte laut, "Was Kleider angeht, bin ich präzise wie ein Eulenauge.
Es ist mein Beruf." Ich erinnerte mich, dass
sie eine eigene Boutique hatte und selbst die Kleider entwarf. Ich fragte
sie neugierig: "Hast du den Anzug für
ihn entworfen und genäht?" Manu half Rashmi, die
gelb-orangene Sari auszuziehen, die mit mehreren Sicherheitsnadeln befestigt
war. Gleichzeitig hielt eine andere Freundin Rashmis Halsketten hoch, und
die Kosmetikerin puderte ihre Wangen mit einem langen buschigen Pinsel.
Aber nichts hinderte Rashmi an einem lustigen Geplauder. Sie sagte: "Hör mal, Uma, Manu
ist meine Freundin. Sie kann nicht für die andere Familie irgendwelche
Anzüge nähen." Die Kosmetikerin betrachtete
Rashmis Gesicht wie eine Malerin und hielte die Puderpinselspitze zwischen
ihren Lippen. Sie mahnte Rashmi: "Es ist jetzt nicht mehr die andere Familie.
Du bist jetzt am anderen Ufer angelangt. Darf ich dich daran erinnern,
Mrs Apte?" "Oh Scheibenkleister...,
nein, ich meine oh Gott, doch, ich bin nun verheiratet", wunderte Rashmi
sich über sich selbst und lachte herzlich. "Ja, verheiratet, aber
nur ein bisschen", sagte Janu hüpfend, die auch mit nach oben gekommen
war. "Aber eins verstehe ich
nicht", sagte Rashmi, als sie ihren Unterrock wechselte, und warf Manu
einen ahnungsvollen Blick zu, "Woher weißt du, was Amit für
den Empfang anzieht?" Manu wurde rot im Gesicht
und gestand zögernd, "Na ja." Sie suchte nach den richtigen Worten:
"Ich war kurz, aber ganz kurz, ehrlich, im Bräutigams-Zimmer gewesen.
Dort hing dieser Anzug auf einem Bügel, und ich habe mir ihn genau
angeschaut." "Und du warst ganz zufällig
und ganz aus Versehen im Bräutigams-Zimmer gewesen?" Rashmi ahnte
etwas und bohrte weiter, wobei Manu immer hilfloser zu sein schien. "Großer Gott, ja",
sagte Manu, "ich habe dort mit Amits Freund ein paar Worte gewechselt,
aber rein beruflich. Du weißt schon, der, der mit den Torso-Puppen
handelt." Rashmi freute sich, dass
sie recht hatte, und fragte Manu neugierig, "Findest du ihn charmant?" Als Manu ihr mit gesenktem
Blicken antwortete, versicherte Rashmi ihr: "Ich werde darüber mit
Amit reden. Ich wusste von Anfang an, dass es Liebe auf den ersten Blick
war, als ihr beide letzten Monat mit uns zusammen in der Disco wart. Ich
hatte wohl recht!" Janu fand Manus verliebtes
Gesicht sehr schön, stellte sich auf die Zehenspitzen und flüsterte
hochgereckt in ihre Ohren: "Hast du jetzt Schmetterlinge im Bauch, Manu?" "Ja, und jede Menge und
sie sind gigantisch groß, wie die Drachen, und sie sind hungrig auf
kleine neugierige Mädchen wie du", sagte Manu und hielt Janu fest
in ihren Armen. Janu schrie, zappelte und versuchte sich aus ihrem festen
Griff loszureißen. Sujata klopfte an die
Zimmertür und erkundigte sich, ob Rashmi fertig angezogen war. Wir
beeilten uns, und ich war die letzte, die das Zimmer verließ. Das
kleine Mädchen im weißen Kleid schlief immer noch seelenruhig
auf der Matratze und ich beneidete sie. Dorothee und Sabrina standen auf
den Balkon und betrachteten das Menschengewühl. Ich fragte die beiden,
ob sie sich amüsierten. Sie wollten kurz raus, um die Beine zu vertreten,
und ich beruhigte sie, dass die Festmahlzeit mehrmals serviert wird und
