Sechstes und siebtes Kapitel des ersten Buches (1.decisio,
cap.6 & 7),
Hauptthema dieser Kapitel: dritter Schöpfungstag
Dicitur
autem annus ab am quod est circum. quia in
se reuoluitur. (31)
Hinc
est quod antiquiores ante vsum literarum;
annum
sub specie serpentis figurabant
cuius
cauda ad os reuoluabatur (32)
sicut
Ianum bifrontem pingimus
quia
capud incipientis anni et finem deficientis
respicit. (33)
est
ergo annus circumuolutio siderum. (34)
"Jahr" heißt es nun von "am", das bedeutet "rings", weil es in sich
zurückgewendet wird; (31)
von daher kommt es, daß die Alten vor dem Gebrauch der Schrift
das Jahr in der Gestalt einer Schlange darstellten,
deren Schwanz sich zum Kopf zurückwandte, (32)
wie wir auch den Janus zweigesichtig malen,
weil er auf das Haupt des beginnenden Jahres auf das Ende des vergehenden
zurückblickt; (33)
so ist also das Jahr eine Umdrehung von Gestirnen. (34)
29) Zitat von Gen 1,14 in cap.5,
s.o. Anm.17 .
30) So ergeben sich jeweilige Planeten-"Jahre": das Marsjahr
etwa gleich zwei Sonnenjahren, das Mondjahr (in diesem Sinne) gleich einem
Monat (z.B. Macrobius, In Somnium Scipionis 2,11,5f;
Honorius 2,62). – Insofern annus die
jeweiligen Gestirnsumläufe, deren Zusammenklang und Harmonisierung
meint, erhält die zunächst teleologische Aussage einen ästhetischen
Kontext: die Sphärenmusik, die im Mikrokosmos, dem Menschen, einen
Gleichklang findet.
31) Mit Petr.Com.1,6 Dicitur
etiam annus ab ana, quod est circum, quia in se revolvitur, aus
Beda, De temporum ratione (im folgenden = DTR), 36:
Annus vel ab innovando cuncta que naturali ordine
transierant,
vel a circuitu temporis nomen accepit,
quia veteres am pro circum ponere solebant,
ut Cato dicit in originibus oratorum amterminum, id est circumterminum;
et ambire dicitur pro circumire. -
Die (syntaktisch nicht isolierbare)
Vorsilbe ambi (gr. amphi,
mhd. umbe), die hier "entdeckt" ist, liegt
aber der Etymologie von annus wohl nicht zugrunde:
eher aus atnus (vgl. got. athns,
Jahr). Von Catos Origines sind nur die Titel
erhalten. – Honorius 2,61 liest die revolutio
des Jahres aus der "Etymologie" (annus von)
anulus.
32) Petr.Com. 1,6 (anschl.):
Unde et antiquiores ante usum litterarum
annum figurabant sub specie serpentis,
cuius cauda in os eius revolvebatur
nach Isidor,
Etym 5,36,2:
Sic enim apud Aegyptios indicabatur ante inventas
litteras
picto dracone caudam suam mordente, quia in se recurrit. -
Das Symbolbild des Ouroboros,
belegt schon auf einem vergoldeten Schrein des Tut
Ench Amun – vgl. auch die Kneph- (Kemateph-)
Verehrung des "anfang- und endlosen" Gottes im ägyptischen Theben
(Ploutarchos, Peri Isidos kai Osiridos, c.21)
-, findet sich auch für den Zervan Akarana
(ungeschaffene Zeit) des Zoroastrismus und die Ananta
(endlose) genannte Weltschlange des Vishnu;
ein weitverbreitetes Bild also, in dem sich das kluge Häutungswesen
mit der Zeitenzyklik verbindet, wie sie an den Himmelskörpern erscheint;
über das gnostische "Aion"-Konzept und
die Kronos-Chronos-Zervan-Synthese des Mithraskultes
für das Urwesen der Zeit universell geworden; vgl.
Martianus Capella 1,70.
