21.
Eli Eli
Elischa, vom ägyptischen
Kellner geführt, ahnt schon, was sie im Küchenraum des Bahnhofscafés
erwartet: wohl der Ordensleiter? In der Tat, da steht der alte Jünger
auf von seinem Hocker, nimmt die hohe weiße Mütze ab, reicht
ihr höflich die Hand und gibt ihr selbst diesen Platz am Zubereitungstisch.
"Nein, setzen Sie sich nur dahin, ich arbeite am Herd und backe Brot. Darf
ich vorstellen? Herr Hofmann ist unser Küchenmeister und bereitet
die Speisen am Tisch; Herr Kurinshoru ist Schriftführer, das heißt:
Gedächtnisprotokollant; den Wirt der Vielen macht Herr Thot, nein
er heißt wirklich so, ach Sie kennen ihn schon. Woher?
Sieh an, das sind also
Ihre Bilder im Gästeraum? Und die Speisekarte auch? Das ist ja interessant.
Gut, dann wissen Sie ja, was wir anzubieten haben. Sie werden nämlich
die Getränke zubereiten. Ja nun, Sie wissen doch selbst, was Sie auf
die Karte geschrieben haben? Zeigen Sie mal her -
Nur die Hülle und
die Einrahmung? Wie unterscheidet sich das denn hier? Ist ja ein Schrieb
von allen Seiten."
Er setzt also seine Brille
wieder auf und spielt den Prüfer. -
"Sie wissen, daß
Ihre wahre Stärke, oder besser: Gefährdung, in der Philosophie
liegt? Wir haben mit Ihnen zusammen auch immer Ihre beiden Freunde im Gedächtnis.
Sehen Sie, der eine ältere, der sich für einen Philosophen hält,
den können Sie noch gut widerlegen. Und der andere, der jüngere
von den beiden, ist auch eher ein Dichter, wie mancher schlechte Komponist.
Aber vor allem ist das Ihr großer – ja, wie sagt man? – Rezipient,
Ihr Publikum.
Woher ich das weiß?
Nun, sehen Sie mal: Wir sind ja schon den ganzen Tag hier, und es kommen
viele, viele Menschen hier hindurch, ich meine die Gäste im Café.
Und jeder schlägt die Karte auf und bestellt aus der eingelegten Liste.
Aber Ihr Freund, der kann sich nicht sattsehen an Ihren Arabesken, der
trinkt die Farben und Linien förmlich in sich hinein, und mit Bewegung,
also das ist schon eine Sympathie, wenn Sie verstehen, was ich meine, ein
Mitfühlen mit Ihren Metamorphosen, ich muß schon sagen – der
ist ein Genie der optischen Rezeption. Ja, gewiß, mit musikalischen
Organen, aber eben sehr fruchtbar für die Dynamik des Visuellen, des
Optischen.
Nun, wenn wir das mal
auf unsere Art betrachten, weniger musikalisch, mehr als Ausdruck Ihrer
Lebenssignatur – verstehen Sie, was ich sagen will? – wenn wir Ihre Zeichnungen
und Aquarelle als Zeichen Ihres ureigenen Lebensstromes aufzufassen versuchen,
dann haben wir den Eindruck, Sie könnten sich mal etwas zurückschneiden.
Vielleicht sollten Sie
mal nach Japan für einige Jahre?"
Er tauscht Blicke mit
Herrn Kurinshoru, dem Meister mit den ins Unendliche verfalteten Augenlidern
unter hohen Brauen, der sich das Heft gleichfalls anschauen will und beifällig
schmunzelt.
Herr Thot kommt mit einigen
Bestellungen.
"Nun, dann machen Sie
mal den Tee."
Während Lischa Wasser
aufsetzt, Tassen reinigt und nach den Gewürzen Ausschau hält,
stochert der alte Jünger mit sichtlichem Vergnügen im Ofen herum
und unterhält sich mit dem Protokoll-Meister. Herrn Hofmann lassen
sie wohl ein wenig außer acht, der ist auch vollauf mit verschiedenen
Gemüsen beschäftigt. Auf einmal wird das Gespräch laut geführt,
als solle sie mit einbezogen sein.
"Heinrich, der Wagen bricht.
