24.
Er kehret nicht zurück
Der Bahnhof ist ein verdorbenes
Juwel, zersprungenes Grünglas, zerklüfteter Stein mit muscheligen
Brüchen, mit spiegeligen Falten so eng, daß das Licht sich verdichtet,
verengt, verschiefert in glänzenden Bündeln und Garben, geschart
in Geleisen, in stählernem Strahlengedränge: So greifen sie fast
ineinander, schneiden sich, spelzen hinein in die Weichen des Nachbarn,
den Linienzwilling im Fluchtpunkt der Gleisparallelen, und schießen
im Horizont wieder hervor aus schneidigen Düsen und zweigen hinaus
über Brücken und Bögen weit in den Raum und über dich
hin, wo der Wurf der Fontänen zur Kuppel erstarrt.
Von dort, da regnen sie
wieder herab und verhallen ach tausendfach, brechen und stürzen hernieder,
die Stimmen, die Ankünfte, gellt die Posaune die spitzen Signale,
Reflex von den Seiten, die Pauken der Lautsprecherknackse, die Trommeln
und Pfeifen der zischenden Züge, die Grüße der grölenden
Schlachtenbummler und Bahnpolizisten, die flüstern sich was in die
Tüte und sagen uns an eine fröhliche Zeit und singen, daß
er schon naht, Freund Hein, denn der Weg ist die Zeit, und die Zeit ist
ihr Ziel zu Genüge -
Gong, ja da und jetzt,
da kommen sie schon, da sind sie! die rosigen Pilger, der einhundertfünfzigste
Psalm, Halleluja, da kommen sie wieder, komm, Wolfram, da sind sie, am
anderen Bahnsteig, hinunter zur Halle, hinauf -
Doch da bricht schon der
ganze Flamenco, der stolpernde Samba, der Schwall, der Schwarm der Schwäne,
der Gänse, Flamingos die Treppe herab, mein Gott, halt mich fest -
So sitzt sie über
das weiche Papier gebeugt, die krausen Haare mit farbigen Strähnen,
immer wieder fallen sie in die wasserglänzende Fläche, so dicht
hält sie das Gesicht über die welligen Sümpfe. Tupfer hier
und dahin, die sich schnell strahlig dehnen, zerfließen, Striche,
die in Wirbelstraßen zerfasern; aber einige Stellen hat sie trocken
gelassen, Wellen von gelblichem Schmutz zeichnen ihre Ränder, der
fein aufgeschäumte Staub im Papier sondert sich zu einem Strandsaum
ab.
Gedanken und Erinnerungen
bilden wachbewußte Felder, wo der aufgehäufte Lehm über
den Schilfinseln trocknet, Ziegel aufgetürmt zu Mauern, zu Stufenpyramiden,
umringten Städten zwischen den Strömen, und die Eroberer und
Zerstörer bauen weiter über den Trümmern, den hartgebrannten
Scherben; aber Ea, der weise Gott, kommt übers Meer, entwindet sich
den Fluten, bändigt die Wasser in Kanälen, Leitungen, Röhrensystemen,
Geäder verteilt bis in die feinsten Kapillaren der Früchte, verwandelt
den Morast in duftiges Obst, in Saft und Geschmack.
Doch um die erhabenen,
trockenen Inseln der Seligen, rings um die Städte der Wachheit, da
fluten noch frei die Erinnerungen in den Erinnerungen, Träume in Träumen
versunken, Gedanken versenkt in Gedanken, Gewelle, Gewoge, Gerausche, -
In Welle, Woge, Rausch
verästeln, verzweigen, zerfasern die Farben, die Formen, Substanzen
zu Baum und Wäldern und Buschwerk, gefleckter, gekörnter, verstäubter
Flocken, Kerne, Sterne – sprießen, schießen an zu -
Wo, wo bist du, wo bist
du nur, Heinrich? Da sind wir durch die Pilger geschwommen, hinab und hinauf,
und suchten herz- und händeringend gegen die Flut aus dem Füllhorn
der rosigen Freuden den Freund, und drangen noch bis in den zischenden
Dampf der stampfenden Maschine vor, da war er nicht mehr -
Nein Wolfram, hier ist
er nicht. Alles umsonst.
Wir faßten uns,
schritten zur Strompromenade hinab, spazierten entlang, die Schuhe im Schlick,
dann wieder ein platzendes Steinegekratze auf knirschenden Kieseln.
Was ist das für ein
Lied, das du da singst, Wolfram? Es ist nicht von dir? -
Der Magier im Geladenen
Damenland, ach ja – aber der ist doch seit, ich glaube, seit zwölf
Jahren schon tot, wie kann er damit den heutigen Tag besingen? -
Wie, das Lied heißt
so? -
Merkwürdig. In der
Tat. Das ist Hendrik, ja, das könnte er sein, wie er sich beklagt,
daß wir, die Freunde, heute nicht zusammen sein können. Und
die Maschine, die wir zusammen gebaut hätten, die werde uns niemals
retten; das sei es, was wir ihm immer sagten, und deshalb kämen wir
auch nicht mit hinein, welch ein Drama.
Aber was meint er damit,
und was sind das für Gestalten, die von Silberblau bis Blutrot herumklecksen?
Mein Aquarellkasten? Na
hör mal! Es kann genausogut dein eigenes corpus delicti gemeint sein,
oder was sind das für lange tubenförmige Dinger, die immer herumregnen,
Schreie und Schmerzen verursachen, wenn ich das Zeug richtig verstehe,
das du da singst?
Gewiß. Reste des
Rätselhaften machen Ästhetik; wenn alle Fragen geklärt sind,
hören Reiz, Erlebnis und Anmut auf. Also gut: Übergehen wir die
Deutung, in deinem maskulinen Schutzinteresse. Aber die Maschine nun, was
sagt unser Comics-Kaugummi-Kautschukzapfer denn weiter dazu?