33) Prädikat (respicit) apo koinou,
wenn die et-Abbreviatur (N) nicht als ad
gelesen werden soll, aber dann ist die Zweigesichtigkeit nicht mehr erklärt;
der doppelgesichtige Gott der (öffentlichen) Torbögen und des
Anfangs seit der Spätantike zu einem Jahresgott umgedeutet.
34) ergo beschließt noch
die Etymologie. – Die circumvolutio siderum
nicht schon als Umlauf des Fixsternhimmels, da dieser jeden Tag einmal
geschieht, sondern der Sonne gegenüber der Fixstersphäre, wenn
die Sonne (bei "ruhender" Erde) an den gleichen Ort (bzw. vor den gleichen
Hintergrund) der Sternbilder zurückkehrt (siderisches Jahr).
35) Aus der Vergleichung der
Sonnen- und Mondrhythmen und ihrer Harmonisierung zu einem Kalender – wichtig
besonders für die Berechnung des Ostertermins (vgl.
Isidor, Etym 6,17,21-25) - ergeben sich diese vier Jahreslängen:
Mondjahr als Summe von zwölf synodischen Monaten von 29 1/2 Tagen;
Sonnenjahr als Mittelwert des siderischen und tropischen Jahres;
iulianisches Schaltjahr zur Aufrechnung der überschüssigen Viertel
(bissextilis von der Doppelzählung der
sechsten Kalenden alle vier Jahre);
ein präjulianisches Schaltjahr mit zusätzlichem Mondmonat (Embolismus)
zur Aufrechnung der Differenz mehrerer Mondjahre gegenüber dem siderischen
Jahr (Jahr des Numa und metonischer Zyklus). -
Die gleiche Reihenfolge
mit gleichen Angaben bei Petr.Com. 1,6:
Est enim annus lunaris, habens CCC.L.IV. dies;
est solaris, constans ex diebus CCC.LX.V. et quadrante,
est et bissextilis, constans ex CCC.LX.VI.,
est embolismalis, qui constat ex CCC.LXXX. diebus et excedit, habens
XIII. lunationes.
Entspricht Bedas
Kurzfassung in De temporibus 9, wobei das große Mondjahr (13-Monatsjahr,
embolismus) allerdings 384 Tage hat (ebenso
in DTR 36) und das Schaltjahr (bissextilis)
über die Zählung hinaus auch "iulianisch" (Summierung der vier
Vierteltage alle vier Jahre zu einem Schalttag) erklärt wird. Honorius
- der 2,62 unter annus
lunaris allerdings nur die erste von vier Definitionen Bedas faßt
- entnimmt die verschiedenen modi
des Jahres – lunaris
(.xxvii.diebus et .viii.horis); secundus
lunaris (.ii.diebus et .iiii.horis prolixior); communis
(.xii. huiusmodi mensibus in .ccc.liiii.diebus); embolismalis
(.xiii.menses et dies .ccc.lxxxiiii.); lunaris
sive decennovenalis (cum luna post .xviiii.annos ad easdem recurrit
etates); solaris (cum sol
omnia zodiaci signa perlustrat, qui .ccc.lxv.diebus et .vi.horis constat);
bissextilis
(dum quarto anno bissextus item inseritur et uno die longior priori cognoscitur)
- 2,63-65
aus DTR 36.
vnde
in visione Danielis. LXX. ebdomade
annorum
solarium faciunt annos CCCC.LXXV.
lunarium
vero CCCC. nonaginta
qui
fluxerunt ab impetratione Neemie vt narrat
Esdras
vsque
ad XVII. annum Tiberii. (40)
Sed
et annus solaris a Ianuario incipit secundum
Romanos.
ex
traditione Nume Pompilii.
