Feire Fiz / Elischa Beth / Wolfram / Cuillaut :
... noch einen Tannhäuser schuldig
Zwiebelgold : Die verbrannten Briefe
 
         
    7. Rasur   
        
       
    Ich hab immer viel Mühe mit dem Aufstehen. Aber nun hatte ich genug davon, mich neben der Schlafenden im schmalen Rest des Bettes an der Wand herumzudrücken und zu beobachten, wie sie sich seufzend von mir wegdrehte, wenn ich ihr einen Kuß auf den Schimmer des Gesichts gab, der zwischen ihren wirren Haaren und der an die Ohren gezogenen Decke eben frei blieb.   

    Laß sie schnarchen, die Liebe. Ich stieg also mit Sorgfalt, hoch gespreizt, über das Steppdeckengebirge hinweg, der aufgehenden Sonne entgegen. Die Matratze bog sich unter meinen Zehenspitzen und die Herrin der Hügellandschaft wachte beinahe auf.   

    Ich schluffte in die Küche oder die Nische meiner Mansarde, die sich so nennt, – tatsächlich, der Kaffee war alle, so eine Katastrophe! Nur Sprudel im Kühlschrank, den Mund freizuspülen. Das kalte Brennen der Kohlensäure im Hals macht schon ziemlich wach. Ich sang Kundrys Worte an den siechen Gralskönig, erster Akt Parsifal: "Fort, fort! Ins Bad!", aber das hatte im Gegenteil die Wirkung, als wäre ich Klingsor und hätte gerade meine beste Hexe aus dem Abyssus evoziert, jedenfalls stöhnte die Alte herzerweichend auf, räkelte und reckte sich auf der freien Bettfläche zu jugendlicher Frische, sieh an, das rosige Kind, legte sich aber wieder gemütlich zur Seite, die Augen zusammengekniffen wie ein schnurrendes Kätzchen, als sie merkte, daß ich schon das Becken in Beschlag genommen hatte, der Millionen Spiegelwelten Schaum auf meiner pflaumenweichen Rosenwangen Flaum. Du glaubst es kaum.   

    Na, was heißt hier Weihnachtsmann, ich kratze die Watte ja schon wieder ab. -   

    Aha! Sie schaute doch zu aus schmalen Augenschlitzen unter schweren Lidern. - Gut geschlafen?   

    Gähnen als Antwort und irgendetwas Zerdehntes, das ich kaum verstand, zuletzt Affe oder Kaffee oh Punkt äh Punkt. Außerdem rauschte das Wasser zu laut.   

    Nein, ist kein Kaffee mehr da. Was hältst du davon, wenn wir frühstücken gehn, draußen? – Ich spülte Gesicht, Hals, Mund, das Wasser gurgelte, so verstand ich nur Bahnhof.   

    Im Bahnhofscafé. Ja, Hendrik wohnt auch da in der Nähe. Wir können ja bei ihm klingeln, ob er mitkommt. Telephon hat er nicht, wegen der Schocks unerwarteter Anrufe beim Komponieren und anderen Heimlichkeiten.   

    Geräusche des Körpers, des Mundraumes insbesondere, klingen nach innen anders als nach außen. Kennst du die furiosen Paroxysmen, Turangalila 4. Satz, die das Zähneputzen verursacht? Schauer vielfarbiger Akkorde zucken in heftigem Ostinato durch den akustischen Raum. Ich hätte sie nicht verstanden, wenn sie nicht inzwischen aufgestanden und hinter mich gekommen wäre, im Nachthemd, den Kopf auf meinen Nacken, die Arme um meinen zähneputzwackelnden Götterspeisenbauch gelegt.   

    Was mit Hendrik los ist? Wo der bleibt?   

    Ich spülte aus – einen Beleg? – beleg dich doch selbst, Cuillaut! Jesaia 19,14, letztes Wort – mmmh, ja, nein, ich weiß nicht, ich habe ihn auch seit Weihnachten nicht mehr gesehen. Auch davor nicht. Verstehst du das? – Ich hatte mich zur Lieben umgedreht und hielt sie umarmt, Kopf an Kopf.   

    Ach ja, richtig: Seine neue Flamme. Er hat mir erzählt, sie heiße Iris und sei eine Eiskunstmaus gewesen oder eine Ballettratte. Mein lieber Schwan, ob er das verkraftet, wenn sie sich ihm offenbart? Es wird ihm die Schuhe ausziehn, wenn er sie nicht rechtzeitig abstreift, denn dies ist ein heiliger Ort, hier kommt, hier ist – die Botin der Götter. Wer die Himmlischen anschaut mit sterblichen Augen -   

    Was, mein Schatz, kennst du Iris nicht, die beflügelte Hirtin der sprechenden Blicke? Hier, komm her. Ja hier, schau mal mit deinen sterblichen Lampen in die meinen, siehst du sie? – Die farbigen Strahlen um meine nächtigen Pupillen.   

    Nein, nicht das Rote – wie, habe ich gestern wieder zu lang ins Feuer gestarrt? - Ich meine den goldenen Regenbogen, der meine sammetschwarzen Sehnsuchtssterne umflort, siehest du es? – Was? Wieso nicht? Ja meinetwegen, gut: aschegelb.   

