Feire Fiz / Elischa Beth / Wolfram / Cuillaut :
... noch einen Tannhäuser schuldig
Zwiebelgold : Die verbrannten Briefe
 
        
    4. House burning down   
        
        
    Da ist er hereingebrochen, nach lauen Dezembertagen, – hat ins süßbefaulte Laub der Frost, ins rosigbraune Erdenfleisch der Hund die Silberzähne hart hineingeschlagen.   

    Auf meinem Bett saß Elischa, die Freundin, und zeichnete mich, dokumentierte in ihrem Skizzenblock, wie ich den Herd reinigte, rüttelte, füllte, wie ich alte Konzeptpapiere zerknüllte und in das Ofenfach schob, um uns kräftig einzuheizen. Sie fragte nach, und ich reichte ihr eins hinüber, hockte weiter vor dem Eisenmonstrum und zündete mein Gesamtkunstwerk an.   

    Grün kroch die Flamme an den Falten hoch, entrollte die Blätter, daß die Schrift ein letztes Mal, ein vergebliches Mal, ans Licht kam, gelesen und verwandelt vom verzehrenden Blau, und donnerte dumpf durch die knallenden Scheite.   

    Sie las noch, ich schaute mich hinein ins Geprassel, hörte mich ein in die aufblätternden, aufblühenden Landschaften meiner Entwürfe.   

    Ein Tier, das sich wie eine Blume entfaltet, eine Blume, die wild verzuckt wie ein Tier.   

    Gewittrige Himmel, gelbe Lehmbänder quellen aus den papierenen Rosen, Aschenwolken von Ocker, orange gesäumt. Die Ränder entzünden sich, die Lippen schwären rot, da brechen sie auf und fletschen die goldenen Zähne. Sirenengeheul, Glissando hinauf und hinab von allen Seiten, Alarm! -   

    Was ist da los? Meine Freundin springt ans Fenster: Wo lodern diese Farben her? -   

    Na, der Sonnenuntergang, was sonst?, hüstele ich und schlürfe meinen Tee. Schneewolken. Die Engel backen Brot, du kennst – aber da reißt sie mich schon die Treppe hinab, ohne Helm aufs Motorrad und ab die Post.   

    Wen hatte es diesmal erwischt? Wir werfen uns in den knatternden Funkensturm, setzen über die Gräben, die Zäune hinweg, zwischen Blaulicht und zerhackten Funksprüchen hindurch, da sehen wir schon die schöne Bescherung, was für ein Fest, und die Kinder, die Klageweiber, die Sirenen heulen mit dem Wind um die Wette.   

    Ich stelle mich auf den rasenden Feuerstuhl, die tanzende Maschine, und rufe ohne zu wanken in die Menge hinein: "Brüder, was habt ihr da angerichtet? Warum brennt ihr euer Haus nieder?" Diese Wahnsinnigen! Das Paradies in Flammen, grell geschminkt! Das Paradies in hellen Flammen, höllengrell prostituiert!   

    Kommt einer im Tangoschritt heran, ein Kerl, Pupillen weit wie Knöpfe, schreit: "Wir habens satt, wir sind es leid, wir haben zur Abwechslung mal in die Vollen gegriffen." "Blut habt ihr vergossen, schamlos alles besudelt mit dieser zum Himmel schreienden Schande von Krapplack und Acryl. Wer soll das nur wieder aufwischen?"   

    Wir ritten davon auf der röhrenden Düse; aber ich werde den Tag nie vergessen, denn als wir schließlich nach Hause abbogen und ich auf die ganze Szenerie zurückblickte, da sah ich: Ein gewaltiges Raumschiff schwebte elegant hernieder durch die Flammenschleifen und nahm alles Tote, schleuderte, loderte, riß es mit sich von der Erde hinweg. -   

    Lischa gab mir das Blatt ohne Zögern zurück, und ich opferte auch dies.   

    Wie sie dasaß. Auf ihrem Gesicht, nicht weit von der offenen Ofenklappe vor mir, tanzte nun in der Dämmerung wachsend der Schein des flackernden Feuers, hinter ihr schwankte mein Schatten, übergroß. Still, schwarz flossen die Haarsträhnen über die Schultern, die Hände zu beiden Seiten auf dem Bett, als ob sie die weiche Kühle durch die Handflächen aufsauge, schaute sie mit träumerisch tiefdunklen Augen zu mir herüber. Wärme knisterte durch den Raum.   
       