quia
tunc incipit sol ascendere post solstitium yemale. (41)
Deshalb machen in der Vision Daniels die 70 Jahrsiebte,
wenn sie aus Sonnenjahren bestehen, 475 Jahre,
wenn aber aus Mondjahren, 490 Jahre,
die von der Entsendung Nehemias, wie Esra sie berichtet,
bis zum 19. Regierungsjahr des Tiberius verflossen sind. (40)
Aber das Sonnenjahr beginnt nach den Römern mit dem Januar,
zufolge der Überlieferung des Numa Pompilius,
weil dann die Sonne nach der Wintersonnenwende wieder höher zu steigen
beginnt. (41)
38)
Zwei ineinander
verschachtelte Aussagen, deshalb solares in
der Bedeutung einmal als Mondmonat (Attribut zu menses),
dann (folgende Zeile) wieder als Mondjahr (elliptisch, Attribut zu ferner
liegendem anni). Unschärfe der Mondmonats-Längenangabe,
keine Begründung für die "Kompromißlänge" des konventionellen
Kalendermonats im Sonnenjahr; Wiederholung der Differenz von iulianischem
Normaljahr und Schaltjahr ohne rückwirkende Ableitung des konventionellen
Monats. Viel genauer Honorius 2,32-34 und
bei den "Jahres"-Definitionen (s.o.), ganz zu schweigen von
Beda, DTR 11 u.ö.
39)
Fortsetzung der Wiederholung oben schon gemachter Jahresangaben; das 13-Monatsjahr
(Mondjahr mit einem Schaltmonat als Ausgleich zum siderischen Jahr) nun
genauer mit 384 Tagen; das Schaltjahr (bissextilis)
logisch verquer eingefügt; die Differenz von Mond- und Sonnenjahr
nach den Wiederholungen naiv.
40)
Nach Bedas Addition der Regierungszeiten von
Artaxerxes bis Tiberius entsprechend der translatio
imperii (gemäß Eusebios/Hieronymos
475 Sonnenjahre, von Beda umgerechnet auf
490 Mondjahre) und ausführlicher Analyse in DTR
9: Die "Verkürzung der siebzig Wochen" Dan
9,24 – Septuaginta hebdomades abbreviatae
sunt super populum tuum et super urbem sanctam tuam, durch Dan
9,2 vom prophezeiten Ende der babylonischen Verbannung Ier
25,12 und 29,10 sowie dessen Verwirklichung (Befehl des Kyros) 2Par
(Chr) 36,22ff (Ende) und 1Esra 1,1ff im Jahre 538 v.Chr. an als
Anfangstermin der "siebzig Wochen" gemäß
Dan 9,25 gerechnet – wird von Beda
gemäß 2Esra (Neh) 2 auf den Zeitpunkt
der impetratio Neemie im 20. Regierungsjahr
des Artaxerxes (also 445 v. Chr.) bezogen und bis zum 17. Regierungsjahr
des Tiberius gezählt, das aufgrund Lc 3,1
(Datum der Jordantaufe im 15. Tiberiusjahr, plus ca. zwei Jahren öffentlichen
Wirkens Jesu) als Datum der Passion und auferstehungsleiblichen "Tempelerneuerung"
(Mt 26,61; Mc 14,58 und 15,29; Ioh 2,19) gilt.
- Ohne Zahlenangabe erwähnt in Honorius 2,31
(letzte
"Wochen"-Definition).
41)
Numa soll den Zehnmonatskalender durch Einführung von Januar und Februar
zum Zwölfmonatskalender erweitert haben, s. Cicero,
De legibus 2,12 und Livius 1,19,6,
vgl. Honorius
2,36 aufgrund Beda, De temporibus 6 und DTR 12. Das republikanische
Amtsjahr begann am 1.Januar, erst seit der iulianischen Kalenderreform
(Caesar) auch das konventionelle Kalenderjahr.
Sane
ab anno dicitur annuum pasca et annotinum
Annuum
pascha quod celebratur singulis annis die
dominica.
non
tamen semper concurrit Lunatio paschalis cum
die dominica.
Annotinum
pascha dicimus vbicumque XIIII. luna concurrit.
Vnde
in quibusdam ecclesiis quamuis non concurrat cum
die dominica
cantatur.
Resurrexi cum toto pascali officio.