    Ja, und deine Strahlenkränze sind – aaah, wundersam! – grüngolden, mein Lebensbäumchen. -   

    Wir versanken ein wenig in meinem Bett, unterhielten uns aber weiter. -   

    Nein, ich weiß wenig von ihr, eigentlich garnichts, hab sie nur ein paarmal mit Hendrik gesehen, solange der noch zu sehen war. Wieso? Interessiert's dich?   

    Du und eifersüchtig? Aber der Schalk in deinen Augenfältchen! Du hast so was Hintertriebenes in deinem Blick, ich weiß nicht, als ob es dich freut, daß der alte Knabe – ja gut, ein junges Kerlchen ist er, aber dein alter Sympathikus, nicht wahr? – also ich meine, du hast ein heimliches Vergnügen daran, daß dieser ausgewachsene Kindskopf sich derart aussichtslos verrennt.   

    Das muß es doch auch geben, mein Herz. Was ist denn falsch daran? So wie ich unseren Heinrich kenne, stürzt er sich in ihre Liebespfeile wie ein Sebastian oder besser ein Doktor Seraphicus. Der braucht das. Mit Erfüllung in des schnöden Tages blöder Bedeutung ist dem nicht gedient.   

    Überzeugt dich nicht. Es stimmt schon, sie hat – aus der Ferne betrachtet, ich habe sie noch nicht oft zu Gesicht bekommen – etwas Puppenhaftes, etwas Kaltes; nun, das schließt himmelflammenden Platonismus doch nicht unbedingt aus? Nein nein, ihn meine ich, nicht sie: Unser Hendrik sucht sich doch immer die ideale Nichterfüllung, das ideale Ideal.   

    Vielleicht ergänzen sie sich ideal im Idealen, wenn er so durch seine Phantasien sprengt und sie ihn einmal hart an die Kandare nimmt? Gewiß, das kann einen bösen Sturz geben, oder eine blutige Rißwunde. Oder sie reitet den Wildling tatsächlich zu, hoppe-hoppe-Reiter? Nein, nicht doch, hör auf, Lisl, nicht so! Sie steht aufrecht auf seinem Rücken, berührt ihn kaum, schwebt, eine Akrobatin – aber der stürmt ihr doch bald in den Himmel davon, lodert empor, sprüht die Sterne schon selber hervor! Er müßte sein Flammengestöber zur Glut konzentrieren, wenn das zu ihr passen soll, und das tut er nicht, wenn man mal von seinem Blick absieht.   

    Ja, das fällt dir auch auf, nicht wahr, wie neuerdings seine Äuglein leuchten?   

    Klar doch, wir müssen nur mal durch die Nacht laufen und dem Lichtschein nachgehen, dann finden wir den Strahlemann. Dann zünden wir uns an seiner Lampe ein Licht an, na, was meinst du? -   

    Der Fall ist entschieden: Unser Heinrich ist reif für die Aufnahme in den Orden.   

    Und ob der will! Und wenn er nicht lernt, das Feuer im Ofen zu hüten, fackelt er am Ende noch das ganze Häuschen seiner Persönlichkeit ab, du weißt, was ich meine.  

    Er ist ja schon auf dem Weg, es hat ihn mitgerissen. Entweder gibt es ein böses Erwachen für unseren Morgenlandfahrer, und wer wird ihn dann trösten? Oder wir führen ihn in alle Regeln der Kunst ein.   

    Oder das, ja. Kann gut sein, daß er es ist, der uns den Weg weist, unser knuddeliges Knopfauge. Ich frage mich allerdings, was seine nächtlichen Karfunkel angezündet hat.   

    Gewiß, was alle entflammt. Aber ich sehe da noch eine Handschrift am Werk, die in unserem Elferrat zuhause ist. Ich kann es mir anders nicht erklären, daß er auf das chemo-bio-theologische Experiment seiner selbst gestoßen ist. Davon konnte er mir letztens, vor Weihnachten, ein Liedchen singen, seine neueste Komposition. Und in dem Schneegebirge.   

    Er scheint wohl noch nicht herausgefunden zu haben, daß die Schlüsselsubstanz des Selbstversuchs durch die Lebenswege der Mitmenschen strömt, er sucht sie noch in seinen Phantasien, in Musik und Metaphysik. Aber ich fürchte, daß die Götterbotin ihm die Sache steckt, indem sie ihn aus seiner Selbstverliebtheit herausreißt, durch eine kalte Dusche. Da fließt ein Brünnlein kalt.   

    Ich denke, wir laden Hendrik mit ein, wenn ich dich zur Prüfung fahre. In den Wochen bis zu dem Termin nehmen wir ihn ein wenig in unsere Hut, nicht daß ihm die Sicherung durchbrennt!   

    Er wohnt verdammt nah am Bahnhof.   

    Wart's ab, Lischa, du wirst schon sehen, was das heißt. Ich kann dir ja schließlich nicht alles verraten.   

    Aber eins sage ich dir: Ich beneide keinen, der im Orden hängen bleibt! Glücklich, wem die Aufnahme versagt wird.   

    Kennst du die Geschichte vom Magnetberg? Die Erzählung von den einäugigen Büßern, die die verbotene vierzigste Tür geöffnet haben: Das ist exakt unser Orden.   