sie jederzeit essen konnten, wenn sie Hunger bekamen. Am hellichten Tag wurde
im Garten ein Feuerwerk veranstaltet, nur um Krach zu machen und um der
Umgebung bekanntzugeben, dass die Hochzeit ohne Hindernis stattgefunden
habe. Ich traf wieder so viele Bekannte und redete mit ihnen in den üblichen
Begrüßungsformeln, "wie geht’s" und "erinnerst du dich noch
an" und "nein, mein Mann ist nicht mitgekommen" und "ja, ich komme Euch
sicher besuchen oder ich rufe wenigstens an, bevor ich zurückfliege". Rashmi und Amit saßen
auf königlich geschmückten Lehnstuhlen auf einem hohen Podest
und nahmen die Glückwünsche entgegen. Die Gäste traten von
der rechte Seite des Podests in einer Reihe an, redeten und schenkten dem
Brautpaar Kleinigkeiten und verließen dann das Podest zur linken
Seite. Ab und zu wurde fotografiert. manchmal war es chaotisch, aber das
jung vermählte Paar sah glücklich und unermüdlich aus. "Geh bitte Raju begrüßen",
sagte Sanyu, die von einen großen Tablett Süßigkeiten
unter die Gäste verteilte, zu mir im Vorübergehen, "Er ist mit
seiner Ehefrau im Speisesaal." Ich freute mich riesig
über das Wiedersehen mit meinem alten Spielkamerad und rannte los
in den Speisesaal. Das Festmahl war serviert und ich wartete, bis das Gebet
zu Ende war. Er saß mit seiner Frau und Tochter in der mittleren
Reihe und winkte freundlich zu mir herüber. Als ich zu ihm ging, sprach
er mich an: "Immer die gleiche alte Kartoffelnase!" Ich begrüßte
ihn mit unserem alten Ritual, nämlich mit Klaps, Handdruck, Knipsen,
Faustboxen, den Daumen Zeigen und auf die Schulter Klopfen. Wir waren immer
noch perfekt und nicht aus der Übung. Aufgeregt redeten wir gleichzeitig
in halben Sätzen und erkundigten uns nach unserem Wohlergehen. Seine
Frau war die Güte selbst. Ihre sanftes Wesen und die perfekte Beherrschung
unserer Muttersprache habe ich immer bewundert. Kein Wunder, sie arbeitete
als Radiomoderatorin in Mumbai. Ich erinnerte mich gut daran, wie sie uns
zur Hilfe kam, als mein Vater in seinem letzten Tagen im Krankenhaus lag.
Einmal spät Abends brauchte er dringend ein wichtiges Medikament,
das nur in einer Zentralapotheke in Mumbai vorhanden war. Raju und seine
Familie wohnten in unmittelbarer Nähe zu dieser Apotheke. Ausgerechnet
an dem Tag gab es einen Taxi-Streik in Mumbai. Halb Elf abends reisten
Sanyu und Sujata 45 km weit mit der Bahn ins Zentrum der Metropole. In
der Zwischenzeit besorgte Rajus Ehefrau mit ihrem Moped die Medikamente.
Raju war verreist, und die Männer unserer Familie waren in Pune. Damals
hatten alle drei Frauen Mut gezeigt und sich mitten in der Nacht gegenseitig
geholfen und einander getröstet. Ich bedankte mich erneut bei ihr
von ganzem Herzen dafür. "Es war selbstverständlich",
murmelte sie mit ihrer wunderschönen Stimme. "Wohnst du in Stattgard,
Tante Uma?" fragte mich Rajus kleine Tochter. "Sie nimmt in Länderkunde
gerade Europa durch", informierte mich Rajus Frau und korrigierte ihre
Tochter. Raju mischte sein Gelbe-Linsen-Curry mit Reis und sagte dazwischen: "Nein, unsere Kartoffelnase
wohnt an der anderen Seite der Mauer." "Die gibt es schon lange
nicht mehr", sagte ich zu Raju. "Na ja", sagte Raju und
kaute seine Reisportion zu Ende, "politisch und geographisch vielleicht.