(47)
Gewiß heißt es vom "Jahr" (annus) her annuum und annotinum
pascha;
annuum pascha, weil es an einzelnen Jahren am Sonntag gefeiert wird;
dennoch fällt nicht immer der Ostervollmond auf einen Sonntag.
annotinum pascha sagen wir immer, wenn es auf den 14. Tag des Monats fällt;
deshalb wird in manchen Kirchengemeinschaften, obwohl es nicht auf den
Sonntag fällt,
das "Ich bin auferstanden" mit vollem Osterritus gesungen. (47)
45)
In der Tat wurde die Normierung der Olympiaden-Rechnung (Chronographia)
durch Eratosthenes bis auf den Trojanischen
Krieg zurückkonstruiert, umgerechnet 1184/3 v.Chr.; Cato
und Polybios datierten die Romgründung
auf dieser Matrix.
46)
Die drei bekanntesten Zeitintervalle, die mehrere Jahre zusammenfassen:
das Vierjahresintervall der griechischen, das 15-Jahresintervall (drei
mal fünf) der römischen und das Siebenjahresintervall (Sabbatjahr)
der jüdischen Zeitrechnung.
47)
Beleg nicht gefunden. Diese beiden Bestimmungen scheinen den Standpunkten
des alten Osterterminstreits vor dem Konzil zu Nikaia zu entsprechen: Ostern
immer am dritten Tag (resurrexit tertia die)
nach dem 14.Nisan, oder immer auf einem Sonntag danach; allerdings entspricht
die Angabe X.IIII. luna dem reinen Vollmond-Termin,
insofern meinen die beiden Begriffe wohl christliche Ostern (annuum)
und jüdisches Pässach (annotinum)
als Erläuterung zum Nisan-Beginn des Jahres, s.o.
Ex
his perpenditur quod mane factus est sol. in oriente.
et
vespere similiter in oriente luna.
Vel
vt alii putant in mane simul facta sunt.
sol
in oriente et luna in occidente
sicque
occidente sole luna sub terra rediit in orientem.
(50)
Daraus
folgt, daß die Sonne gegen Morgen im Osten gemacht wurde
und
gegen Abend gleicherweise im Osten der Mond;
oder
wie andere glauben: Beide wurden gegen Morgen gleichzeitig gemacht,
die
Sonne im Osten und der Mond im Westen;
und
so kommt bei Sonnenuntergang der Mond im Osten unter der Erde wieder hervor.
(50)
48) Das Petr.Com.-Grundgewebe
(1,6) taucht wieder auf:
Quod autem luna in plenilunio facta sit
ex alia perpenditur translatione, que habet:
Et luminare minus in inchoatione noctis.
In principio enim noctis non oritur luna
nisi pansilenos, id est rotunda.
Et dicitur a pan Grece, id est totum Latine,
et selenos, id est luna, vel mene, id est luna,
quod nos plenilunium appellamus. -
Der Schlüsselbegriff
ist in inchoatione als Lesart zu Gen
1,16 (ut praeesset nocti) aufgrund
des zweideutigen eis archas tes nyktos in
LXX (für hebr.
le-mämschälät ha-lajla:
- praeesset ist "richtiger"). – Iohannes
Damaskenos, Pege gnoseos 3,2,7: Der 15-tägige Vollmond sei
bei seiner Schöpfung (!) um 11 Tage älter als die 4-tägige
Sonne, dies entspreche der Differenz von Sonnen- zu Mondjahr (365 -354
Tage).
49) Erläuterungseinschub in das Petr.Com.zitat.
Die beiden mittleren Begriffe klingen arg verderbt, neomenia
dagegen ist richtig, pansilenos nur itazistisch
aufgehellt; (wahrscheinlich hat Gervasius aus einer mündlichen Quelle
geschöpft). Schon die Leibniz-Edition substituiert richtiger amphikyrtos
für den Zweidrittelmond. Macrobius, In Somnium
Scipionis 1,6,54-54 hat als griechische Begriffe für die beiden
mittleren Mondphasen dichotomos und amphikyrtos;
alle vier Namen der Phasen von Neumond bis Vollmond bei Martianus
Capella, De nuptiis Philologiae et Mercurii, Astronomia 864: menoeides,
dichotomos, amphikyrtos, panselenos.