    Alle Achtung, Schehrezade, du kennst dich offensichtlich gut aus in den tausendundein Nächten! Tja, dann weißt du ja bereits, welche Pflichten auf dich warten, na? Vierzig Mädchen, schön wie der Mond, beglücken den Prüfling und jede gibt ihm ihre Tür zum Paradies. Nur eine bleibt verboten, die nämlich, die das geflügelte Roß bewahrt. -   

    Aber unser Heinrich, ich weiß nicht, der ist am Ende schon eifrig dabei, eine Tür nach der anderen aufzuschlüsseln? -   

    Ich öffnete noch einmal den Kühlschrank, um meine Kehle mit einem eisig brennenden Schluck durchzuschrecken. -   

    Ende der Märchenstunde. Steh auf, und dann wird's Zeit, sonst komme ich heute überhaupt nicht mehr in die Pötte.   

    Auf dem Weg zum Café können wir -   

    Huch, weg ist sie. Elischa? Lisetta, wo bist du?   

    Eins zwei drei vier Eckstein, alles muß versteckt sein, und ich rede doch glatt gegen die Wände. Kann man sich nicht mal aus dem Bett trauen morgens, zwei Schritt vom Bett zur Küche, schon – mmmh, ich glaube, vielleicht? – nein hier nicht, uh, der Staub! – unterm Bett auch nicht. Was ist das auch für ein Gewühle; Kissen, Decken, Laken – he Kundry! Wie, schon am Werk? – Haha, den Zauber wußt' ich wohl, der immer dich wieder zum Dienst mir gesellt!   

    Mensch, hast du mich erschreckt! Uuoooaaaaah, hast du kalte Finger, nein, nein, bitte, laß das, neeeiin, Eeeli, Eeeeeliiiii – -   
       
     

        
    8. Das Café I.   
        
       
    "Schaaaaah -" Jemand riß die Tür auf, Gebrüll im Gang, eine Horde olivgrüner Rekruten mit einem ihm unverständlichen Idiom suchte leere Abteile. Gestiefel, Gelächter, die metallischen Schläge der Ghettobluster, ein Schwall von übersteuertem Singsang mit zitterndem Hall. Die Jungs sahen ihn kaum, begannen fast über ihn weg sich hinzupflanzen und auszustrecken. Hendrik nahm seinen Leinenbeutel auf die Schulter und wich ihnen geschickt aus. Im Gang war es nicht besser. Er suchte den Waschraum, die Augen brannten.   

    Es war schon hell. Die vorbeifliegende Landschaft nebelfeucht, von Sonne durchblitzt. Schüttere Vegetation, über rötliche Hügel verstreutes Dorngebüsch. Wo war er hingeraten? Ein Anflug von Panik weckte ihn auf, jetzt wurde er neugierig.   

    Den Schaffner auf dem Gang, ein anderer als am Abend, ein düsterer Schnauzbart, den wollte er fragen; doch der verstand ihn nicht, zeigte aber seine Entwertungszange, wollte das Billett sehen, hielt dann das Kärtchen lange, zu lange schweigend fest, bedeutete ihm, er solle an Ort und Stelle warten, und verschwand mit dem Scheinfahrschein brummend in seinem Abteil. Es blieb nichts, als sofort zu verschwinden, vorbei an den schwarzvermummten Frauen im Gang, über Koffer und Körbe, von der Fliehkraft der Fahrt mal nach links, mal nach rechts gedrückt, sich im Waschraum eines anderen Waggons einzuschließen; und das langgezogene Quietschen der Bremsen ließ ihn spüren, daß der Zug schon den nächsten Haltebahnhof erreichte. Er wartete ab, bis der Gang von den Aussteigenden freigeworden zu sein schien, schloß auf, stemmte sich gegen die schon hereinströmende Menge hinab und hinaus und war schließlich im Freien, aber wo denn nun?   

    Ihm wurde heiß, ein wirres Gelärme, der Menschentrubel, alles überfiel ihn wie eine Sturzwoge, erst hohl mit der Offenheit des Raumes, dann dicht mit den fremden Atmosphären, Aquarium, dicke Luft, und vor allem oh diese Gerüche, Gestank durchsetzt von würzigem Qualm und süßem Räucherwerkstaub, Blumenfrische und Schweiß und Gemüse und säuerliche Zigarretten, Ammoniak, Seife, Urin – jeder Hund würde hier wohl wahnsinnig.   

    Er versuchte erst einmal Halt zu finden, sein Hemd klebte an der Haut, er trank die Luft wie ein Fisch.   

    Wo war er nur, wo? Menschen, Menschen, orange gekleidete schnauzbärtige Träger mit Turban riefen hin und her; Kinder, kleine Erdnußverkäufer quirlten durch die wartenden, die schiebenden, die begrüßenden, die verabschiedenden Reisenden; manche der Männer in Lungi-Hosen, andere im Anzug, in weißen Hemden, schwere Mamas, schwarz verhüllt oder in grellbunte Tücher gewickelt, Kinder, Kinder – vorbei an den Uniformierten, den Bauchladenhändlern, dem Getränkestand, zog ihn das bunte Gedränge der Gruppen zur hölzernen Brücke über die Bahnsteige hin.   

    Auch oben fand er keine Wand, keinen Pfeiler, sich daran zu stützen, denn Orangenhändler und Gemüsefrauen, selbst bunter als ihre tausend Waren, boten dort ihr Zeug auf dem Boden der Brücke feil, dazwischen wohnten familienweise auf schmutzigen Decken die Bettler.   

