13. Die Wellentaucher   
        
       
    Denn immer muß ich allein die Zwiebeln fürs Mittagessen schälen, weil der Herr Cuillaut Arbeit vortäuscht. Mensch, wie das in den Augen brennt, ich halte das nicht aus.   

    Das war aber auch eine Schachtelei mit diesen Venusberg-Akten, eine Geschichte, wo Schichten und Schichten in Schichten sich schichten -   

    Gottogottogottogottogott, wie das beißt, ich presse die Brauen auf die Backenknochen – völlig sinnlos. Ja nun, wir sind ja schon einiges gewohnt, von der Expedition damals durch die Initialen im Book of Kells – wir wären nicht mehr rausgekommen aus der "XRI h generatio", wenn nicht, ja wenn da nicht zufällig, nun, ach ich weiß nicht mehr; weißt du's noch, Cuillaut? Ach so, ja. Wir sind in der Tat da nie wieder herausgekommen. Wir sind noch drin.   

    Und später dann unser gescheiterter Versuch, das Mahabharata einzudeutschen, wo wir seufzend aufgaben, als die seidene Sarihülle der verpfändeten Draupadi sich ins Unendliche abwickelte, und sie drehte sich wie eine Spule in endloser Pirouette immerzu weiter und immer weiter und weiter, da kam Stoff nach und immer mehr nach, und – ja, wir zwei Seelenvoyeure nahmen mitten in der Auflösung eines Kompositums, das drei Doppelverse überlappte, beschämt Abstand – wir wußten einfach nicht mehr das Wer-Was-Wo-Wie-Wann. Wir hatten den Drehwurm der Alldeutigkeit.   

    Also die Knibbelei mit den dünnen Häuten, die reicht mir jetzt. Ich nehme das große Messer und hacke die Riesenflutschi einfach mitten durch. Zack!   

    He, Cuillaut, komm mal her, schau dir das mal an! Ein glatter Querschnitt. Hättest du das gedacht? Warum habe ich nicht gleich -   

    Ja stimmt, zuerst mußten wir die zähe Schale ablösen. Aber jetzt sehen wir doch schon weiter, nicht wahr? Vorgeschichte, Binnenerzählung, Nachspiel mit einem Blick. Komm, schreib schnell mit, ich hab's.   

    Ja schau doch mal genauer hin, siehst du das nicht? Nimm die Lupe, ja. Das ists. Die braungoldene Schale ist bei dieser Zwiebel in die Mitte gewachsen, und das saftige Innenleben hat die Malerin glatt nach außen gestülpt. Kein Wunder, daß wir uns hier dicht beim Zentrum wiederfinden.   

    Vielleicht erkennst du einige Einzelheiten noch genauer, Cuillaut? Wir wollen das mal gleich festhalten.   

    Gut, ich diktiere diesmal, du schreibst. Ja nimm ruhig die Rückseite von dem Einsiedlertext da in der Mitte. Den hätte ich sonst sowieso weggeschmissen. Ja klar doch, das ist nur die dürre Schutzhülle. Kosmischer Kitsch. Eine transparente Bemäntelung.   

    Die Vorgeschichte. Sollen wir nicht unsere Väter ehren? Wie schwer mir das wird, wenn ich an den Eingeweihten vom Dienst denke, an Konrad mit seinem Hütchen, den Herrn Marburger, dem man seinerzeit die Vaterschaft in unserer Ordensfamilie übertragen hatte, damit er sich selbsterzieherisch üben konnte. Für uns war's Spiel, für ihn war's die Sprungschanze in die Ewigkeit. Den haben wir geschafft. Frieden seiner Seele.   

    Elischa war damals noch bei uns in Pflege, wie das so heißt, und er wollte sie adoptieren, als sie in die Entwicklung kam, wie das so heißt. Irgendwie wollte er ihre blühende Kindlichkeit bewahren, verdichten, konzentrieren, wollte die wild Empfindsame wohl zähmen zu einer Heiligen, erfinderisch in Anlässen und Sichtweisen, die ihr die Röte ins Gesicht trieben und ihre Wimpern mit Schuldgefühlen beschwerten. Dann weidete er sich, berauschte er sich an der gediegenen Frömmigkeit, in der sie aufglühte, an dem flüssigen Gold im Schmelzofen ihrer Hingabe, fühlte sich ein in ihren Atem, ihr Blut, ihre sprießende Herzensknospe, hob sie seufzend empor, dankte, brach das Brot, nehmt hin - – - und sie widerstand ihm nicht, wie er es von ihr als Tempeljungfrau erwartete, sie quälte den asketischen Masochisten nicht, nein, sie gab ihm lächelnd nach, verführte ihn vor aller Welt, offenbarte seine Verliebtheit.   

