8.
Das Café I.
"Schaaaaah
-" Jemand riß die Tür auf, Gebrüll im Gang, eine Horde
olivgrüner Rekruten mit einem ihm unverständlichen Idiom suchte
leere Abteile. Gestiefel, Gelächter, die metallischen Schläge
der Ghettobluster, ein Schwall von übersteuertem Singsang mit zitterndem
Hall. Die Jungs sahen ihn kaum, begannen fast über ihn weg sich hinzupflanzen
und auszustrecken. Hendrik nahm seinen Leinenbeutel auf die Schulter und
wich ihnen geschickt aus. Im Gang war es nicht besser. Er suchte den Waschraum,
die Augen brannten.
Es
war schon hell. Die vorbeifliegende Landschaft nebelfeucht, von Sonne durchblitzt.
Schüttere Vegetation, über rötliche Hügel verstreutes
Dorngebüsch. Wo war er hingeraten? Ein Anflug von Panik weckte ihn
auf, jetzt wurde er neugierig.
Den
Schaffner auf dem Gang, ein anderer als am Abend, ein düsterer Schnauzbart,
den wollte er fragen; doch der verstand ihn nicht, zeigte aber seine Entwertungszange,
wollte das Billett sehen, hielt dann das Kärtchen lange, zu lange
schweigend fest, bedeutete ihm, er solle an Ort und Stelle warten, und
verschwand mit dem Scheinfahrschein brummend in seinem Abteil. Es blieb
nichts, als sofort zu verschwinden, vorbei an den schwarzvermummten Frauen
im Gang, über Koffer und Körbe, von der Fliehkraft der Fahrt
mal nach links, mal nach rechts gedrückt, sich im Waschraum eines
anderen Waggons einzuschließen; und das langgezogene Quietschen der
Bremsen ließ ihn spüren, daß der Zug schon den nächsten
Haltebahnhof erreichte. Er wartete ab, bis der Gang von den Aussteigenden
freigeworden zu sein schien, schloß auf, stemmte sich gegen die schon
hereinströmende Menge hinab und hinaus und war schließlich im
Freien, aber wo denn nun?
Ihm
wurde heiß, ein wirres Gelärme, der Menschentrubel, alles überfiel
ihn wie eine Sturzwoge, erst hohl mit der Offenheit des Raumes, dann dicht
mit den fremden Atmosphären, Aquarium, dicke Luft, und vor allem oh
diese Gerüche, Gestank durchsetzt von würzigem Qualm und süßem
Räucherwerkstaub, Blumenfrische und Schweiß und Gemüse
und säuerliche Zigarretten, Ammoniak, Seife, Urin – jeder Hund würde
hier wohl wahnsinnig.
Er
versuchte erst einmal Halt zu finden, sein Hemd klebte an der Haut, er
trank die Luft wie ein Fisch.
Wo
war er nur, wo? Menschen, Menschen, orange gekleidete schnauzbärtige
Träger mit Turban riefen hin und her; Kinder, kleine Erdnußverkäufer
quirlten durch die wartenden, die schiebenden, die begrüßenden,
die verabschiedenden Reisenden; manche der Männer in Lungi-Hosen,
andere im Anzug, in weißen Hemden, schwere Mamas, schwarz verhüllt
oder in grellbunte Tücher gewickelt, Kinder, Kinder – vorbei an den
Uniformierten, den Bauchladenhändlern, dem Getränkestand, zog
ihn das bunte Gedränge der Gruppen zur hölzernen Brücke
über die Bahnsteige hin.
Auch
oben fand er keine Wand, keinen Pfeiler, sich daran zu stützen, denn
Orangenhändler und Gemüsefrauen, selbst bunter als ihre tausend
Waren, boten dort ihr Zeug auf dem Boden der Brücke feil, dazwischen
wohnten familienweise auf schmutzigen Decken die Bettler.
All
den Lärm von Stimmen, Begrüßung, Abschied, Gelächter,
Gezeter, das heisere Tuten der Maschinen, die knackenden Lautsprecher mit
zerkauten Durchsagen und den Singsang von hier und da durchgellte ein Mann
in der Mitte der riesigen Halle, der da unten auf einem der Bahnsteige
saß, ein Pilger wohl, mit seiner Zimbel, zii, zimm zimm zii, zimm
zimm zii, und krähte seine Rezitationen dazu.