     

        
    5. Die Reise   
        
       
    Die Stadt ist ein Palast, ein Schloß mit Räumen so weit, daß die Autos leicht hindurchfahren können unter den Lüstern, den Lampenrosetten, Perlenschnüren. Reflex von den Seiten, die Fenster wie Fernseher, gläserne Fronten; Augen an Augen gespiegelt, am Pflaster auch, glänzen aus schwarzen Krusten, brechen aus zu Kristallschrot, zu Teppichen brausenden Glitzergekörns.   

    Von Spuren zerschnittene Schneereste, glasiger Matsch. Von Schluchten zerklüftete Viertel, ein Holzschnitt in Arbeit, strahlig geschürft, geritzt, zerkratzt die Kreuz und die Quer. Im Großen, im Kleinen das gleiche sternige Spinnenrad um nächtige Kerne gedreht. Die Mühle, die Speichen klipp klapp um die Nabe, dein Schritt.   

    In rechten Winkeln münden die offenen Passagen, die leuchtenden Galerien ineinander. Straßenbahnen quietschen durch eigene Gärten mitten im Spiegelsaal, eine Pracht ist das, aber das ist halt so, das ist die Substanz, die nimmt man kaum wahr, schauen welche hinaus aus der gelben Bahn, die Promenierenden sehn sie im Augenwinkel, rauschende Autogassen dazwischen – der quirlige Feierabend-Verkehr.   

    Stimmen, Reklamen, Geschäft, Geschäft, jeder will was von dir, lädt ein, überlädt dich mit lärmenden Farben, umschlingt, verschlingt - und verschließt dich noch mehr. Menschentrauben vor hellbunten Hallen, Kinos, da stehen sie vor den Pizzerien herum, was gibt es zu sehen? Fellini? Spielberg? Nein, nicht heute, und nicht bei dem Andrang.   

    Vorbei an der Oper, die Paare in Anzug und Pelz, ein zitroniger Duftschwall weht von ihnen her. Neptun und die nassen Genossen in grünblauen Splittern, ein hübsches Mille-fleurs-Mosaik, doch der Brunnen bleibt leer.   

    Zyklopen und Koren stützen die Wände, Portale, weich gebauschte Reliefs, den um die Wärme gekammerten Stein, die Eigentumstempel, die Wohnungen, reich gefächert, gegliedert, Organe und Zellen. Da läufst du entlang, die schaumigen Blöcke drehen sich seitlich von dir fort; die Perspektive fächert sich auf aus dem Fluchtpunkt, metrisch wechseln die saugenden Fernen durch drängende Nähe; die Ocker-Skulptur von vorn ragt stolz und breit wie ein Bug ins elektrisch gestirnte Blau. Aber das ist es nicht, du ziehst ein Mäander, hinein in die Gänge. Was soll das Gerenne. Der Weg ist die Zeit, und die Zeit ist ihr Ziel zu Genüge.   

    Die Flure sind schwärzer zum Bahnhof hin, sind Höhlen, von Stahl überbrückt, von Zacken, Geländern in Bögen gestützt. Von blitzendem Schanzwerk der nasse Basalt überstrickt. Gerumpel der Züge, das Zittern der triefenden Mauern. Geleise queren die Straßenschläuche, ein Zischen schneidet das klirrende Echo der klappenden Schuhe, der pfeifenden Türken, der bremsenden Busse.   

    Etagen schichten sich breit, Terrassen, – den Strom, die Tunnelröhren, die Gleise, darüberhin noch die Läden, Museen, die Käufer, Touristen, Flaneure, die flutenden Sucher zu trennen, die dahin und dorthin sich finden, verlieren, die Schritte, die Stimmen.   

    Hinter den üppig verspiegelten Wänden der Plätze, der Stockwerke, offenen Schluchten, Arenen, der ausgeleuchteten Säle, da fruchten am Tage noch Städte in Städten, nach innen gewendet, verzweigt und gekammert, nach außen Fassade, versiegelt jetzt, nur Schau, nur Prunk. Viel ist da zu sehn, viel ist da zu wünschen, zu ahnen, zu wissen, doch das ist es nicht.   