    Mein Gott, wir waren alle verzückt-verrückt, angesteckt durch den Verliebten, selbst verliebt in diese ungarische Prinzessin und ihre kindlich-unbefangene Lebendigkeit, in dieses rote Reh; was, "Bambi", ich werd' dir gleich "Bambi"! Die eisige Glut, die ihr durch die Augen lachte, milderte sich später zu einer kühlen, erfahrungssatten Wärme, und so kennst du sie auch. Was, du kennst sie nicht? Übrigens wußte sie nichts von der Chance zur Selbstprüfung, die dem Marburger in unserer Familie eingeräumt worden war, und erst recht nichts von der Funktion, in die er dann aufstieg.   

    Zunächst halfen wir damals unserer nach wie vor kindlich-unbefangenen und lebenshungrigen Pflegeschwester, in natürlichere Lebensumstände einzutauchen, fern von ihm – er war erledigt und mußte in den obersten Rang einrücken, blamiert bis auf die Knochen. Wußten wir Schüler doch gut, wie man Präsident des Elferrates wird, und daß die völlig ohnmächtig sind, die in den Ruhm geraten, weil sie, wie es so schön heißt, ihren Lohn dahin haben.   

    Dann hat er noch im Zorn versucht, unsere ganze Schule zu vernichten, zu denunzieren und zu verleumden, wir seien ja alle Gnostiker, Brüder und Schwestern des freien Geistes, Erkenntnisverliebte, überhaupt Verliebte, die einander erkennen, als sei er selbst keiner, dieser Eifersuchtsbolzen; so haben sich die Geistesgeschwister und Schüler und wer alles da lehrt und lernt und hilft und wirkt, für alle folgenden Zeiten schweigend auf die Arbeit an der Substanz beschränkt. Nein, nicht wie irgendein Geheimbund, nur eben wissend, daß Sorgfalt und Seelennahrung mit Ruch und Ruf nur das Geringste zu tun haben, und daß dieses Geringste das Tageslicht der Selbstironie und Erfahrung ist. Fast alles ist in der Substanz anders, als es nach außen zu sein scheint.   

    Ja eben, deshalb müssen wir diese ganze Übersetzungsarbeit leisten. Die Substanz muß zur Erscheinung gebracht werden: Transkription, Übertragung, Aufarbeitung – ach, was erzähle ich dir! Undankbares Geschäft. Vor allem bei dieser philologischen Ordnung in deiner Küche, Cuillaut! Unglaublich, was man so zwischendrin alles findet in dem Gemüse.   

    Mit - mmmh, ich möchte sagen, mit einem gewissen Sarkasmus hat man von da an gerade die Unerleuchteten, Schwierigen, Unfähigen in aller Lebenspraxis, das heißt: diejenigen, die eben nichts anderes tun können als den Lehrer, den Meister, die Schulaufsicht, den Hausjuristen zu mimen, mit passenden Kostümen ausgestattet und – ja so läuft es – sie mit der peinlichen Verfolgung und Untersuchung der Schriftarbeit beauftragt. Sie sind somit unser Selbstprüfungsinstrument, nicht gerade ein Spiegel, eher ein Reinigungssalz, oder so etwas wie die Maden, die die Knochen freiputzen. Kein schöner Anblick, aber darauf kommt's nicht an.   

    Allerdings wirken im Unmerklichen, ohne besondere Farben, Zeichen und Ansprüche, kluge und warmherzige Leute, klein und unscheinbar. Die setzen sich eine große Nase auf und mischen sich zwischen die albernen Riesen, Elfen und Zwölfen, ununterscheidbar, das ist ein Vergnügen für jeden Rätselfreund.   