    All den Lärm von Stimmen, Begrüßung, Abschied, Gelächter, Gezeter, das heisere Tuten der Maschinen, die knackenden Lautsprecher mit zerkauten Durchsagen und den Singsang von hier und da durchgellte ein Mann in der Mitte der riesigen Halle, der da unten auf einem der Bahnsteige saß, ein Pilger wohl, mit seiner Zimbel, zii, zimm zimm zii, zimm zimm zii, und krähte seine Rezitationen dazu.   

    Zu einem Balkon und dahinter einer Galerie von Läden und Schaltern im ersten Stock der Seitenwand führte die Brücke. Er wollte sich dort ans Geländer stützen und Orientierung gewinnen; nun sah er, daß dort Stühle und Tische standen, ein Café offensichtlich, und nicht zu voll besetzt.   

    Er hatte Glück und fand dicht am Balkonrand Platz, zwängte sich durch die anderen Gäste, setzte sich dicht ans Geländer, stopfte den Anorak in seinen Beutel, löste das Hemd von der Haut und atmete endlich mit allen befreiten Sinnen die Gerüche, die offene Weite, die ungestörte Aussicht.   

    Von da oben konnte er die Szene herrlich überblicken. Unten den strahligen Fächer der Gleise bis zum Fluchtpunkt im Horizont, die Drähte, Gerüste, Signale, die Schlangenrücken der Züge, das Treiben auf den Bahnsteigen, mehrfach quer überbrückt; aber nun erst ging ihm auch die mächtige Halle in ihrer räumlichen Tiefe auf:   

    Ein neugotisch-protziges, kolonialzeitlich-üppiges Domgewölbe von Stahl und Glas bäumte sich über die Säulengebirge, die Knochengebälke, in Bögen, Girlanden weit gespannt. Zur einen Seite, nach hinten hin, verlor sich der Raum in dunkleren Höhlungen, feuchtem Gestein, Gestank und Qualm in die finsteren Tunnel hinab.   

    Zur anderen Seite stiegen die Kuppeln zu Himmeln auf, verästelte sich das Geflecht der metallenen Adern um kaleidoskopisch gebrochene Fenster zu milchigen Deckenrosetten – ein Lichtmosaik, von Wölbung zu Wölbung in immer feineren Schäumen gekammerte Brandung, duftig verstäubt.   

    Der Kellner brachte die Karte.   

    Hendrik blickte erst noch hinaus, die wunderbar weite Sicht zu genießen, die sich ihm hier bot. Was war das in der Ferne, was glitzerte dort im Horizont immer wieder auf?   

    Er schaute lange dorthin, bis er begriff: das Meer, es war das Meer! Ein Strand, von weißen Wellensäumen beleckt, die Linien glänzten in der Sonne auf, von links nach rechts, wenn die Woge schräg auf die Sandbank traf, abrollte, verrauschte, zurückzog unter die folgenden Brecher. Das alles war sehr weit weg, fast nur zu ahnen, das alte Spiel vom Weltenrand, von Wasser und Sand, von Meer und Land.   

    Nun aber die Karte.   

    Ein prächtiges Heft, mit Ornamenten reich besetzt wie ein Teppich, herrliche Flechtbänder, Zöpfe verschiedener Farben, noch untereinander in weiten und engen Schleifen und Knoten verstrickt, die Zwischenräume noch infinitesimal durchflochten und blättrig in die Tiefe geschichtet, ein Treppenrelief hinein in die Fläche.   

    Er schlug auf, da war es schon wieder, vielleicht ein wenig anders, wenn er sich das genauer besah und mit dem Deckel verglich, und wenn er weiter umblätterte, noch immer das in sich verflochtene Werk der Bänder in Knoten und Schleifen.   

    Ihm dämmerte langsam, daß das wohl die eigentliche Karte sei, nicht bloß ihr Einband und Beiwerk, und daß die kompliziert durchbrochene Arbeit nichts anderes sei als – die Schrift dieser Karte.    

    Da konnte er sich lange bemühen, aus dem Geschnörkel etwas herauszulesen, vertrautere Zeichen zu finden. Nur die Zahlen am linken Rand waren hin und wieder erkennbar. Das andere alles sehr schön, eine flamboyante Spur, ein kalligraphisches Menetekel, ein Rätsel der Buchenstäbe, Runengeraune, Orakelwerk.   

    Je länger er sich hineinsah in die Strukturen, desto vertrauter schienen sie ihm, und ach, zugleich wieder fremder. Ihm war, als kräuselte sich ein feiner Rauch durch die Schrift und verändere sie ganz leicht, kaum merklich; als spiele das Wirrwarr der Gerüche um ihn herein in die Bögen und Girlanden vor ihm, die fein geschwungenen Linien und Punkte, ein wenig sortiert, getrennt und neu komponiert. Doch was nützte ihm das, die Getränke und Speisen zu ahnen, sie beinahe zu riechen, solange er nicht lesen und erkennen konnte, was das war, was da stand.   

    Da kam schon der Kellner mit fragenden Augenbrauen. Hendrik überlegte kurz und tippte mit seinem Finger auf eine Stelle, wo der Schriftzug kürzer zu sein schien als sonst.   