    Der Dom, das grüne Ungetüm, die Knochengebälke, die Säulengebirge in lehmige Himmel emporgetürmt, der ewige Sturm an der Kante vorbei zum Bahnhof hin. Die Uhr zeigt Acht. Treppab zu der Glasfront. Hinter der Klapptür im frischen Duft der Blumen, bestellt und nicht abgeholt, so stehen die da. Stoß keinen an. Was bist du zaghaft, kennt dich doch keiner? Nun vorbei und hinein.   

    Ein anderes Licht, ein anderer Raum, ein anderer Lärm, eine andere Welt. Die Durchsagen fremd, verdumpft, verhallt. Der Gong, die Uhr, die Zeit, der Plan. Gerüche, Gerufe, Gewühle, Gerausche. Ist da, was du suchst, was du suchst, suchst?   

    Wo willst du hin, was treibt dich, Hendrik, die Stufen hinauf, ohne Ziel, ohne Sinn? Er springt in den Zug, der gerade da steht, schon schlagen die Türen, ein Pfiff, los gehts.   

    Er lehnt sich zurück in den Sitz, ruht aus. Schon schieben langsam, schon gleiten schneller, schon fliegen davon die Hallen, die Säle, die Höhlen voll Menschen und Blech und Nässe, die steinumkammerten Zellen der Wärme, verschlossene Kapseln, sie schleudern vorbei. Da unten, weit, dahinten breit gelagert der Schaum der schwach nur schimmernden Fenster. Und hin und wieder schneidet der zischende Glanz der Fahrt noch die Adern, die stummen Ströme von Licht und Verkehr da unten.   

    Von oben jedoch schlägt die tosende Nacht über dir zusammen, die wilde Jagd, die kosmische Flut, die singenden Flügel von Erz der Erz-, der ehernen Engel im Zielsog.   

    Er hatte gerade die Augen geschlossen, da kam der Schaffner, knipste das Licht an, wollte den Fahrschein sehen. Den Fahrschein! Hendrik gab ihm mit Pokergesicht die gutgefälschte Karte, ein Scherz unter Freunden, der Uniformierte bemerkte es nicht. Wie du weißt, brauchst du einen Scheinfahrschein, um in unsrem Spielscheinspiel mitzufahren.   

    Tür zu, gedämpfter das Rütteln und Rauschen. Wohlige Wärme glüht unter der Sohle; den Fuß auf der Heizung, den Arm auf dem Knie, das Kinn in der Hand, die Finger am Mund, Musik in den Fingern, die greifen Akkorde; so webt es und lebt es im Körper, im Atem, im Pulsen des Blutes, das rhythmische Lied.   

    Erinnerung strickt sich zum Knoten von Regung, Erregung, Bewegung, Gestaltung, erweckt, wiederholt, bewegt, erregt -   

    Phantasie, die liebliche, streng geführt; so scharf konturiert, gestrafft und eng geschnürt tritt ihre schlanke Gestalt in peinlicher Gegenwart deutlich hervor. Da verbirgt sie sich, schämt sich, bedeckt ihr Gesicht -   

    Doch sie muß, blutrot vor prüfenden Mienen, vor gierigen Augen in Maskengesichtern, die heimlich und streng ihre Taille im Federtutu, den Fuß, die umschnürte Fessel bemessen und auf ihre hohen Brüste blinzeln, sie muß, sie muß erblühen, blühen und durch alle Himmel fliegen -   

    So schreibt sie Glissandi in spiegelnde Ebenen, Eisblumensterne in gläserne Meere; Lichtfunken springen aus samtenen Nächten, Sehnen gespannt auf den Bogen der selbst sich gebenden Güte, Gewährung, der Rausch der Süße ein feiner Brandungssaum durch die nüchterne Nacht, so schmilzt sie dahin, so schwindet sie, läßt nur ein duftiges Kräuseln im Wind, einen Hauch, eine zarte Berührung zurück -   

    Phantasie, die liebliche, heimlich entführt; wo ist sie versteckt? – da! – ich sah noch – vorbei -   

    Erinnerung löst sich und rollt sich und kugelt davon, Ariadne, dein Faden geknäuelt zum Mond in der ungesponnenen Wolle der Wolken -   

    Schlaf. - Du Süße des Schlafs.   
       