    Ja, da sind wir schon mittendrin in der Binnenerzählung. Denn nun haben wir diese Walze der Generationen. Du sagtest ja bereits, daß wir da nicht mehr aus herausgekommen sind auf unserer Expedition. Immer gibt es eine neue Prüfungswelle, mit den Jahreszeiten überrollt sie uns, denn die Emporkömmlinge kennen die Kinder des Hauses nicht und halten uns für frische Anwärter. Sie lassen die Wissenden regelmäßig durchfallen. Nur absolut Blinde bestehen die Prüfung; wer dagegen die vierzigste Tür geöffnet hat, liest zwar die Schrift – und das ist in der Tat die entscheidende Prüfungsschwelle -, kann sie aber nicht umsetzen, weil ihm der Pegasus das linke Auge ausschlägt. So steigen wir, die Könige unter den Blinden, zu den Anfängen hinab, fallen gewissermaßen durch die Anfänge hindurch und werden am Ende herausgeschmissen. Aber die forschen Frischlinge, die uns, die Durchgefallenen, wegtrumpfen, müssen drinbleiben! Köstlich. Wir sitzen dann manchmal mit den Ägyptern zusammen im Nebenraum, lauschen und lachen uns tot.   

    Ich war, wie du weißt, schon vor einiger Zeit dem Orden entwachsen, und ich mußte nun sehen, daß ich Lischa und Hendrik zu dieser Farce begleite und sie auffange, wenn sie ihre kalte Dusche abbekommen und aus der letzten Schale des römischen Brunnens herabtropfen.   

    Hendrik steckte schon tief drin in der Tränke, denn die experimentfreudigen Alten hatten ihn mit der Tempeljungfrau zusammengebracht. Du weißt, mit wem. Jetzt regte sich auch in Elischa so etwas wie eine vage Erinnerung an ihre frühe Jugend, die sie sonst gründlich verdrängt und verwandelt hatte. Sie fand Hendrik in einer Situation, die ihrer damaligen Lage komplementär war, fühlte, daß er den Selbstbeweis der Eisprinzessin nicht widerlegen konnte, kam aber zu spät, er war tief verwundet. Das trug sie seelisch mit, und so versuchte sie, ihm mit dem Einsiedlergespräch eine symbolische Ebene zu geben, auf der er sich ohne Schande offenbaren sollte, aber das war am Ende nur Perlmutt, um sein Schmerzenskorn gründlich mit Religion zu verkapseln.   

    So ist der Schrecken, durch den Hendrik initiiert worden ist, in die äußeren Ränder der Geschichte getrieben worden, aber Elischas kosmische Pergamenthülle, dieses Alles und Nichts, schliert hier in die Mitte der Zwiebel hinein.   

    Was, Nachspiel. Welches Nachspiel? Ach so. Nein, nein. Ich würde sagen, wir lassen die ganze elisabethanische Schichtung jetzt, wie sie nun einmal ist, also wart's ab. Wir übersetzen ja bloß Lischas Linien- und Farben-Partitur. Und hätte die Malerin dieses autobiographische Kapitelchen nicht selbst dokumentiert, hier dieses, das gerade endet, mon ami, dann hätten wir es auch nicht eben so wiedergegeben, wie wir es mitteilen, wo sie mir immerhin sogar für dieses Selbstporträt die Rolle des referierenden Icherzählers zuerteilt, ja, hier steht's geschrieben, am Ende des Parenthese-Kapitels, komm, rück näher ran mit deiner Lupe ans goldene Zwiebelherz, hier: "... ans goldene Zwiebelherz" - siehst du's?   

    Tja, da kommen sogar dir die Tränen, Cuillaut. Das goldene Zwiebelherz, geschaut mit eigenen Augen. Wer würde da nicht weinen!   
        
     

        
    14. Die Ersten werden die Letzten sein   
        
       
    Als Hendrik am Nachmittag von der Hochschule nach Hause kam, fand er Post im Kasten. Werbung. Und, ach, seine letzten beiden Episteln an die blaue Eisblume - ungeöffnet zurück, wie immer. Und – zuerst hielt er ihn für einen der eigenen Briefe, diesen selbstgeklebte Umschlag: Das waren, ja! das waren Lischas Künste. Sein Herz schlug bis zum Hals. Was für ein langer Weg die Treppe hinab in sein Zimmerquadrat; was für Umstände, erst den Mantel abzulegen! Er genoß die Spannung mit bewußtem Hinhalten seines neugierigen Dranges. Vorsichtig, wie seine Seele aufblühte, kostbare Zeit, gedehnt und fliegend zugleich, zog er die Ecken der Rückseite sacht auseinander und öffnete so ein buntes Faltblatt, dessen helle Blumenbemalung eigenartig duftete und die Fingern bestäubte.   