    Der Kellner runzelte die Stirn, kam näher an die Karte heran, schüttelte den Kopf und nahm die Karte in die Hand. Dann versuchte er sein Lachen zu unterdrücken, prustete los und wäre beinahe zwischen den anderen Tischen der Länge nach zu Boden gegangen, aber er fing sich gerade noch, stolperte, krümmte sich durch die Gäste hindurch, sprach mit hoher Kopfstimme vor sich hin, mit verdrehten Augen, als sei er verrückt geworden, und nun sahen alle mit Verwunderung und Belustigung zu ihm hin, nein, nicht zu dem Kellner, zu ihm, dem Fremden da vorn am Geländer, zu Hendrik, der rot angelaufen dasaß und nicht nur die Schrift der Speisekarte, sondern auch die Situation hier im Café, im Bahnhof, in der Küstenstadt eines offensichtlich ihm gänzlich fremden Landes weder lesen und verstehen, noch beantworten und durch richtiges Verhalten und Benehmen aufschließen konnte.   

    Der Strom der Reden und Rufe, das Klappern der Arbeitsgeräusche, der Grüße und Lautsprecher, das ganze heisere Gemisch der Laute, des Singsangs, der Zimbel, der Hörner und Pfeifen, das alles verrauschte im Tosen seines Blutes, der Brandung in seinen Ohren, panisch gesteigert und zugleich im Schrecken verstummt.   

    In immer größeren Kreisen, wie eine Welle, stockte der Trubel, der Austausch, der Handel, der Verkehr, sie starrten entgeistert und neugierig zu ihm herüber. Die Welt, die Halle, die Café-Terrasse, die Reisenden, Träger und Gäste, die uniformierten Beamten und Kellner, vor allem aber er selbst in der Mitte des ganzen Geschehens und Nicht-mehr-Geschehens, er selber erstarrte, erbleichte, errötete wieder und wollte sprechen, fragen – nicht einmal das Stottern der wirren Gedanken kam über die Lippen, den Mund weit aufgerissen rang er nach – nach – er wußte nicht was -   

    Da kam eine kleine Bewegung und störte die tosende Stille, da löste sich etwas, regte sich keimhaft, als reiße die weiße Tapete des Schweigens von dort, von da unten her auf, da kam wer herauf von dem Bahnsteig, zwei Uniformierte, und zwischen den beiden ein dritter, der Schnauzbart, – der Schaffner des Zuges, der zeigte mit ausgestrecktem Arm herüber auf ihn, auf Hendrik, und hatte ein kleines Papier in der Hand. Ihm schwante schon, was das wohl war. Die kamen jetzt auf ihn zu -   

    Das ganze erstarrte Dornröschenschloß brach hinter ihnen auf, mit den Schritten der näher und näher Gekommenen rollte der Bahnhof ab zu den Rändern wie brennendes Papier, Schicht um Schicht; und durch die weiße Tapete des Schweigens traten sie ein -   

    Was war das? Wo war er? Wer bin ich? Wer sind -   

    Hallo, alter Knabe! Da bist du ja! Wir haben dich schon vermißt, zu Hause warst du ja nicht. Wir wollten hier frühstücken kommen, mir ist der Kaffee ausgegangen.   

    Komm, der Stuhl ist für dich, Lischa.   

    Na, bist du gut ins neue Jahr gerutscht? Oh Hendrik, was ist denn mit dir? Ist was passiert?   

    Gut, später. Du siehst ja gar nicht gut aus? Ja, gehen wir nachher mal auf deine Bude, und dann erzählst du alles von vorne, in deinem Stottern versteht man nicht viel, und die Leute gaffen schon. Hier, ein Taschentuch.   

    Sitzt du also im Café, und wir suchen dich zuhause. Und was machst du hier? Was ist das da in deiner Hand, dieses Heft? Komm, zeig doch mal her.   

    Sind das Noten? Sieht etwas ungewohnt aus, so Linien zu schreiben anstatt der üblichen Eierköpfe.   

    Ach so, für die Glissandi besser geeignet. Das sieht aber ja ganz schön kompliziert aus.   

    Können die Streicher das lesen?   

    Wie, nur die Graphiker?   

    Jetzt hast du mich aber ganz schön reingelegt! Ich hab's doch wirklich geglaubt. Sieh mal, er macht schon wieder dumme Witze. Ja, deine doofen Scherze sind noch immer klüger als ich. Hab ich's doch glatt geglaubt, daß das eine Glissando-Notation wäre, und es ist die künstlerisch verbrämte Katalog-Speisekarte des Hauses. Bilder, Bilder – und wo ist dann das Blatt mit den Speisen und Preisen? Liegt nicht drin, haben die hier vergessen. – Hallo, Garcon, bring doch bitte eine Karte mit Liste, hier ist nur Kunst.   

    Jaa, guut!, schauen wir uns auch mal an. Na, was sagt deine Kennermiene, Lisetta - ist wohl irisch? Oder persisch? Mexikanisch? Indonesisch? Jetzt sind wir einmal um die Erde herum.   

    Aber sieh dir mal unseren Heinrich an! Der ist ja mit seinen leuchtenden Augen derartig versunken in die Graphiken, vielleicht macht er doch noch Musik daraus? Warum nicht als Tonhöhen lesen? Und die Farben als Klangfarben, als Instrumente also? Kontrapunktische Gewebe.   

    Wäre doch nicht schlecht, wenn man die bunten Linien nicht nur sehen und hören, sondern sogar riechen und schmecken könnte? Synästhetische Wahrnehmung?   