Zu
einem Balkon und dahinter einer Galerie von Läden und Schaltern im
ersten Stock der Seitenwand führte die Brücke. Er wollte sich
dort ans Geländer stützen und Orientierung gewinnen; nun sah
er, daß dort Stühle und Tische standen, ein Café offensichtlich,
und nicht zu voll besetzt.
Er
hatte Glück und fand dicht am Balkonrand Platz, zwängte sich
durch die anderen Gäste, setzte sich dicht ans Geländer, stopfte
den Anorak in seinen Beutel, löste das Hemd von der Haut und atmete
endlich mit allen befreiten Sinnen die Gerüche, die offene Weite,
die ungestörte Aussicht.
Von
da oben konnte er die Szene herrlich überblicken. Unten den strahligen
Fächer der Gleise bis zum Fluchtpunkt im Horizont, die Drähte,
Gerüste, Signale, die Schlangenrücken der Züge, das Treiben
auf den Bahnsteigen, mehrfach quer überbrückt; aber nun erst
ging ihm auch die mächtige Halle in ihrer räumlichen Tiefe auf:
Ein
neugotisch-protziges, kolonialzeitlich-üppiges Domgewölbe von
Stahl und Glas bäumte sich über die Säulengebirge, die Knochengebälke,
in Bögen, Girlanden weit gespannt. Zur einen Seite, nach hinten hin,
verlor sich der Raum in dunkleren Höhlungen, feuchtem Gestein, Gestank
und Qualm in die finsteren Tunnel hinab.
Zur
anderen Seite stiegen die Kuppeln zu Himmeln auf, verästelte sich
das Geflecht der metallenen Adern um kaleidoskopisch gebrochene Fenster
zu milchigen Deckenrosetten – ein Lichtmosaik, von Wölbung zu Wölbung
in immer feineren Schäumen gekammerte Brandung, duftig verstäubt.
Der
Kellner brachte die Karte.
Hendrik
blickte erst noch hinaus, die wunderbar weite Sicht zu genießen,
die sich ihm hier bot. Was war das in der Ferne, was glitzerte dort im
Horizont immer wieder auf?
Er
schaute lange dorthin, bis er begriff: das Meer, es war das Meer! Ein Strand,
von weißen Wellensäumen beleckt, die Linien glänzten in
der Sonne auf, von links nach rechts, wenn die Woge schräg auf die
Sandbank traf, abrollte, verrauschte, zurückzog unter die folgenden
Brecher. Das alles war sehr weit weg, fast nur zu ahnen, das alte Spiel
vom Weltenrand, von Wasser und Sand, von Meer und Land.
Nun
aber die Karte.
Ein
prächtiges Heft, mit Ornamenten reich besetzt wie ein Teppich, herrliche
Flechtbänder, Zöpfe verschiedener Farben, noch untereinander
in weiten und engen Schleifen und Knoten verstrickt, die Zwischenräume
noch infinitesimal durchflochten und blättrig in die Tiefe geschichtet,
ein Treppenrelief hinein in die Fläche.
Er
schlug auf, da war es schon wieder, vielleicht ein wenig anders, wenn er
sich das genauer besah und mit dem Deckel verglich, und wenn er weiter
umblätterte, noch immer das in sich verflochtene Werk der Bänder
in Knoten und Schleifen.
Ihm
dämmerte langsam, daß das wohl die eigentliche Karte sei, nicht
bloß ihr Einband und Beiwerk, und daß die kompliziert durchbrochene
Arbeit nichts anderes sei als – die Schrift dieser Karte.
Da
konnte er sich lange bemühen, aus dem Geschnörkel etwas herauszulesen,
vertrautere Zeichen zu finden. Nur die Zahlen am linken Rand waren hin
und wieder erkennbar. Das andere alles sehr schön, eine flamboyante
Spur, ein kalligraphisches Menetekel, ein Rätsel der Buchenstäbe,
Runengeraune, Orakelwerk.