    Die vier Ecken dieses Umschlags zeigten auf der Innenseite einen bizarr durchstrahlten Nachthimmel, sprühende Sterne in schwarz verwölkter Masse. Auf dem Quader zwischen den diagonalen Faltungslinien war ein weiterer Umschlag aufgeklebt, außen blau aquarelliert, ein duftig atmendes Fenster, aber es klappte schon blütengleich seine vier Kronblätter auf, unverschlossen, und zeigte sich von innen als ein schneeweißes Blatt, blau beschrieben in der ihm wohlvertrauten Schrift. Als es sich öffnete, fiel ihm ein loses Briefchen heraus, ockergelb mit goldenen Schlieren.   

    Zuerst las er die lichte Seite des blauen Umschlags, das Innenleben der vierfaltigen Blume. Er hatte Wilderes erwartet, Vorwürfe vielleicht oder sonst etwas, das sich verriet oder verbarg, aber sie bat ihn mit schlichten Worten in zierlicher Schrift um die Vertonung eines kleinen Dialogs, den sie skizziert habe. Eine Einladung, aha, eine Einladung in die "Oase", in den Jazzkeller, wo Elischa Dichterlesungen für Pop-Poeten veranstaltete. Sie wünschte nun von ihm eine Fortsetzung oder Verarbeitung des beiliegenden Anregungstextes, Beitrag zu einem Wettbewerb, was auch immer da zu wetten und zu werben war und wer auch immer da urteilen wollte, nun ja, das Publikum, wer denn sonst. Welcher Text? Ja, sie meinte wohl das kleine bräunliche Faltblatt, das sie mit so viel Papier umkleidet hatte. Nun, mal sehn.   

    Es war nicht leicht zu lesen, Bleistiftgesilber auf einem Untergrund, der aussah, als habe sie ihn als Palette benutzt und dann einmal kurz an den Seifenrand ihrer Badewanne gedrückt und wieder abgezogen, die Schaumgeborene. Wenn Maler dichten! Du permanente Ein- und Sorgfalt, du Pergamentblatt mit deinen silbernen Sorgenfalten.   

    Da entdeckte er im verbraunten Geschlier die Namen der beiden Einsiedler vom Kern des Isenheimer Altars, und verwundert, hineingesogen in die Ahnung seines Traumes, las er sich ein in das Wechsellied, sang sich hinein in Lischas dunkle Worte, erfüllt von der rauh-weichen Schwere ihrer Stimme.    

    Und so stieg er ziemlich spät am Abend des folgenden Tages aschfahl geschminkt, in türkisener Antoniusgewandung, zum Jazzkeller hinab, reichlich vergrübelt, halb verzweifelt, halb in den Ideenfetzen verzettelt, die er am vorherigen Abend noch in einem Antwortbrief an die liebe Freundin skizziert hatte, um sie ihr nach dem Vortrag in der Oase zu überreichen. Er kämpfte sich, als gerade ein mexikanisch anmutendes Musikstück mit der Anrufung Vitzliputzlis zum Ende kam, durch das Gewühl der Klatschenden und Lachenden, Rauchenden und Aufrückenden, Ankommenden und Gehenden unter den Palmensäulen und Blattfächerdächern zur ihr durch - ja, da fand er sie endlich! – drängte sich also zur kleinen Dame mit dem gewaltigen Schlapphut hindurch, die als schöne Seele des Abends rechts neben dem Bühnenpodest im Kreis der anderen Pop-Poeten und Musiker auf einem Sofa kniete, sofort aufstand, als er in die Nähe gelangte, ihn strahlend mit ausgebreiteten Armen empfing, freudig umarmte, knetete und mit drei Küssen auf die Wangen begrüßte.  

    Nun erkannte er auch den Sänger mit der graugelben Bastweste auf der Bühne, der ihnen im Gespräch mit den Musikern, die ihn begleitet hatten, eben den Rücken zukehrte, stieg die eine hohe Stufe hinauf und tippte ihm von hinten auf die nackte Schulter. Wolfram übergab ihm gerne das Mikrophon, und Hendrik sang nach kurzer Abstimmung mit den Gewieften erst einmal, gewissermaßen zum Eingewöhnen, sein Lied von der Totenherberge. Vom Podest aus überschaute er zugleich etwas leichter den verqualmten und halbdunklen, bunt durchleuchteten Raum, den er doch soeben besang oder zumindest mitmeinte, musterte die Tische in den felsenartigen Seitenhöhlen, wandernde und gesprächige Gästegruppen dazwischen, auch vor der Tanzfläche in der Mitte, die deshalb nur schwer einzusehen war, einen längeren Tisch im Hintergrund, an dem ein Dutzend ältere Herren in schwarzen Anzügen, aber mit brokatenen Narrenkappen, saß, die hier überhaupt nicht hereinzupassen schienen und manche mutwillige oder spöttische Geste in ihre Richtung mit einem bedächtigen Zurechtrücken der Brillen konterten.  