    Was meinst du, Hendrik? Und lesen? – Ja, wenn das Bedeutung tragen könnte? - In der Tat, eine Schrift, die durch alle Sinne ginge, bräuchte nur sich selbst zu bedeuten. Tja, wenn's jetzt Nacht wäre, bräuchten wir keine Straßenbeleuchtung, wir müßten nur dich mitnehmen, Hendrik, und du tätest deine milden Augen auf und erfülltest alles, was da lebt, mit Wohlgefallen. Und wir nähmen Kreide und malten köstliche Kanons an die Garagenwände und auf die Bürgersteige. Oder wir sängen einen Kaschmirschal zusammen. Oder wir kämen hierher und bestellten die Ornamente auf den Deckeln der Speisekarte. Schöne Konjunktive, nicht?   

    Was, Indikativ? Ach geh, du bist ja ein schlimmerer Grammaticus als mein Kollege Cuillaut! Na klar wäre so eine Synästhesie die Wirklichkeit, die sinnliche Erscheinungswirklichkeit, oder besser: Das ist sie, die blanke Sinnenrealität: eine Schrift der Empfindungsfolgen, eine Knotenschnur der Zeit, eine verwickelte Fuge, durch alle Sinne gelegt.   

    Hallo, ja hier bitte, na, was meinst du, Garcon, kann man das Hauptmenü von der ersten Seite hier bekommen? Wie? hat schon einer bestellt? Unser Heinrich hier? Ja dann her damit! Wo bleibt's denn?   

    Da lachen die, diese Ägypter. Demnächst geben sie uns eine Hieroglyphenliste und sagen: Nun bestellt mal schön. Oder noch schlimmer, eine Nonsenskarte, nur mit Gekritzel voll, und dann lachen die sich tot.   

 
        
    9. Der Chemiker   
        
       
    Na, laß mal sehen, Cuillaut, wie unser Reisender seine projizierten Personifikationen ausbaut, wie er das Duett der Verliebtheit mit der Eifersucht imaginiert. Es geht schon los, oweh, bist du bereit, Cuillaut?  

    Eine gute Haltung, hoch aufrecht und mit sehr bewußten Bewegungen der Arme. Gepflegte Erscheinung sagt man und meint die bläßlichen Spießer, die sonst nichts vorweisen können; aber er ist eine redebegabte, in der Formulierung oft sehr genaue, fast überscharfe Natur, oder eben kaum Natur, vielmehr wohlgeübte Eleganz. Sie mag den Mann, mit ihm kann sie sich sehen lassen.   

    Bei den Konversations-Parties ihrer Eltern hat Iris ihn kennengelernt. In seinem schwarzen Anzug hielt sie ihn zuerst für einen Pfarrer, dem widersprach dann seine Urbanität und, sie lacht innerlich, seine schreiende Krawatte. Im Wechsel der Einladungen haben sie ihre Legenden scherzhaft durchgespielt, sich über die Heiligkeit der privaten Tabus untereinander verständigt, geheimere Dinge behutsam einander entdeckt, als sie im Advent nach Hause gefahren ist. Im Schneeglanz der Weihnachtswochen dann verbinden sie sich, verbünden sich miteinander. Er begreift, daß sie ihre Klavierstunden, Ballettübungen, Konzertabende braucht, auf Familie ist sie nicht angelegt; ihren Meister kennt er nicht. Nach der Prüfung in wenigen Wochen will sie zurückkehren ins Elternhaus, nächste Lebensphase. Dann kämen sie leichter zusammen.   

    Man vermeidet das Wort Karriere, auch wenn es der Stamm ist, von dem die Äste sich auszweigen, denn das eifrige Leben ist mehr als Beruf, zumal wenn zwei Bäume einander umwachsen und eine gemeinsame Krone ausbilden im Laufe der Jahre, im Lebensplan. Denn da wird eine immer weiter sich treibende Konversation und ein Ausleuchten der Interessen und Erkenntnisse folgen, solange die Achtung, die edle Distanz der Höflichkeit gewahrt ist. So wägt sie es ab.   

    Vielleicht auch dies: Zwei Vögel, eng verbundene Freunde, umklammern den gleichen Baum; der eine der beiden ißt die süße Frucht, der andre schaut ohne zu essen ihm zu.   

    Doch eher noch dies: Sie genießt die Frucht und gibt sie ihm weiter. Und er empfiehlt ihr und zeigt ihr die Frucht, die sie dann genießt. Ein Kreis.   

    So zeigt er ihr sein Chemielabor, die Zauberwerkstatt der Klugheit am Stoff. Glaub's ihr, sie ist grenzenlos fasziniert, das Staunen-Spiel gelingt ihr zur Selbstverblüffung. Sie fragt geschickt und begreift mehr als er ihr sagt. Das beglückt ihn gewiß: ein seltenes Empfinden, sich so gebündelt im Brennpunkt gespiegelt zu sehen.  

    Die Kreislaufmittel, an denen er forscht, die Folge, die Reihung der Tryptamine und ihrer Verwandten, sie läßt es sich gerne erklären. Der blumige Duft des Indols in zarter Verteilung, auch die Chemie kennt zärtliche Grade und Dinge, feiner als alle Empfindung. Sachte erklärt er ihr die Kohlenstoffringe der Molekularstrukturen, wie sie Methylgruppen binden, wie sie von Formel zu Formel in weiteren Waben zusammengeschlossen sind und wie sie einander umweben -   

    Wirkungen will sie wissen, staunt dann, daß bei aller Ähnlichkeit des chemischen Kerns doch so verschiedene Früchte schon an den kleinen Verzweigungen hängen, die aus den wabigen Ringen entsprießen.   