In den Köpfen gibt es immer noch die Grenze. Hat dein rheinländischer
Mann Probleme damit?" Ich wunderte mich, woher
er über Ost und West Bescheid wusste, und fragte ihn danach. "Aus der Zeitschrift
India Today. Da sind manchmal ausländische Nachrichten unter dem Titel
World Prisma. Da sind nicht nur Meldungen über Deutschlands Außenpolitik,
sondern die guten Reporter berichten auch über interne Schwierigkeiten
und setzen sich mit der Problematik auseinander", erzählte er. Ich erschrak ein bisschen,
als die Kleine ihren Vater fragte: "Baba, ist Stuttgart in German Democratic
Republik oder in Federal Republik of Germany?" "Es ist in Germany",
sagte ihre Mutter, "Und halt bitte deine Handfläche sauber, wenn du
isst." Als ich mich mit Raju
unterhielt, kam Tante Mai zu mir. Sie bat mich, ihren künstlichen
Zahn, den sie zu Hause vergessen hatte, abzuholen. "Nach dem Mittagessen
fahren wir nach Mumbai zurück. Und mein treuer Dritter liegt einsam
im Wasser in einer Dose", sagte sie zu mir. Ich versprach es ihr und verabschiedete
mich widerwillig von Raju und seiner Familie. Gegen Mittag fuhr ich
mit Dorothee und Sabrina nach Hause. Die beiden wollten auch gegen 16 Uhr
abreisen, vorher noch packen und ein bisschen ausruhen. Mehrere Stunden
Busfahrt nach Gokarna hatten sie noch vor sich, und eine Nachtfahrt mit
indischen Bussen ist eine Strapaze! Beide hatten so viel eingekauft, dass
ihre Gepäck viermal so schwer war wie vorher. Ich verabschiedete mich
von Dorothee und Sabrina. Es war schön gewesen, die beiden in den
Hochzeitstagen bei mir zu haben. "Alles Gute für
den restlichen Indienaufenthalt, und ein baldiges Wiedersehen in Deutschland",
sagte ich und Sabrina antwortete: "Gleichfalls". Gleichfalls, dachte ich
mir, als ich mit Tante Mais Zahn wieder zur Festhalle fuhr. Ich war auch
nur ein Hochzeitsgast hier, ähnlich den beiden. Eines Tages musste
ich nach Hause zurück, aber ich war auch hier zu Hause, so empfand
ich zumindest. Am Eingang der Festhalle
sah ich Prasanna, der mit ein paar jungen Leuten auf der Veranda redete.
Dort waren mehr Zahlen als Wörter zu hören. Prasanna war ein
Genie in Mathematik. Das wusste ich, deshalb blieb ich auf der Veranda
stehen. Prasanna rechnete laut in seinem Kopf, und ein anderer Junge verglich
es mit den Zahlen auf der Hochzeits-Einladungskarte. "98 : 2 = 49, Rest 0;
49 : 2 = 24, Rest 1; 24 : 2 = 12, Rest 0; 12 : 2 = 6, Rest 0; 6 : 2 = 3,
Rest 0; 3 : 2 = 1, Rest 1; 1 : 2 = 0, Rest 1. Also Ergebnis 1100010. Stimmts?"
fragte Prasanna. "Er hat die Dezimalzahl
98 in eine Dualzahl umgerechnet", sagte ein junges Mädchen zu mir,
als ich ihr einen Schubs gab und mit einer Fingergeste die Frage stellte,
was er da zählte. "Ja ", nickte der Junge,
"jetzt die Dezimalzahl von, sagen wir zum Beispiel, Dualzahl 10111." "Dezimalzahl 23. Es ist
so einfach", sagte Prasanna. "556", fragte der Junge
eifrig und gab es auf, Prasannas Angaben auf dem Papier nachzurechnen,
weil es zu lange gedauert hätte. "Dualzahl 1000101100",
antwortete Prasanna innerhalb von Sekunden. Die Jungen stellten ihm
mehrere algebraische Aufgaben und waren am Schluß ganz überzeugt
von seiner Schnelligkeit und mathematischen Kompetenz. "Du bist der Nachfolger
von Bhaskaracharya", lobte ihn eine Oma, die sich auch der Gruppe beigesellt
hatte. Bhaskaracharya war ein bedeutender indischer Mathematiker und Astronom
in 12. Jahrhundert. Irgendwann einmal schenkte
Prasanna mir seine Aufmerksamkeit, als wir zusammen in den Speisesaal zum
Festmahl gingen. "Deine Sari ist nass,
was hältst du so fest in den Händen?" fragte mich Prasanna. "Eine Zahl – entschuldige,
ein Zahn!" stotterte ich und kam von meiner Bewunderung für ihn wieder
in die Realität zurück. Das Wasser leckte aus der Zahndose auf
meine Sari, und ich fragte mich, wo Tante Mai sein könnte. Als wir
unsere Plätze zum Essen einnahmen, kam Tante Mai selbst persönlich
zu mir und fragte: "Es hat aber lange gedauert
Uma. Wo bist du bloß stecken geblieben? Ich bin zu alt, hinter meinem
Backenzahn herzulaufen".