Also: "Das Gerät
wird uns nicht retten", so sagen die Freunde – nehmen wir an, das sind
wir -, und es sei unmöglich für Menschen, unter Wasser zu leben
und zu atmen, das sei unser Hauptvorwurf, ja ja, und wir hätten ihm
das ins Gesicht geschleudert und gesagt: "Wie auch immer – schön,
mach mal, es wird wohl gut und recht und billig ablaufen jenseits des göttlichen
Willens und der Gnade des Königs."
Der Kern ist ja wohl,
daß man in der Tat unter Wasser nicht atmen kann, nicht wahr, Wolfram?
Und die Pointe ist demnach, daß er es doch vollbringt, wie man hört.
Er ist ja auch ein Musiker.
Dieser mechanische Bolero, ich sehe es an deinen zuckenden Untermalungen,
das ist die Maschine selbst, nicht wahr? Was denn sonst?
Und Wasser ist Substanz
der Musik, nun?
Nein, natürlich nicht
Wasser im herkömmlichen Sinne, sondern die mütterliche Substanz
seiner Neugeburt: "So ihr nicht werdet von neuem geboren aus Wasser und
Luft." – Na doch, Wolfram, du hast eben noch gesungen: Nicht um zu sterben,
sondern um wiedergeboren zu werden, fern von den verrotteten und zerstörten
Ländern – ganz zu Beginn der ersten Strophe -, also dazu steigt er
hinab in den Ozean.
Ich sage dir, er meint
die Musik selbst, das Lied besingt sich selbst. -
Flache Steine warfen wir,
ließen sie dutzendfach über die unruhige Fläche tanzen,
in großen Sprüngen, so sanken sie schnell, dann in feinen, fast
zitternden, flachen Berührungen, die tasteten sich weit, in leichter
Krümmung stromabwärts. -
Na, das sind ja Sprünge,
was für Vergleiche! Wie kommst du denn jetzt auf diese irische Zauberin?
-
Das kannte ich nicht.
Tristans Isolde also, sie verhaucht sich durch ihr Lied hindurch in den
Weltatem? In den Äther? Muß dann die Sängerin nicht sterben?
-
Ja, recht hast du: die
Hörer auch! In die Musik hinein müssen sie mitsterben, während
sie hören, wie diese Holde sich in des Weeeeelt-Aaatems weeehendes
All verströmt – und du, du bist noch da, läufst leibhaftig mit
einem Kopf zwischen deinen Hörerohren durch die Gegend und predigst
den Liebestod unsterblichen Gesanges, ohne dich deiner verstockten Sinne
zu schämen? Erzähl du mir doch nicht solche Halbwahrheiten über
Lieder, die sich selbst besingen!
He, Leute, schaut mal
her, seht ihn euch an, dieser Kerl hier ist überschüssig, überflüssig
wie ein angereimter, angeschleimter Doppelkopf-Wortekropf. Wer Finger hat,
zu rechnen, der rechne: Die Welt gibt uns einen Wolfram zuviel, doch wir
sind der Welt noch einen Tannhäuser schuldig! – Geht das auf? -
Dunst kroch über
das eilige Fließen der Mitte, über den langsam dahin verplätscherten
Rand des Stromes, den Kies, den Sand, den Tand. Hinter den Buhnen im Zopf
der wechselnden Wirbeltrichter, hin und her, so zog das graue Geschleier
von Luft und schimmernder Fläche und Schwere noch fort und fort, durch
die Stadt hinter uns in breitem Band. -
Komm, mir wird kalt. Gehen
wir nach Hause, du, damit du dich durch deine Ohren in den Gesang des Weltatems
einzuhören übst – ja gut, mach halt deine Übersetzungen,
dann bleibst du unserer Handlungsbilanz auch erhalten -. Und ich, damit
ich durch meine Wasserkleckse mich in die Weltfarben hineinspüle.
So ganz falsch ist das nicht. Nein, das erkläre ich dir später.
-
Das Papier trocknet endlich
an. Sie nimmt den Bleistift und zeichnet ihren alten Hexengesang, ein Sammlerlied
der Strandgutstücke und Gerölle, in die feuchten Ufer hinein
-
Bahnhofbrückenbogenstrahlen
Stahlgezähn wächst
rund gespreizt;
graugebraute Brühe
ölt die
wellenbraunen Klatschgeräusche
glänzend ein. So
traumvertraut und
traurig rollt ein Kahngetrudel,
traurig rollt ein Kahngetrudel
durch die kühlen
Luftgestrudel,
durch die Haare hier
auf meinem
Unterarm. Ich spüre,
rieche
Rieselregens leis Gespreche
und ich breche Bimssteinschwämme
recht und schlecht zu
Mondgestein.
Das spröde Feinkanalgewächs
verrauscht, verrinnt,
und unter meinen
trocknen Schritten schläft
der Rest
zu Staubgeruch und Teergespei.
Das spröde Feinkanalgewächs
verrauscht, verrinnt,
und unter meinen
trocknen Schritten schläft
der Rest
zu Staubgeruch und Teergespei,
zu Staubgeruch und Teergespei.
Im feuchten Laub der Silberpilz
belauert meine Mitternacht,
belauert meine Mitternacht;
und bin zum Tode ich erwacht
durchdringt er mich und
trinkt geheimer
Lebenssäfte süßen
Seim
und bittergrünes
Weingeschleim
und bittergrünes
Weingeschleim
und saugt mich Rausch
und Rhein in sich so
gierig tief hinein in
sich so
gierig tief hinein in
sich so
gierig tief hinein.