    Ist da das Rätsel nicht der Mensch, bei dem sich ja erst diese Wirkungen zeigen? Und manches wohnt ja im menschlichen Leib, das Serotonin zu Beispiel, dieser Bananenstoff. Sie kennt Sportler, die fast von Bananen leben, gibt das denen den Pep?   

    Sie lachen. An seinem Schweigen merkt sie leicht, daß in dem edlen Getue manche Geheimnisse liegen, wie Schätze verborgen. Hat sie doch beruflich-gründlich gelernt, in welchen Büchern man seine Fragen beantwortet findet, wenn man nur die Fragen richtig addressiert. Also schaut sie später selber nach und kommt ihm schnell auf die Schliche.  

    Was ist schon ein Labor, bestätigt er sie, jeder menschliche Körper ist so unendlich viel reicher und feiner an Wirkungskreisläufen, an Stoffen und tausenden Dingen, die wir nicht wissen. Das chemische Universum birgt sich zum allergrößten Teil in den lebenden, in den organisch vernetzten Strukturen. Und wie das alles zum denkenden Menschen zusammenwirkt, der diese Muster dann wiederum findet, erforscht, sie bearbeitet, synthetisiert, nun, fast will ich sagen, zusammenwebt wie ein Komponist? -   

    Sie liebte die Gläser, die feinen Röhrchen, den bunten Schimmer. Der Körper ist ein Geäder, kommt ihr in den Sinn, wie es wohl wäre, in eine große Anlage einzutauchen, die alle Gewebe und Adern des Menschen durchsichtig nachbildete, all die Funktionen, die Körperchemie, das wäre schon bezaubernd. Ein bißchen etwas hat ja dieses Labor davon, dies schwer überschaubare Orgelgestrahle der Röhren und Leitungen. Nur statt der Töne führen sie kostbare Lösungen, fein abgestimmt. Und statt der Lesbarkeit ihrer verflochtenen Schriftzüge dienen die kontrollierten Kanäle zu sauber geplanten Synthesen und Scheidungen.   

    Sie fragt ihn, wer auf diese Flötentöne der Götter denn tanze?   

    Er berührt sie mit der linken Hand leicht am Kinn und hebt ihr Gesicht zu ihm, mit dem Zeigefinger der rechten zeichnet er die Linien ihrer feinen Augenbrauen nach.   

    Du, Iris.   

    Sie weiß, wie man fragend aufblickt.  

    Komm, Cuillaut, krieg dich wieder ein. Mann, ist das ein Spinner, dieser Donizetti, ja Heinrich, wer denn sonst? Etwa sein Phantom, dieser Chemiker? Ein Kitsch ist das, zum Erbrechen! Also weiter im Duett, jetzt wieder der Tenor in der unteren Sextenparallele:  

    Du tanzt, schon damit, daß du lebst, dein pulsendes Herz, dein Atem, und jede Bewegung. Und mit dir das Leben selbst, das tanzt darauf, darin, da hindurch. Es schreibt sich ja selber diese Kompositionen in deinen Gliedern so wie auch im ganzen Plan der Natur.   

    Sie gehen langsam weiter durch den Perlmuttglanz der glasumsponnenen Höhle.   

    Und es sind nicht nur räumliche Gitter und Waben; zum Leben sind die Prozesse entscheidend, die zeitlichen Wechsel und Kreise und Rhythmen. Vielleicht müssen wir viel mehr darauf achten, als auf die Kombinationen des elementaren Alphabets zu stabilen Stoffen. Wir buchstabieren ja erst.   

    Vielleicht hat er nun ihre Blicke verfolgt, wie sie den Weg der Substanzen von Kolben zu Kolben verfolgen, sachte und suchend gleitet ihr Finger die transparenten Schleifen entlang.   

    Ich sehe, du suchst die poetischen Reize in diesen Komplexen. Wer schreibt die Schrift? Wer liest sie? Wer deutet, wer denkt, wer versteht sie? Nun, ich glaube, nein besser: ich sehe zunächst, daß da viele Prozesse schon selber einander entschlüsseln und lesen, auf eine so kluge, vollkommene Weise, daß lange kein Mensch so geschickt und wissend sein wird, ein ähnliches Wirkungsgewebe zu dichten. Hormone und Nervenreizleitung, Enzyme, die Wendeltreppe der DNA zum Beispiel, wie sie sich aufteilt, und dann die lesenden Helfer, die sie kopieren, das kennst du bestimmt, die sind ja wie Schlüssel und Schloß, aber nicht nur zu einer Türe im Haus, nein gleich zu einer ganzen Botschaft von Schlössern, wobei deren Reihe entscheidend ist wie die Folge der Buchstaben in einem Text. Das ist kein bloßer Reißverschluß, wo Haken und Haken in Haken sich haken, das ist, wie ich sagte, ein Text, eine riesige Anleitung, wie sich die Stoffe zum Körper bearbeiten, aufbauen, ordnen und darbieten können und sollen.   

    Ja, das findet in uns selbst alles statt, und besser, genauer und klüger geschrieben, gelesen, verstanden und umgesetzt als bewußt wir es könnten.   