Das Gebet vor der Mahlzeit
rettete mich und verschonte mich vor weiteren Angriffen. Rashmi und Amit
mit ihren Eltern saßen auch beim Essen. Für das Brautpaar wurde
das Mahl auf großen Silbertellern serviert. Statt mit Rangoli waren
die Teller mit gemaltem Holz umrahmt. Darauf brannten kleine elektrische
Lichter. In früheren Zeiten wurde das Hochzeitsmahl auf Bananenblättern
serviert, und nach dem Essen wurden die zusammengefalteten Blätter
mit den Essensresten den Kühen draußen zum Fressen gegeben.
Eine umweltfreundliche Entsorgung, die zugleich eine gute Tat war, nämlich,
die heiligen Kühe zu füttern, und verhinderte, dass die Tenside
der Spülmittel ins Grundwasser liefen, und natürlich die Abwascharbeit
sparte! Beim leckeren Essen unterhielt
ich mich mit Prasanna über seine Teefirma. "Wie heißt dein
Tee, und welchen Tee bearbeitest du?" fragte ich ihn. "Ich handele nur mit
purem Assam-Tee. Bearbeitet wird er irgendwo anders. Mein Tee heißt
Gold Pot Tea. Es ist ein Broken Tea, CTC.", informierte er mich. "Klingt schön, aber
was heißt Broken Tea und dein CTC?" fragte ich neugierig. "Broken Tea ist die feinste
Handelssorte des schwarzen Tees. Natürlich ist Flowery Orange Pekoe
die beste Sorte, bei der die unentwickelten Blättchen, die noch einen
weißen Haarflaum haben, bearbeitet werden. Meine Onkel haben früher
nur mit Fannings gehandelt. Jetzt schau mich nicht so an wie ein Rehkalb.
Fannings besteht aus Kleinblatt-Tee, der für Aufgussbeutel verwendet
wird. Fannings und der Teestaub fallen gewissermaßen in der Fabrikation
vom eigentlichen Blatt-Tee ab. Ich habe vor fünf Jahren das Firmenkonzept
geändert und meinen losen Broken Tea auf den Markt geworfen", sagte
er. "Und du hast Erfolg damit,
das habe ich gehört", sagte ich. "Ja, aber am Anfang war
es nicht einfach, die Alten zu überreden. Wolltest du nicht auch wissen,
was CTC ist?" fragte mich Prasanna. Ich war erstaunt, weil indische Männer
normalerweise nicht so gern über ihren Beruf reden, und schon lange
nicht mit einer Frau. Mein Vater hat nie von seiner Arbeit erzählt.
Neue Generation und neue Zeiten, dachte ich bei mir und ließ ihn
weiter berichten. "CTC ist ein Beschleunigungsverfahren
bei der Bearbeitung der Teeblätter. Crushing, Tearing und Curling
heißen die Prozeduren. Dabei laufen die frischen Blätter durch
gerippte Walzen, die mit verschiedener Geschwindigkeit gegeneinander laufen.
Die zerquetschten Blätter kommen in einer 1,5 bis 3 cm hohen Schicht
auf Horden, wo die Gärung in ein bis zwei Stunden abläuft. Ohne
CTC Verfahren dauert die Gärung lange, und die Bearbeitung ist umständlich.