Ach nein, der Wagen ist es nicht. Es ist der Brand in seinem Herzen, das
da lag in großen Schmerzen, als er in dem Brunnen saß, Stürme
trank und Winde naß" – so etwa versteht sie es. Ihre Ohren werden
immer größer, aber sie läßt sich fast nichts anmerken.
"Nein nein", ist jetzt
doch der Gemüseputzer zu vernehmen: "Wenn er in Flammen geraten ist,
dann wohl kaum von den Pfingststürmen. Die sind leicht, erheben den
wildesten Sturz noch zur Himmelfahrt. Da muß etwas anderes sein,
vielleicht in der Folge, wie ein genau dem entsprechender Gegenschlag."
"Ein Männlein steht
am Wegrand, ganz still und stumm. Es hat von Gold und Silber ein Lichtlein
um. Sag, wer mag das Männlein sein, das da steht im Wiesenrain, mit
dem hohen Hut, dem spitzen Käppilein?" – Die beiden Alten lachen;
Kurinshoru greift sich den weißen Küchenhut des Chefs und schiebt
ihn plötzlich in den Ofen, bevor der alte Jünger die Klappe zuschlagen
kann. Gott, was für Kinder!
"Nein, das auch nicht",
fährt Herr Hofmann unbeeindruckt fort, "obwohl das im Hintergrund
mitzudenken ist. Übrigens gar nicht so weit weg. Da müssen wir
wohl später noch einmal drauf zurückkommen. Aber zum Vorigen:
Das Rauschen der Winde, das hat da noch Entsprechungen, denke ich, und
was mag das sein? Nun, ich weiß nicht – das sind – -"
"Zwei blaue Augen", lacht
der Tanzmeister, Monsieur Kurinshoru: "Die Göttin, jaja, Ihre Galatée,
Herr Hofmann, sie ist an ihm vorbeigesegelt. Das ist sein Schmerz."
Der Gemüsemeister
blickt erstaunt auf. Aber Kurinshoru wendet sich mit harmloser Heiterkeit
an den alten Jünger, bevor der Rivale sein geliebtes Geschöpf
weiter ins Gespräch bringen kann:
"Können wir ihn aufnehmen?
Ist er wieder geheilt?" -
"Beinahe. Aber nicht ganz
- nein – -" Etwas in der Stimme des Funkenstiebers wächst ins Leise,
Bedrohliche: "Er hat ja Freunde, die ihn aufwärmen – da ist die kalte
Dusche umsonst gewesen. Er fastet – sie geben ihm zu essen. Er arbeitet
- sie verführen ihn zur Improvisation. Er übt sich – sie zerbrechen
ihm die Jakobsleiter mit Metaphysik. Und nun – können Sie sich denken,
was sich da breitgemacht hat? Ich denke oft, diese ganze Bande von Mysterienverrätern
müßte noch einmal gründlich durch alle Prüfungen gezogen
werden und durchfallen, damit sie nicht noch die nächste Generation
in Brand stecken."
Er knallt die Ofenklappe
zu, wendet sich zu den Kollegen und schlägt mit der Faust auf den
Tisch:
"Ich will alle drei vor
mir sehen! Noch heute!"
Der Küchenchef weist
den zornigen Jünger darauf hin, daß er nun genug Hitze im Herd
gemacht habe, er möge ihm doch bitte einige Brotfladen, um sie zu
belegen, zureichen.
"In der Tat, Chef. Sie
müssen schon noch einige nahrhafte Gründe beilegen.", lacht auch
der alte nach innen Verfaltete: "Vergessen Sie doch bitte nicht, welchen
Anteil wir daran haben! Wirkung provoziert Gegenschläge, und diese
wiederum Gegenwirkungen. Ganz so nichts, wie wir wollten, haben wir ja
nicht getan."
Das klingt für Elischa
ein wenig verwirrend. Sie wüßte überhaupt gerne, ob mit
der blauäugigen Galatée die schlanke Iris gemeint ist, doch
das zu fragen steht ihr nicht zu.
Sie hat die Tassen gespült,
findet nun Kardamom und Ingwer, schließlich kocht das Wasser schon
bald, – wie nun weiter verfahren? Zwei Teekannen stehen bereit; sie will
nicht die üblichen Gläser mit Beutel hinsetzen, sondern etwas
Eigenes mischen, wie sie es selbst zu Hause auch trinken würde.