    Sie läßt sich nicht anmerken, daß sie nun endlich die Stelle gefunden hat, wo er, wie sie schon vermutet hat, ein starkes Aphrodisiakum synthetisiert, sie kennt die Formel auf den Gläsern. Sieh an, – Hoffmanns Elixiere. Sie weiß, daß die verschwindendste Menge dieser Substanz den, der sie kostet, den Himmel küssen läßt. Und sie weiß von Kurinshoru, wie diese Weltumwendung durch Askese im eigenen Leib zu erreichen ist, so daß zur Dauer wird, was sonst nur in kurzen Momenten die liebenden Leiber durchzuckt. Ob er das auch weiß, vielleicht nur ahnt? Was läßt ihn von ihrem Körper sprechen? Was erlaubt ihm – - – das geht ein wenig zu weit. Es ist, als bereite ein Arzt seine Assistentin auf einen chirurgischen Eingriff vor und wolle ihr damit auch noch seine Liebe erklären. So sieht das also aus.   

    Ihr kommt, weiß der Himmel woher, der Junge in den Sinn mit den warmbraunen Augen, der holpert bestimmt durch die Stadt wie ein verlorenes Schäfchen, Opferlämmchen. Oder er wacht die Nächte durch und schmiert seine Tränen ins Notenpapier. Ist das nicht die wahre Chemie des Lebendigen? Das salzige Wasser in höchster Potenz, fast ein Nichts? Die Kunst besteht darin, diese Schlüsselsubstanz lächelnd zurückzubehalten, sie in sich zu verwandeln.  

    Der Begleiter versucht aus unbestimmten Hintergründen den Faden aufzunehmen:   

    Ich sehe, dich reizt die Musik darin, der Komponist in dem ganzen Stück.  

    Halt die Klappe, Cuillaut, du bist doch der geborene Mißklang am ganzen Stück! Halt bloß deine Klappe, du Schandmaul! Setz dich wieder hin, ich pausiere nicht, wir fahren fort; also die stille Iris ist hier gemeint:  

    Nichts in ihrer Miene zeigt etwas von der Überlagerung der Bilder, von der Deckungsgleichheit der Persönlichkeiten, der Identität der Person, der einen einzigen Person in zwei Rollen, die ihr da mit einem Male aufgeht, die sie elektrisiert, ein feiner Blitz: Da hat er sich verraten. Nur Kurinshoru hat solche wissenden Ahnungen. Und dann wieder, im gleichen Augenblick - ist er es wirklich? Was für ein raffiniertes Rollenspiel – was für eine Verwandlungsgabe – - – versucht er sie? Das bleibt in ihrem Sinn verschlossen, sie versucht, in der Gesprächsbahn zu bleiben, wankt nur gering, verschliert nur unmerklich, indem sie ihn geringfügig mißversteht, als habe er einen bestimmten Komponisten gemeint. Dem Himmel sei Dank, er geht darauf ein, zieht gleich mit. Er hat es wohl nicht bemerkt.  

    Du meinst, wenn einer Musik komponiert, ob das seine Körperchemie in ihm leistet? Raffinierte Frage. Es ist ja schon schwer genug, zu entscheiden, ob die Chemie des Gehirns in uns denkt, ob wir sie mit unsrem Bewußtsein selbst sind. Schwierig zu denken, schwer zu sagen.  

    Geschenkt, Cuillaut, natürlich hat er lichte Momente, wenn er selbst erspürt, was sein hormonell bedingtes Irresein in ihm leistet. Hätte er doch nur geahnt, was für ein elender Kitsch dabei zu Papier kommt. Er läßt nun den Laborheini weiter sekretieren:    

    Was meinst denn du? Wenn du tanzt und alle Zuschaueraugen bestrickst, tanzt dann die Natur in dir, die die Körper lebendig zusammenstrickt?   

    Gewiß, erst muß man das spröde Formelpuzzle einmal organisch zur Sprache bringen, um über das elementarische Alphabet der Gleichungen und Experimente hinauszukommen; – aber zur Frage danach, ob die chemischen Wandlungen, Wirkungsfolgen und auch ihre Muster und deren Strukturen auf höheren Ebenen denken und dichten und tanzen, dazu muß man schon selbst komponieren, denken, dichten und tanzen.   

    Die Reihe ist an dir. Du weißt es vielleicht, du weißt das auf jeden Fall besser als ich.   

    Was meinst du? Was weißt du? Was sagst du dazu?   

    Sie schweigt. 

 
 
Fortsetzung: II. Enneade, Kapitel 10-12
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I. Enneade   
   
1. Prolegomena   
2. Ouvertüre   
3. Iris   
    
4. House burning down 
5. Die Reise   
6. Pupille   
    
7. Rasur   
8. Das Café I   
9. Der Chemiker
II. Enneade   
   
10. Das Brot   
11. Der Kelch   
12. Wasserwüsten   

13. Die Wellentaucher 
14. Die Ersten – die Letzten 
15. Die Wellenreiter   

16. Feuermeere   
17. Die Brüder   
18. Der Wein

III. Enneade   
   
19. Die Substanzen   
20. Das Café II   
21. Eli Eli   

22. Umweg   
23. Der Garten   
24. Er kehret nicht zurück 

25. Oh du lieber Abendstern 
26. Dahin zog's mich   
27. Katalegomena

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Heinrich von Ofterdingen, Wolfram und Klingsôr im "Sängerkrieg auf der Wartburg"
 
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