Seit 70 Jahren nutzt man diese Methode." "Und nach der Gärung
ist der Tee verwendbar?" fragte ich. "Nein, noch lange nicht",
sagte Prasanna, "Bei der Gärung oxidieren die Gerbstoffe des Blattes,
ändert sich die Farbe und entwickelt sich das Teearoma. Danach werden
die Blätter schließlich mit warmer Luft auf Horden getrocknet
und in mit Metallfolie ausgelegten Kisten verpackt. Und ich zaubere meinen
Tee aus dem, was in diesen Kisten angeliefert wird." "Mit dem Spruch Simsalabim?"
scherzte ich mit ihm. "Ja, mit diesem Simsalabim
verdiene ich meinen Lebensunterhalt", sagte Prasanna und lachte. Ich wusste,
dass die Mischung der verschiedenen Sorten und die Erntezeiten des Tees
Betriebsgeheimnis waren. Er war nicht nur der Agent, der Tee verpackte
und in seinen Filialen verkaufte, sondern er hatte sein eigenes Rezept.
Ich war überrascht, als er mich fragte: "Möchtest du den
Gold Pot Tea kosten?" "Wie?" fragte ich nach,
"Deine Mutter läuft ja mit deinem Horoskop in ihrer Handtasche herum,
jetzt sag bitte nicht, dass du auch mit deinem Probetee in der Tasche herum
läufst!" "Ah, sie ist verrückt.
Aber ich kann meinen Agent in Pune anrufen und innerhalb von einer Stunde
hast du dann Tee. Den kannst du nach Deutschland mitnehmen." Und ohne auf meine Antwort
zu warten, holte er sein Handy aus der Hosentasche und wählte eine
Nummer mit der linken Hand. Während er auf den Gesprächspartner
wartete, erläuterte er: "Mein Tee lässt
sich rascher zubereiten und ergibt kräftigere Aufgüsse. Das verspreche
ich dir Uma. Ja, hallo, ich bin's..." Seit ich das Horoskop
erwähnt hatte, dachte ich an seine Brautschaupläne. Während
er telephonierte, schaute ich umher und entdeckte Rashmis Kusine, die noch
vorhin als Heiratsfähige Prasannas Mutter aufgefallen war. Die junge
Zahnärztin war gerade damit beschäftigt, das Brautpaar aufzuziehen.
Sie stopfte Süßigkeiten auf Amits Teller und beklagte sich danach
bei Rashmi darüber, dass ihr neugebackener Ehemann zuviel isst. Ein
üblicher Spaß beim Essen. "Prajakta, komm bitte
hierher. Ich brauche auch eine Jilebi", rief ich ihr zu. Amit schaute dankbar
zu mir hinüber, aber ich brütete etwas ganz anderes aus. Er wedelte
mit seiner Hand Prajakta fort: "Weg, weg mit dir!" Sie eilte zu meinem Tisch,
bediente mich kurz, und bevor ich zu Wort kam, lief sie wieder zum Brautpaar.
Ich ärgerte mich über ihre Schnelligkeit. Ich wollte sie doch
nur mit Prasanna bekannt machen und hatte mit meiner Ungeschicklichkeit
die Chañce verpasst. Na ja, dachte ich mir, Ehen sind bei Gott vorgeplant.
Wenn er es will, werden sie vielleicht eines Tages ein Paar und wenn nicht,
dann kann ich auch nichts daran ändern. Und die 36 Eigenschaften vom
Horoskop spielen auch ihre Rolle. Ich hatte eigentlich
zu Ende gegessen und war mehr als satt. Ich schaute traurig die Jilebi
in meinen leeren Teller an und atmete tief auf! Prasanna hatte keine
Ahnung von meine Mühe. Er drückte den roten Knopf von seinem
Handy und sagte freundlich zu mir: "So, das ist auch erledigt.
