Vierhundert
Jünglinge – Der Naturmythos ist offenbar: Vernichtung eines
ganzen Stammes durch ein Erdbeben. Indessen dürfen wir uns mit diesem
oberflächlichen Euhemerismus nicht begnügen. Zunächst einmal
kann die Zahl nicht zufällig sein. Die Mayas rechneten die Zeit in
Einheiten von 20 Jahren, Katun genannt, und Baktúns von 400 Jahren.
Das Ende der Zyklen war mit großen Feierlichkeiten und Setzung von
Datumstelen verbunden. Es wird also ein von Katastrophen begleitetes Baktún-Ende
in mythologischer Form erzählt. Aber auch der Baktún steht
hier nur für eine größere Einheit. Die zentralamerikanischen
Kulturen kennen vier Weltzeitalter, in dessen viertem wir heute leben.
Rafael Girard hat gemeint, daß der Untergang von Siebenpapagei und
seinen Söhnen das Ende des ersten Weltzyklus bedeutet. Soziologisch
gesprochen ist es der Übergang vom alleinschweifenden Jäger und
Sammler (Siebenpapagei, der Fruchtesser; Zipacná, der Krebssammler)
zur Gemeinschaft der Siedler: Die Jünglinge erbauen die Jungmännerhütte
im Kollektiv. Und sie finden es "nicht gut", daß Zipacná allein
den Stamm trägt Auch die bezeichnende Frage
nach Vater und Mutter, d.h. nach Clan und nágual, gehört
hierher; eben hierdurch entsteht die Bindung zu Gruppen und Stämmen.
Zipacná, der Schweifende, ist die feindliche, die überwundene
Ordnung. Er muß sterben. Bei der Überwindung Cabracáns
wird die Motivkette noch deutlicher, indem die Götterjünglinge
ihrerseits Sippe und festen Wohnsitz leugnen, um das Vertrauen des Nomaden
zu gewinnen.
Ein hoher Mast dient noch heute in Zeremonien zur Erinnerung an die
Seßhaftwerdung. Bei dem von Rafael Girard ausführlich beschriebenen
Tanz der Giganten unter den Chortis bedecken sich die Darsteller von Sonne
und Mond die Gesichter, um getreu der Überlieferung die Dämmerzeit
anzudeuten. Anläßlich des Festes vom 18. bis 21. Dezember in
Chichicastenango wird unter vielfachen Zeremonien ein 20 bis 30 Meter langer
Stamm gefällt und von "400 Jünglingen" zum Hauptplatz des Ortes
geschleppt. Zwei Affenmasken versuchen dann, die Jünglinge am Besteigen
des Mastes zu hindern. Deren vier gelangen schließlich bis zur Spitze
und werfen sich kopfüber in den Raum, an Stricke geknotet, die über
ein Rad an der Mastspitze langsam abrollen. So schweben sie zur Erde: der
Triumph des Menschen über die niedere Natur. Dieses sehr bekannte
Schauspiel des "Palo Volador" kann man auch in Papántla, an der
Golfküste Mexicos, sehen. Da es sich dort um einen in vorgeschichtlichen
Zeiten, vermutlich durch den Einbruch der Olmécas, von den übrigen
Mayastämmen abgetrennten Zweig handelt, steht das sehr hohe Alter
der Popol-Vuh-Überlieferung außer Frage. Der Nahuatologe Juan
Hasler hat den Mythos der 400 Jünglinge auch unter den primitiven
Otomi-Stämmen Mittelmexikos nachgewiesen. (Juan Hasler: Damuzá
– Notas sobre una comunidad Otomi de la Huasteca. Mexico 1952.)
Plejaden
– Hier lautet der Text: "ix cha chicut an ri ix é coc
chi chumila ri Motz u bi cumál", d.i. "Und man sagt von ihnen, daß
sie sich zu den Sternen fügten, die Motz genannt werden." Motz ist
Kurzform des Náhua-Wortes momotzli: Opferaltar. Der himmlische Opferaltar
ist von Brasseur dc Bourbourg und anderen als die Plejaden identifiziert
worden. Man kann auch von Motz – Haufen, Menge ableiten. Alle Bearbeiter
weisen darauf hin, daß hier eines der beliebten Wortspiele vorliegt:
Mótz und omúch (sprich: o-mútsch) vierhundert (Jünglinge).
Ek –
Eine Bromelienart, deren gezacktes Blatt mit ebensolcher roten Blüte
heute "Hahnenfuß" genannt wird.
Pahác
– Nach Ximénez eine kleine Blattpflanze.
Meaguán
– Am Fuß dieses Gebirges liegt der Ort Rabinál,
wo Brasseur de Bourbourg Quiché lernte.
Krebsfang
– Auf dem Rücken
liegen (Mund nach oben) ist die Todesstellung. Der Mythos gerät
immer tiefer in magische Bezüge. Ein Tzotzil-Indio aus Chiapas und,
nach allem von Rafael Girard Berichteten, ein Chorti würde die Sage
so interpretieren: "Der Krebs ist der nágual von Zipacná.
Indem die Zwillinge ihn tot hinlegen (rücklings), ist das Ende des
Riesen gekommen. Er stirbt aber erst, als sie ihn selbst dazu bewegen,
auf dem Rücken zu schwimmen. Da erst wirkt der Zauber." Tatsächlich
wird der Krebs im Text das "Zauberding",
cumatzih (in Maya mactzil), der Zwillinge
genannt.
Und
am Schluß heißt es ausdrücklich: nur durch den nágual
wurde Zipacná besiegt. –
Noch drastischer wird Magie an Cabracán
geübt. Indem sein nicht
namentlich genannter nágual-Vogel in der Kalkerde der Toten geröstet
wird, ißt sich der Titan buchstäblich den Tod an diesem Mahl.
Es ist zudem das Textwort für weiße Erde : "Zahcáb",
das Ritualwort für die weiße Farbe, mit der der Leib von Menschenopfern
bestrichen wurde. – Das Motiv der weißen Todesfarbe erscheint auch
bei den Griechen.
Ende
der Titanen –
Der Codex Vaticanus hat die Darstellung eines Vulkanberges. An seinem
Fuß, in einer Höhle, beratschlagen zwei Jünglinge mit lebhaften
Gesten. Draußen fliegt ein Vogel vorbei und kriecht ein Schalentier
am Abhang – die zwei náguals. Unter dem Gebirge liegt, mit dem Mund
nach oben, eine riesige, nackte Gestalt, durch den Text als Gigant bezeichnet.
Das Ende der Titanenwelt. (Reproduziert bei Girard)
Siebenpapagei erscheint im Codex Borgia: ein Arara mit dem Arm Hunahpús
im Schnabel.
Unaufzählbare
Geschehnisse – Hier spricht Villacorta von "vielen bösen
Taten Cabracáns" und Recinos von "zahllosen Taten der Jünglinge".
Im Text steht aber ganz einfach: "mavi ahilan qui banoh varal chuvach uléu",
d. i. "nicht erzählbare viele Taten auf dieser Erde". Der Erzähler,
der ja im Text wiederholt selbst hervortritt, gibt zu verstehen, daß
er die irdischen Geschehnisse nun verläßt (er wiederholt im
nächsten Absatz noch einmal „varal chuvach uléu“, auf dieser
Erde), weil er unter die Erde geht, sich der Unterwelt zuwendet.