     

        
    6. Pupille   
        
       
    Etwa so ist die fixierte Phantasie Heinrichs wohl zu übersetzen – wir nehmen am besten die mißlungenen Partien, die elenden Selbstbespiegelungen des Verknallten und seine Rivalen-Klischees, nicht heraus; außerdem klebt alles aneinander.  

    Also es geht weiter: Was soll man sich im Dunkeln wälzen. Sie setzt sich auf von ihrem harten Lager am Boden, tastet sich zum Schalter der Nachttischlampe vor, reibt sich das Gesicht, blinzelt durch die Finger, reckt sich, gähnt, seufzt, allmählich gewöhnen sich die Augen ans Licht. Zusammengekauert hockt sie da. Zu müde zum Wachen, zu wach, um den Gedankenzwang zu ertragen, der mit den Träumen ringt und nicht unterliegen kann. Wer ist das, dein Traum, so fragen die eifersüchtigen Schwestern Psyche, die selbst ihren Lieben nicht kennt, so drängen und forschen Gedanken. Iris, wem lieferst du dich da aus? – Was geht es euch an. – Weißt du es denn wenigstens selbst? Wir haben den Verdacht – Das laßt mal meine Sorge sein.   

    Sie wäscht ihr Gesicht, ihren Körper mit eisigem Wasser, rubbelt sich warm, setzt sich nach einigen Streckübungen wieder auf die Matte vor den großen Spiegel und flicht ihre Haare.   

    Die Gedanken zu ordnen, das heißt, die Personen voneinander zu scheiden, die sich darin auszusprechen scheinen, und sie einzeln, ohne Ablenkung, sich vor Augen zu halten. Dann lassen sich die sauber getrennten Stränge wechselweise in die Mitte drehen, einen von rechts, einen von links, den kleinen Musikstudenten von der einen, den Chemiker am Rande des Blickfeldes von der anderen, den alten japanischen Yogalehrer wiederum von der einen Seite, ja, und diesen vierten, der nicht an die Ränder und nicht in die Mitte kommt, der zwischen den drei Weggefährten immer im Verborgenen bleibt: Da hat sie ihn, der ist's, davon ist sie aufgewacht. Seine unverhüllte, fast unverschämte Art, sie auf ihre faszinierende Erscheinung anzusprechen, hat ihr einen scharf-süßen Schrecken eingejagt; alles, was sie bei den Annäherungs-Versuchern ihrer Umgebung verabscheut, dieses immerwährende Anspielen auf ihren unwiderstehlichen Reiz, schlägt in seinen Worten ins Gegenteil um, treibt ihr bei diesem kahlköpfigen Schnauzbart ein wildes Entzücken durch die Glieder. Picassotyp, ein kräftiges Tier mit Raubtierblick, ein bißchen brutal, ein bißchen schön. Sagt sie Nein zu ihm, hört er Ja und küßt sie auf den Nacken. Sie fühlt sich wie gelähmt. Er legt offenbar einen masochistischen Kern in ihr frei und zelebriert dies bewußt, mit genußvoller Absicht.  

    Mein Gott, Cuillaut, ist das ein Scheiß. Sollen wir ihn weiter blamieren, indem wir das alles aufschreiben? Oder verzerrt Lischas Eifersucht die Skizze zur Karikatur? Nun ja, weiter mit den ranzigen Phantasien.  

    Zunächst einmal hat er ihr vorgeschlagen, als Modell bei ihm einzusteigen, gute Bezahlung – was, wo? in einem Nachtclub?! – Schutz, Unterkunft, Beziehungen. Nein, staunt sie. Alles klar, antwortet er, ich hole dich morgen ab. Das sind verfängliche Scherze. Also sagt sie weiter nichts, packt ihre Koffer und fährt nach Hause. Da fühlt sie sich frei, kann dem Reiz, den irgendetwas an der Begegnung in ihr geweckt hatte, mit ihren Übungen nachspüren, pendelt mit einer neuen Leichtigkeit zwischen den Briefen des Opferlämmchens und der Chevalerie des pastoralen Chemikers hin und her, schwebt, fliegt durch die entlarvten Schmeicheleien der Rasierwasserhengste und phantasiert selbstironisch über die angebotenen Zukunftspläne. Wie es wohl wäre, die Verehrer zusammenzubringen, sie miteinander bekanntzumachen, wie ihr Vater es zu tun pflegt? Sie kennen einander nicht und schmiegen sich doch einer an den andern, drehen sich ineinander wie Echospiralen.  