Warum schauen die nun
grinsend zu ihr herüber und drehen die Daumen?
Irgendetwas fehlt. Wacholderbeeren
vielleicht? Oder eine Spur Zimt?
Ttth, schnalzen die Alten
und wiegen bedächtig die Köpfe, verraten aber nichts. Und setzen
ihr Gespräch fort, denn die Geisha wird ihnen ja nicht weglaufen.
Wir haben Zeit. Also.
Der Prüfer treibt
nun Gymnastik, er kommt ganz schön ins Schwitzen beim Teigkneten.
Trotzdem hält er seine Rede:
"Ein elender Aberglaube
hat sich da breitgemacht zwischen den dreien und bezieht uns auf eine paradoxe
Weise mit ein. Jeder von denen glaubt nämlich, andere seien für
seine Taten und Erlebnisse verantwortlich. Manche halten sich sogar selbst
für den Autor des ganzen Gordischen Knotens." -
"Wieso Gordischer Knoten?
Haben Sie etwa das Schwert gezückt und wollen ihn zerhauen?", fragt
Meister Kurinshoru.
"Ich beklage nicht den
Knoten, sondern das Mißverständnis, als sei das alles aus einem
Seil geknüpft. Natürlich muß jeder seine Verantwortung
nach außen hin ausdehnen, wie es seinen Kräften entspricht.
Aber man stelle sich vor, wir würden nicht nur die Rezepte, sondern
auch die Bestellungen vorgeben, wir würden die Gäste an Marionettenfäden
ziehen oder sie als Masken unserer ich weiß nicht was für Spiele
benutzen!
Und nun trägt unser
Philosöphchen Wolfram die ganze Geschichte, so weit er sie eben versteht,
als Ich-Erzähler vor, obwohl der jüngere Freund und unsere Kandidatin
hier seinem Erfahrungsraum und seiner Verantwortung schon längst entglitten
sind."
Elischa schwant schon,
gleich werde sie drankommen.
"Und der kleine Tannhäuser
betet erst die Holde vom Eis als seine Göttin an, dann packt ihn eine
gewaltige Regression, und er will zurück in den Mutterschoß,
träumt sich in die Muster von Mamas Rockzipfel zurück. Wie sogar
die kühle Iris nur knapp unter der Flut dieser Phantasien davongekommen
ist, das wissen Sie, verehrter Kurinshoru, am besten. Aber alle zusammen
sehen uns als eine Geheimloge an, als Spione und Detektive, wenn nicht
sogar als Versucher und Prüfer ihrer Lebenswege!"
In die Pause hinein meldet
sich Elischa zu Wort: "Ich bitte um Verzeihung, gnädige Herren, wenn
es mir erlaubt ist, das hier zu bekennen, – aber keiner und keine von all
denen, die Sie genannt haben, hat sich in dem Maße dieser Verfehlung
schuldig gemacht wie ich selbst. Denn sogar hier im Café hängen
die Vorarbeiten zu einem Werk, in dem ich unsere Biographien wie ein Flechtbandmuster
darstellen wollte, und ich habe mich geradezu hineingesteigert in die Idee,
so etwas wie die Malerin und Farbenquelle dieses ganzen Gewebes zu sein.
Ich nehme Ihr Urteil mit Beschämung an."
"Na, da wird's uns doch
deutlich gewiesen", schüttelt der alte Jünger den Kopf: "Wir
sind wieder einmal die Urteiler, die Prüfer, die Verhänger und
Vollstrecker. Das ist es ja eben. Wollen Sie nicht endlich Ihren Tee zustandebringen?"
"Ach ja!", ruft Elischa
und schlägt sich an die Stirn, "Das ist's, das fehlt: Teeblätter!
Bitte, wo finde ich die?"
"Schon gut", sagt beruhigend
Meister Kurinshoru, klopft ihr lächelnd auf die Schulter und nimmt
ihr den Kessel ab. Schließlich will er den Tee auf seine Art trinken;
das ist wichtiger als diese Prüfungsmätzchen. Er hat sein Zubehör
und die grünen Knollen bei sich in der Tasche. So feiert er stets
seinen Nachmittag.