50) Die Folgerung bezieht sich auf die Variante in
incoatione zu Gen 1,16; so jedenfalls
bei Petr.Com. 1,6 (anschl.):
Inde perpenditur, quod sol factus est mane in oriente,
et facto vespere luna facta est in initio noctis, similiter in oriente.
Volunt tamen quidam quod mane simul facti sint,
sol in oriente, luna in occidente,
et sole occidente, luna sub terra rediit ad orientem in inchoatione noctis.
Vgl. oben Wilhelm
von Conches (Mond im Krebs, Sonne im Löwen, also Sommerbeginn
des Jahres mit frisch erneuertem Sichelmond als Makrobius'
Auffassung) gegen Ende von cap.3. – Das naiv-narrative
Motiv ließe sich durch Gen 1,19 beantworten:
Sol ging unter und Luna
ging auf, denn factum est vespere et mane, dies quartus.
vtraque
tamen ex aquis orta sunt
facilis
enim transitus est aque in aerem per attenuationem;
vt
apparet in aqua que per ebullitionem
resoluitur
in fumum.
Et
aer facile spissatur in aquam.
vt
in vligine terre perpendimus que ventis in altum agitata densescit in pluuiam.
(51)
Aeri
ergo ventos contribuimus ex opposita sibi
regione spirantes.
de
quibus poeta. (52)
Imminet
his aer qui quanto pondere terre.
pondere aque leuior tanto est /
honerosior igne.
f.6vb
illic et nebulas illic consistere nubes
iussit et humanas motura tonitrua mentes
et cum fulminibus facientes fulgura ventos.
Dem
Luftreich ordnen wir die Winde zu, die sich aus entgegengesetzten Richtungen
entgegenwehen,
wovon
der Dichter sagt: (52)
Über diesen die Luft, die soviel schwerer als Feuer,
als sie selber leichter denn Erde und leichter als Wasser.
Dort hieß er die Dünste, dahin die Wolken sich bauschen,
rollen dort, die Menschengemüter erschüttern, die Donner,
flattern dort mit flammenden Blitzesfackeln die Stürme.
51) Nur der Einstieg in dieses Thema gemäß Petr.Com.
1,7 (zu Gen 1,20-23) – die Tierschöpfung des fünften Tages
knapp gefaßt:
Quinta die Deus ornavit aerem et aquam,
volatilia dans aeri, natalitia aquis;
et utraque ex aquis orta sunt.
Facilis enim transitus est aque in aera tenuando,
et aeris in aquam spissando.
Anklang bei Honorius
1,38 (De aqua): per
aera attenuatur; die Wasserverwandtschaft der Luft und ihrer Lebewesen
auch in 1,56:
Pisces et aves ideo in aquis commorantur, quia his
facta leguntur.
Quod autem aves in aere volant, et in terra habitant,
ideo fit, quia aer est humidus ut aqua;
und in 1,58 (De
aere):
Et quia est humidus, ideo volant in eo aves,
ut in aqua natant pisces.
Im Hintergrund steht – passend
zum Grundmotiv der Schöpfung als Beherrschung der Wasser und zur parallelistischen
Fügung reptile et volatile
(Gen 1,20) – die häufige Vorliebe für Wasser als Grundstoff
aller Elemente und allen Lebens seit Thales, wenn nicht schon seit den
ältesten Kosmogonien, sowie die aristotelische Auffassung von der
geschlechtslosen "Spontanzeugung" niederer Lebewesen aus dem feuchten Stoff
(s.u. die mannigfachen Beispiele des achten Kapitels);
Gen 1,20 formuliert ohnehin eine zeugende
Evokation der Flossen- und Flügelwesen aus einer hervorbringenden
Matrix, wobei die gemeinsame Mutter beider Geburten, das zur Hervorbringung
aufgerufene Element, "die Wasser" sind (majim,
Plurale tantum über LXX ta
hydata in die Vulgata getragen):
Producant aquae reptile animae viventis
et volatile super terram sub firmamento caeli.