    Der Zopf ist nun fertig, sie windet ihn um den Kopf, legt die Füße auf die Oberschenkel zum Lotossitz und beginnt ihre Spiegelprobe, die Übung, sich mit fremden Augen zu sehen.   

    Mit dem Schwärmer fängt sie an, diesem zerrissenen Notenmaler der verbrannten Briefe. Das ist zu komisch, sie lacht in der Übung auf, muß sich wieder konzentrieren, die Identifikation mit dem imitierenden Bild vor ihr zu überwinden, und wechselt nach einer schnellen Kostprobe durch die Blicke der Kolleginnen, der Lehrer, ihrer eifersüchtigen Schwestern, des geschäftstüchtigen Manager-Vaters und einiger eifrig interessierter Gönner ihrer alten Umgebung bald zum Chemiker über.  

    Das ist doch nicht zu fassen, Cuillaut, wie Heinrich seine eigene Fixierung, sein "Immer-nur-sie!" hier gegenspiegelt! So eine bescheuerte ranzige Männerphantasie! Was hat er sich da zur Eifersuchtslarve vorgezaubert? Das ist wohl der personifizierte Repräsentant seines Hormonsystems? Nun denn, ... der "Chemiker".  

    Der ist schon problematisch, trägt eine kunstvoll-gefällige Miene zur Schau, höflich, glatt. Wie soll sie in dieser öligen Flüssigkeit einen Ansatzpunkt des seelischen Hebels finden und sich von außen wahrnehmen? Der Widerstand des Fremden fehlt, zu leicht fällt sie in ihr eigenes Selbstgefühl zurück.   

    Seine Beweglichkeit, diese Einschmiegsamkeit in ihre verborgenen Gemütsregungen, hat sie überrascht und für ihn eingenommen; aber nun versucht sie dieses Verhalten von der Innenseite der Maske her auszuloten, von seiner Warte aus.   

    Der scheint psychologisch geschult zu sein, das mag noch ein raffiniertes Spiel werden. Ob der ahnt, daß sie sich selbst mit der gleichen Berechnung zu sehen pflegt, die er ihr gegenüber verbirgt? Wir werden sehen, wer hier wen führt, einmal links, und wieder einmal rechts, ja endlich - sie atmet auf – wenden sich die Innen- und Außenseite des Ansehens und Angesehenwerdens um in die raumfüllende Substanz eines ungeschiedenen Wir: Das ist der vertraute Rundumblick Kurinshorus, die sorgfältige Milde von allen Seiten.  

    Kurinshoru. Sie kannte ihn nur zufällig, vom Eispalast. Er saß alle Tage an den Tischen zur Seite, trank Tee, machte ab und zu Notizen, zeichnete heimlich Choreographien und beobachtete aus den Schlitzen unter den grenzenlos nach innen verfalteten Lidern seines listigen Greisenkopfes die Paare, bewundernd wohl, vielleicht etwas spöttisch, als sei er selbst eine Art sparsamer Skizze. Er steckte sein Heft verlegen fort, als sie ihn einmal ertappte, und sie forderte ihn auf, ein wenig neugierig; er zögerte kurz, dann glitt er mit ihr über die Glätte alterslos, leicht dahin. Die andern traten zurück, das bemerkte sie kaum, sie wußte auch nicht, wie lang sie dahingeschwebt waren, einen Flügelschlag nur, eine Sternenspur lang; so saßen sie wieder beisammen und sie lauschte seinem Schweigen, umfaßt, umrahmt von seinen warmherzig-melancholischen Scherzen.  

    So spielten sie umeinander, bis sie bemerkte, daß sie in ihm ihren Meister gefunden hatte, den Menschen, der sie lehren konnte, sich selbst zu ermitteln, in der Mitte zwischen allen Regungen zu schweben, in der Schwebe zwischen allen Empfindungen am bloßen Bewußtsein des bloßen Seins befriedigt zu sein, im Frieden des Eigentlichen, Eigenen, des Einen. Doch wichtiger noch als dies, so lehrte er sie, sei der Rückweg in die Erscheinungswelten der Menschen ringsum.   