Und da kommt der Ägypter
herein, mit Sorgenfalten auf der Stirn lacht er, weint er fast: "Was machen
wir nur mit diesem Gast hinten am Geländertisch?", und er schildert
die ganze Entwicklung. "Was bringe ich dem jetzt?"
Eines ist klar: Der hat
die Prüfung nicht bestanden, der darf auf keinen Fall in die Schulungsklasse
eintreten. Der hat verbotene Speisen genascht, Nektar der Götter getrunken,
den Himmel in Brand gesetzt.
Ihm wird aller Erfolg
versagt. Zu keiner Prüfung soll er mehr zugelassen sein, und wenn
er doch antrete, solle er sie zu Lebzeiten nicht bestehen, sei es als Musiker,
als Dichter, als Denker, als Maler. Schluß, aus. Wer die Perle der
Ewigkeit berührt habe, wer die gewaltigen Götter geschaut habe,
wer das Aphrodisiakum der Himmel genossen habe, der wisse:
"Der Himmel und Götter
und Engel verzückteste Sehnsucht heißt sterben, zerreißen
im sinnlosen, sinnlosen Taumel des irdischen Wahns -"
"Nein!", schreit Elischa
in die Runde der Meister, die da um den Herd stehen und gemeinsam in einem
großen Kessel ihre Suppe rühren, "Nein! Wer seid ihr denn, daß
ihr das sagen dürft, daß ihr so urteilen dürft!"
"Wie schön, mein
Kind, daß du's endlich begreifst. Wer sind wir denn. Und du? Ist
das nicht dein eigener, ureigenster Text? Gut, nun sag es selbst: Was hat
dein Heinrich denn zu bestellen? Was sollen wir ihm kredenzen?"
Soll man da lachen oder
weinen.
Elischa begreift, daß
nun die Reihe an ihr ist. Sie nimmt ein sauberes Glas, läßt
klares Wasser ein und geht damit hinaus, ins Café.
Eine Träne oder mehr
rollen in das Glas, als sie ihn sieht, Hendrik, wie er verzweifelt über
die Landkarte der Empfindungen gebeugt dasitzt, mit seinen Armen gegen
die Gruppe gepanzert, die ihn noch umringt. Lischa wischt ihr Gesicht trocken
und faßt sich.
"Bitte, bitte, gehen Sie
beiseite. Es ist alles in Ordnung." Schließlich kommt sie hindurch,
wartet ein wenig, bis sich die Leute verlaufen oder wieder hingesetzt haben,
dann legt sie ihre Hand auf seine Schulter.
Wie Wärme einzieht
und sich im Körper verteilt, so dringt ihre Güte, die bekannte
Freundlichkeit in ihn ein, durch Nacken und Rücken ins Herz, in die
Arme. Er lockert sich, schaut zu ihr auf. Sie sieht sich kurz in seinen
Augen gespiegelt, mit dem Glas in der Hand. Er nimmt es, dankt und trinkt
daraus.
Ja, das ist es. Erquickt
gibt er ihr das Glas zurück, und sie geht wieder in die Küche
zu den kauzigen Meistern.
Die beiden Uniformierten
zusammen mit dem Schaffner, ach ja, er hat die schon ganz vergessen, sind
über die große Holzbrücke hinaufgestiegen und kommen endlich
am Tisch an. Ja, sie haben seinen Fahrschein: Den wollen sie ihm nur zurückgeben,
er habe ihn bei dem Schaffner im Zug gelassen, der habe den Fahrgast nicht
mehr gefunden, irgendetwas der Art wohl, Hendrik versteht ja ihre Sprache
nicht, nur ihre Gestik. Kaum zu glauben: Sie geben ihm glatt seinen Scheinfahrschein
zurück. Noch immer, schon wieder das alte Spielscheinspiel.
Er läßt sich
nichts anmerken, drängt sich durch die hölzerne Querbrücke
über den Geleisen, vorbei an den Bettlern und Gemüsefrauen, durch
das bunte Treiben hindurch, um sich, vor sich, hinter sich das aufdringliche
Gewimmel des riesigen Bahnhofs, aber nicht zum Bahnsteig, sondern – da
hinten, wo am Horizont noch jenseits der filigranen Rosettendächer
das Meer den Strand bespült, da will er hin und dem Ozean lauschen,
dem Gesang der Sirenen, dem Wind im Saitenspiel der Sonnenstrahlen.