Gervasius meint aber zunächst
nur die physikalische Umwandlung (weit entfernt von der "Zoogonie" des
fünften Tages), als Ausschnitt aus der schon erwähnten Zirkularität
der Elemente und ihrer Analogien gemäß dem Lehrstück von
den "Syzygien", s.o.
Ende cap.4. – Vgl. Isidor, Etym 13,7,1,
fast schon zu rhetorischen Sprüngen hingerissen von der Gestaltungskraft
des aer:
quique ex se multas species reddit:
Nam commotus ventos facit;
vehementius concitatus ignes et tonitrua;
contractus nubila; conspissatus pluviam;
congelantibus nubilis nivem;
turbulentibus congelantibus densioribus nubilis grandinem;
distentus serenum efficit.
Nam aerem densum nubem esse,
nubem rarefactam et solutam aerem.
52) Ovid, Met 1,52-56
Porro
ventorum quatuor sunt principales. qui octo
habent collaterales. (54)
Cardinalis
est et principalis
Subsolanus in oriente.
Zephirus vel Fauonius in occidente.
Boreas ad septentrionem.
Auster ad meridiem.
Ouidius
tamen. eurum posuit pro subsolano cum ait. (55)
Cum
lanient mundum tanta est discordia fratrum.
Eurus ad auroram Nabatheaque regna recessit
Persidaque et Indis iuga subdita matutinis.
Vesper et occiduo que littora sole tepescunt.
Proxima sunt Zephiro Sciticam septemque triones
horrifer inuasit Boreas. Contraria tellus.
nubibus assiduis pluuiaque madescit ab Austro.
Ferner gibt es vier Wind-"Fürsten", die acht Wind-"Begleiter" zur
Seite haben. (54)
Kardinalwinde, Windfürsten sind:
der Subsolanus im Osten,
der Zephyrus oder Favonius im Westen,
der Boreas gegen Norden hin
der Auster gegen Süden hin.
Ovid setzt allerdings den Eurus an die Stelle des Subsolanus, wenn er sagt:
(55)
Da sie die Welt zerfetzen – so groß ist der Zwist dieser Brüder
-
suchte Eurus gen Morgen im Araberreich seinen Frieden,
wo die persischen Gipfel erbleichen im indischen Frühlicht;
Abendgefilde im warmen Glanz der versinkenden Sonne
liebt der Zephyr; in Skythien aber unter der Bärin
macht sich der Schrecken des Boreas breit; die Welt gegenüber
trieft von tropfenden Nebeln und Nässe, der Nestbrut des Auster.
53) Isidor, Etym 13,11,1: Ventus
est aer commotus et agitatus; ebenso Honorius
1,59 und Beda, De nat. rer. 26.
54) Die personifizierten Hauptwindrichtungen schon seit Homer,
z.B. Odyssee 5,295f - Euros, Notos, Zephyros,
Boreas -, zunächst eher durch ihre Charakteristik im östlichen
Mittelmeerraum als durch die genaue Himmelsrichtung bestimmt. Aristoteles,
Meteorol. 2,363 a 21ff systematisiert sie zu einem Himmelsrichtungssystem,
das durch seine Zwölfzahl mit unserer Uhr vergleichbar ist, aber die
hier überlieferten Namen entsprechen eher der auf Rhodos bezogenen
Zwölferrunde bei Timosthenes, mit den
Komposita Libonotos und Euronotos,
die hier als Nachbarwinde des Auster (Notos)
erscheinen. – Ursprünglich lagen die Kardinalwinde nicht genau auf
dem Achsenkreuz der Himmelsrichtungen, aber in Entfernung vom östlichen
Mittelmeerraum, in der Abstraktion von der nautischen Erfahrung (so schon
bei Aristoteles) und schließlich im
Kultursprung nach Norden ist dieser Zwölferkreis zu einer ortsabstrakten
Windrose erstarrt, die weniger ein wissenschaftliches Schiffahrtsinstrument
denn literarischer Topos ist, der bei Gervasius dann auch konsequent mit
Ovid belegt wird. Dieses Lehrstück ist
dem entsprechend allen gemeinsam: Isidor, Etym 13,11;
Beda, De nat. rer. 27; Honorius 1,60.