    Seine Beobachtungen verheimlichte er nicht länger, die choreographischen Übungen in seinem Heft. Dort fand sie im Puzzle der Versuche und Fragmente ein seltsames Lesestück, ein Rätsel vielleicht:   

    "Als der Morgen dämmerte, stieg der Erwachende in den Teich, um zu baden. Kaum war er eingetaucht, da durchzog ihn ein heftiges Sehnen, fremd und vertraut; Berührungen kreisten durch seinen Leib, und die in Angst und Schrecken bitter verborgenen Knospen der Lust – sie taten sich plötzlich auf, färbten sein Fleisch mit schamvoller Seligkeit, blühten durch seine Glieder. Verwundert blickte er sich um. Da bemerkte er die Ursache: Nicht fern von ihm waren ein Mädchen und ein junger Mann in den Teich gestiegen, um sich dort zärtlich zu vereinigen. Das Wasser hatte ihm ihre Bangigkeit, Erregung und Lust mitgeteilt, die Spannung geleitet wie Strom, wie ein Leib, ein gemeinsamer Leib. Er gab dankbar seinen Gruß durch das leitende Element zurück, segnete sie mit unaussprechlichem Entzücken, überließ ihnen den elektrischen See, seinen Anteil an ihrer Ekstase, und machte sich auf den Weg."   

    Sie legt das Heft beiseite, Licht aus, beginnt ihre Übungen, biegt sich, spannt sich, formt die alten Zeichen und liest sie von innen, die Schrift dieser gestischen Knotenschnur, und setzt sich schließlich wieder zurecht, ein in sich zentrierter Planet, die Füße zur Körpermitte, die Hände leicht aufliegend, offen. Im Tiefschlaf wach.   

    Zeitlose Quelle der Zeit.   

    Irgendwann, wer weiß wann, wer weiß – wieder auftauchend durch die mächtigen Wogen, die bilderbrausende Sinfonie, hinauf in die blinkenden Reflexe, in die Oberflächen des Ozeans, da fühlt sie's, fühlt den orgasmischen Übergang vom traumerfüllten Schlaf ins Tagesbewußtsein. Das nimmt etwas von der Fülle des Insichseins mit in die Erfahrungswelt, hält im Ich eine Tür zur Unendlichkeit offen, läßt die Lichtflut in der Empfindung nachklingen. So hieß es ja auch: Der Erwachende.   

    Das ist es: Die Vereinigung mit dem eigenen Leib, der Wiedereintritt der körperlichen Wahrnehmung, des sinnlichen Gespürs in die träumerischen Spiegelwellen; deshalb auch: Ein Leib, ein gemeinsamer Leib.   

    Erfrischt lockert sie sich, innerlich gleichsam gebadet, steht auf und schaut aus dem Fenster, wie weit die Bläue am Horizont schon vorangeschritten ist. Staunend sieht sie: Alles leuchtet in sauberem Weiß, traumverzaubert, in einen stillen Frieden gehüllt. Erinnerung, von Vertrautheit gesättigt, Rückkehr der Kindheit.   

    Sie trippelt rasch zur Küche hinab, setzt Wasser auf und bereitet das Frühstück vor, geht dann kurz vor die Tür und formt Schneebälle, um die Schwestern damit aufzuwecken.   
       
     

 
Fortsetzung: Kapitel 7-9
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I. Enneade   
   
1. Prolegomena   
2. Ouvertüre   
3. Iris   
    
4. House burning down 
5. Die Reise   
6. Pupille   
    
7. Rasur   
8. Das Café I   
9. Der Chemiker
II. Enneade   
   
10. Das Brot   
11. Der Kelch   
12. Wasserwüsten   

13. Die Wellentaucher 
14. Die Ersten – die Letzten 
15. Die Wellenreiter   

16. Feuermeere   
17. Die Brüder   
18. Der Wein

III. Enneade   
   
19. Die Substanzen   
20. Das Café II   
21. Eli Eli   

22. Umweg   
23. Der Garten   
24. Er kehret nicht zurück 

25. Oh du lieber Abendstern 
26. Dahin zog's mich   
27. Katalegomena

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Heinrich von Ofterdingen, Wolfram und Klingsôr im "Sängerkrieg auf der Wartburg"
 
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