Je
länger er sich hineinsah in die Strukturen, desto vertrauter schienen
sie ihm, und ach, zugleich wieder fremder. Ihm war, als kräuselte
sich ein feiner Rauch durch die Schrift und verändere sie ganz leicht,
kaum merklich; als spiele das Wirrwarr der Gerüche um ihn herein in
die Bögen und Girlanden vor ihm, die fein geschwungenen Linien und
Punkte, ein wenig sortiert, getrennt und neu komponiert. Doch was nützte
ihm das, die Getränke und Speisen zu ahnen, sie beinahe zu riechen,
solange er nicht lesen und erkennen konnte, was das war, was da stand.
Da
kam schon der Kellner mit fragenden Augenbrauen. Hendrik überlegte
kurz und tippte mit seinem Finger auf eine Stelle, wo der Schriftzug kürzer
zu sein schien als sonst.
Der
Kellner runzelte die Stirn, kam näher an die Karte heran, schüttelte
den Kopf und nahm die Karte in die Hand. Dann versuchte er sein Lachen
zu unterdrücken, prustete los und wäre beinahe zwischen den anderen
Tischen der Länge nach zu Boden gegangen, aber er fing sich gerade
noch, stolperte, krümmte sich durch die Gäste hindurch, sprach
mit hoher Kopfstimme vor sich hin, mit verdrehten Augen, als sei er verrückt
geworden, und nun sahen alle mit Verwunderung und Belustigung zu ihm hin,
nein, nicht zu dem Kellner, zu ihm, dem Fremden da vorn am Geländer,
zu Hendrik, der rot angelaufen dasaß und nicht nur die Schrift der
Speisekarte, sondern auch die Situation hier im Café, im Bahnhof,
in der Küstenstadt eines offensichtlich ihm gänzlich fremden
Landes weder lesen und verstehen, noch beantworten und durch richtiges
Verhalten und Benehmen aufschließen konnte.
Der
Strom der Reden und Rufe, das Klappern der Arbeitsgeräusche, der Grüße
und Lautsprecher, das ganze heisere Gemisch der Laute, des Singsangs, der
Zimbel, der Hörner und Pfeifen, das alles verrauschte im Tosen seines
Blutes, der Brandung in seinen Ohren, panisch gesteigert und zugleich im
Schrecken verstummt.
In
immer größeren Kreisen, wie eine Welle, stockte der Trubel,
der Austausch, der Handel, der Verkehr, sie starrten entgeistert und neugierig
zu ihm herüber. Die Welt, die Halle, die Café-Terrasse, die
Reisenden, Träger und Gäste, die uniformierten Beamten und Kellner,
vor allem aber er selbst in der Mitte des ganzen Geschehens und Nicht-mehr-Geschehens,
er selber erstarrte, erbleichte, errötete wieder und wollte sprechen,
fragen – nicht einmal das Stottern der wirren Gedanken kam über die
Lippen, den Mund weit aufgerissen rang er nach – nach – er wußte
nicht was -
Da
kam eine kleine Bewegung und störte die tosende Stille, da löste
sich etwas, regte sich keimhaft, als reiße die weiße Tapete
des Schweigens von dort, von da unten her auf, da kam wer herauf von dem
Bahnsteig, zwei Uniformierte, und zwischen den beiden ein dritter, der
Schnauzbart, – der Schaffner des Zuges, der zeigte mit ausgestrecktem Arm
herüber auf ihn, auf Hendrik, und hatte ein kleines Papier in der
Hand. Ihm schwante schon, was das wohl war. Die kamen jetzt auf ihn zu
-
Das
ganze erstarrte Dornröschenschloß brach hinter ihnen auf, mit
den Schritten der näher und näher Gekommenen rollte der Bahnhof
ab zu den Rändern wie brennendes Papier, Schicht um Schicht; und durch
die weiße Tapete des Schweigens traten sie ein -
Was
war das? Wo war er? Wer bin ich? Wer sind -
Hallo,
alter Knabe! Da bist du ja! Wir haben dich schon vermißt, zu Hause
warst du ja nicht. Wir wollten hier frühstücken kommen, mir ist
der Kaffee ausgegangen.