55) Ovid, Met 1,60-66. Die verderbte
Stelle verstärkt die Unsicherheit der Himmelsrichtungs-Zuordnung,
die schon Ovids geographischen Schlenker an dieser Stelle bewirkt: In der
Tat substituiert Ovid den Eurus nicht dem
Subsolanus, sondern gibt die ostsüdöstlichen
Länder als dessen Sitz an, auch bei der Lesart Indis
für radiis. – Deutlich wieder die indirekt,
über die "Wohnsitze" der Brüder geführte Charakteristik
für den Mittelmeerraum, enzyklopädisch fortgepflanzt, die auf
die Mittel- und westeuropäischen Verhältnisse überhaupt
nicht paßt.
Borree.
Aquilo cui proximus Vulturnus de quo illud.
Flat. volat. et pugnat Vulturnus stillat et undat. (58)
Dem Boreas ist der Aquilo verwandt, dem der Vulturnus am nächsten
steht, von dem es heißt:
Es weht und jagt und ficht Voltorn und plötzlich
schäumt er in Schauern und Gischt voll Zorn. (58)
56) Die enzyklopädische
Überlieferung dieses Lehrstücks endet im Mittelalter; so ist
diese syntaktisch etwas unsymmetrische Auflistung in der Leibnizedition
durch die barocke Interpunktionsreform, Fehldeutung der "Verbindungs"-Punkte
als Trennpunkte und Verwechslung von Stammvokalen im Vorderglied der Komposita
mit gleichlautenden Dativendungen völlig verwirrt worden. Der Vergleich
mit den oben genannten Quellen
des Gervasius (vor allem Honorius 1,60) reichte für die
Rekonstruktion aus, wenn der Textbestand unserer Leithandschrift undurchsichtig
wäre; aber in der Tat gibt der unveränderte Text Sinn, sobald
die elliptische Ausdrucksweise der Relativsatzverkettung schlüssig
geworden ist. – Daraus ergibt sich dann diese Windrose:
NW
N
NE
BOREAS
CIRCIUS
10
AQUILO
9
11
CORUS 8
12 VULTURNUS
W ZEPHYRUS 7 + 1 SUBSOLANUS E
AFRICUS 6
2 EURUS
5
3
AUSTROAFRICUS
4 EUROAUSTER
AUSTER
SW
S
SE
Üblicher ist – homonym
mit dem Siebengestirn (Großer Wagen, großer Bär) und der
entsprechenden Himmelsrichtung – Septentrio
für den Nordwind (Isidor, Etym 13,11,2),
so daß Boreas als Alternativname für
den Aquilo frei bleibt
(z.B.Honorius 1,60 aufgrund von Beda, De nat. rer. 27); für
den Austroafricus haben Beda
und Honorius (s.o. Honorius
1,60) ganz unlogisch Euronothus; auch
sonst geben sie als Alternativen die griechischen Namen bei, z.B. kurioserweise
Tracias (Beda
richtiger Thrascias) für den Circius,
obwohl Thrakien von ihrer Warte aus in entgegengesetzter Richtung liegt.
57) Lucanus, Bellum civile (Pharsalia)
1,406-408
58) Leoninischer Hexameter mit Homoioteleuton aller fünf
zu einer Klimax zusammengedrängten Prädikate, mit dieser "vollständigen"
Reihung der Aktionsweisen (wie bei Honorius üblich, dort aber in den
größeren Gliederungseinheiten der Reimprosa) von enzyklopädischem
Charakter.