Bald hast du den Tee. Ist es gut so?" Ich nickte schwach, und
wir gingen in den Waschraum, um unsere Hände zu waschen. Der Speisesaal war zu
klein für etwa 500 Hochzeitsgäste, deshalb wurde das Festmahl
sechsmal serviert. Nach dem Essen gingen auch viele Leute nach Hause, und
nur wenige Verwandte und ein paar Freunde der Familien blieben zurück. "Die Festhalle ist nur
bis 17 Uhr gemietet", erzählte mir Nandu, "Heute Abend ist wieder
eine andere Trauung." "So ein Hochbetrieb",
antwortete ich ihm ziemlich müde. Ich hatte das dringende Bedürfnis,
Siesta zu machen. Ich wollte hinauf in das Brautzimmer, aber es war schon
aufgeräumt. Die Putzmänner waren im Einsatz. Mir graute vor der
Abschieds-Zeremonie. Es würden wieder viele Tränen vergossen
werden bis zum Gehtnichtmehr. Ich wollte mir das sparen. Die Hochzeit war
wunder-wunder-schön und ich wollte sie, wie sie bis jetzt war, in
Erinnerung behalten. Ich ging zu Rashmi und gab ihr einen Kuss. Ich sagte
Manma Bescheid und fuhr nach Hause. Die Wohnung meiner Mutter
war leer. Als ich völlig erschöpft in meinem Bett lag, dachte
ich mir, das war's, und es war wirklich so. Ich konnte nicht weiterdenken
und schlief sofort ein. Der Baulärm von
draußen weckte mich gegen 18 Uhr nachmittags. Ich befreite mich von
meinem Schmuck und meiner Sari und ging lange unter die Dusche. Ich wunderte
mich, warum alle anderen noch nicht zurückgekommen waren. Ich kochte
eine Tasse Tee für mich und starrte meine Henna-bemalte Hand an. Die
kleinen und unbedeutenden Erinnerungen von Rashmis Kindheit bedrängten
mich. Ich fühlte mich, als stünde ich in einem warmen Regen.
Aus der Nachbarwohnung wehte ein Radiolied herüber: "Es mögen
Äonen kommen und gehen, aber die kurzen Momente der Erinnerungen vergehen
nicht." Ich lachte über
meine Sentimentalität und schrieb ein bisschen in meinem Tagebuch. Abends gegen halb acht
kamen Manma und Sanyu nach Hause mit zwei Pfund Gold Pot Tee für mich. "Na, ging alles gut mit
dem Abschied?" fragte ich die beiden vorsichtig. "Ah wo?" sagte die kleine
Janu, "Tante Sujata, Tante Neeta und Aai haben so sehr geweint, dass da
eine richtiger See vor der Hochzeitshalle entstanden ist, und in diesem
Tränensee habe ich selbstgebastelte kleine Schiffchen segeln lassen.
Auf ein Schiff habe ich sogar Menschen gemalt, wie die auf der Titanic.
Und als sie sanken, haben sie geschrien: Wasser, Wasser überall, aber
kein Tröpfchen zum Trinken." Sanyu konnte ihre phantasiereisende
Tochter nicht mehr ertragen. Sie schickte Janu nach oben. "Wir waren alle zusammen
bei Amit. Familie Apte hat eine wunderschöne große Wohnung mit
vier Schlafzimmern und einer Dachterrasse", erzählte Sanyu, als sie
sich auf das Sofa fallen ließ. "Habt ihr Rashmis Schlafzimmer
gesehen? Wie sieht es aus?" fragte ich. "Wir konnten nicht so
unhöflich sein. Es war unser erster Besuch bei ihnen", sagte Manma,
"aber mein Engel hat alles richtig gemacht und hat mit dem rechten Fuß
das Haus betreten. Möge Gott, dass sie in diesen Haus glücklich
wird." "Das wird sie bestimmt",
sagte ich, um Manmas Wünsche zu bestärken. Danach berichtete Sanyu
vom Tempelbesuch mit dem neu verheirateten Paar, bevor sie die beiden nach
Hause begleitet hatten. Sie und Manma unterhielten sich lange über
die verschiedenen Zeremonien, über die Priester, wo sie kleine Fehler
gemacht hatten, über die Geschenke, die ausgetauscht worden waren,
über die Gäste, die unpassend angezogen waren und über das
Festmahl. Ich schaltete einfach den Fernseher ein und wählte den Kanal,
der alte Hindifilmlieder sendete. Das störte die beiden nicht. Wir
drei versuchten jede auf ihre eigene Art und Weise die Leere nach der Hochzeit
zu verarbeiten.