Komm,
der Stuhl ist für dich, Lischa.
Na,
bist du gut ins neue Jahr gerutscht? Oh Hendrik, was ist denn mit dir?
Ist was passiert?
Gut,
später. Du siehst ja gar nicht gut aus? Ja, gehen wir nachher mal
auf deine Bude, und dann erzählst du alles von vorne, in deinem Stottern
versteht man nicht viel, und die Leute gaffen schon. Hier, ein Taschentuch.
Sitzt
du also im Café, und wir suchen dich zuhause. Und was machst du
hier? Was ist das da in deiner Hand, dieses Heft? Komm, zeig doch mal her.
Sind
das Noten? Sieht etwas ungewohnt aus, so Linien zu schreiben anstatt der
üblichen Eierköpfe.
Ach
so, für die Glissandi besser geeignet. Das sieht aber ja ganz schön
kompliziert aus.
Können
die Streicher das lesen?
Wie,
nur die Graphiker?
Jetzt
hast du mich aber ganz schön reingelegt! Ich hab's doch wirklich geglaubt.
Sieh mal, er macht schon wieder dumme Witze. Ja, deine doofen Scherze sind
noch immer klüger als ich. Hab ich's doch glatt geglaubt, daß
das eine Glissando-Notation wäre, und es ist die künstlerisch
verbrämte Katalog-Speisekarte des Hauses. Bilder, Bilder – und wo
ist dann das Blatt mit den Speisen und Preisen? Liegt nicht drin, haben
die hier vergessen. – Hallo, Garcon, bring doch bitte eine Karte mit Liste,
hier ist nur Kunst.
Jaa,
guut!, schauen wir uns auch mal an. Na, was sagt deine Kennermiene, Lisetta
- ist wohl irisch? Oder persisch? Mexikanisch? Indonesisch? Jetzt sind
wir einmal um die Erde herum.
Aber
sieh dir mal unseren Heinrich an! Der ist ja mit seinen leuchtenden Augen
derartig versunken in die Graphiken, vielleicht macht er doch noch Musik
daraus? Warum nicht als Tonhöhen lesen? Und die Farben als Klangfarben,
als Instrumente also? Kontrapunktische Gewebe.
Wäre
doch nicht schlecht, wenn man die bunten Linien nicht nur sehen und hören,
sondern sogar riechen und schmecken könnte? Synästhetische Wahrnehmung?
Was
meinst du, Hendrik? Und lesen? – Ja, wenn das Bedeutung tragen könnte?
- In der Tat, eine Schrift, die durch alle Sinne ginge, bräuchte nur
sich selbst zu bedeuten. Tja, wenn's jetzt Nacht wäre, bräuchten
wir keine Straßenbeleuchtung, wir müßten nur dich mitnehmen,
Hendrik, und du tätest deine milden Augen auf und erfülltest
alles, was da lebt, mit Wohlgefallen. Und wir nähmen Kreide und malten
köstliche Kanons an die Garagenwände und auf die Bürgersteige.
Oder wir sängen einen Kaschmirschal zusammen. Oder wir kämen
hierher und bestellten die Ornamente auf den Deckeln der Speisekarte. Schöne
Konjunktive, nicht?
Was,
Indikativ? Ach geh, du bist ja ein schlimmerer Grammaticus als mein Kollege
Cuillaut! Na klar wäre so eine Synästhesie die Wirklichkeit,
die sinnliche Erscheinungswirklichkeit, oder besser: Das ist sie, die blanke
Sinnenrealität: eine Schrift der Empfindungsfolgen, eine Knotenschnur
der Zeit, eine verwickelte Fuge, durch alle Sinne gelegt.
Hallo,
ja hier bitte, na, was meinst du, Garcon, kann man das Hauptmenü von
der ersten Seite hier bekommen? Wie? hat schon einer bestellt? Unser Heinrich
hier? Ja dann her damit! Wo bleibt's denn?
Da
lachen die, diese Ägypter. Demnächst geben sie uns eine Hieroglyphenliste
und sagen: Nun bestellt mal schön. Oder noch schlimmer, eine Nonsenskarte,
nur mit Gekritzel voll, und dann lachen die sich tot.