    Nach kurzen Absprachen der drei Freunde trat Elischa vor und gab inmitten der Palmensäulen und Höhlennischen eine malerische Einführung gewissermaßen in die "Oase" selbst, fast schon Beschreibung dessen, was ohnehin alle um sich sahen und worin sie sich eingenistet hatten, zu der Wolfram am Schlagzeug und Heinrich auf der Gitarre leichte Hintergrund-Geplänkel beigaben, so daß sie mit verstärkter Akzentuierung der Rhythmik dann in der Folge auch einen nahtlosen Übergang zur Rezitation des Elischa-Briefes fanden, den Hendrik als Antonius bluesartig, gewissermaßen auf der ausklingenden Rückseite eines variierend wiederholten kurzen Riffansatzes seiner Gitarre, im Sprechgesang vortrug, bis dann auch Wolfram mit entsprechender Fortführung und Steigerung dieser atmosphärischen Grundierung und Klanggliederung die Paulus-Antwort, die offensichtlich von Elischa inspiriert war oder gar aus ihrer eigenen Feder stammte, unmittelbar anschließen konnte:  
     

        
      Antonius:    

      Gewiß, dir geht es gut.  
      Der Rabe bringt dir Brot,  
      der Fels springt auf zu kühlen Quellen,  
      unter Himmelblau und Blättergrün zählst du die Sonnenscheibchen,  
      blinzelst selbst den ganzen lieben langen Tag dem Wüstengeist ins luftige Gesicht.   

      Doch schon da vorn, im Knochenfeld -   
      die unter deinen Schritten knirschen,  
      längst ertaubt vom leeren Lärm,  
      verstummt vor all der Eitelkeit des Fleisches,  
      sie, die allen Schmerz der Zeit in Ewigkeit verwinden -   
      die wir die Verdammten nennen,  
      Feuerwürmer, Bergarbeiter, Sklaven  
      in den Schächten, Kellerlöchern, Schlangengruben  
      jener kaltverglühten Welt -   

      Hat deren Zorn nicht Eifer mehr  
      als all die faule Heiligkeit  
      der Blumen in der Himmelsvase,  
      wurzellos und aller Sehnsucht  
      ewiglich verlustig? -   

      Schande ists, erwählt zu sein! -   
      Was ist da Hölle und was darf denn  
      Himmel, Himmel! heißen?   
       

     
      Paulus:   

      Nach der Ewigkeit -   
      hebt unser Leben an.  
      Denn wie ein Sprung im Porzellan,  
      so fein geht unsres Lebens Riß  
      durch seine Ursubstanz, durch aller  
      Wesen Zukunftskern.  
      An dieser Wunde umgestülpt,  
      verkehrt, zieht sich die Zeit hinab,  
      von nah zu fern verzerrt, ein bunter  
      Blitz durch helles Sein, des Werdens  
      Schwall, empörtes Nichts, gestörtes  
      Licht, des Ewigen Ernst und Spiel in  
      Prüfung und Gericht. Denn sieh:   

      Nach der Ewigkeit -   
      erinnern sich die Seligen, die in der Brandung der Zukunft baden,  
      die in der donnernden Stille, dem Schlußakkord aller Sinfonien sich vereinigen,  
      in der Woge des Friedens, die hereinbricht über die Seufzer der Liebe,  
      himmelfrei, gottkonzentriert, schöpferische Keimperlen in Muschelparadiesen  
      voll der Lust, die Erkenntnis der Lust der Erkenntnis zu sein, -   

      an das Schmerzenskorn, um das ihr Perlmutt sich geschichtet,  
      an die Schmeißfliegen, deren Gold sie gesammelt,  
      an die blutige Nacht der Geburten,  
      die Schlacht allen Fleisches um Zeit, ach die Zeit!  
      und neigen sich in Wehmut und steigen hinab,  
      vor allen anderen noch zu verderben,  
      vom jüngsten Gericht bis an den Anbeginn der Tage  
      als die letztesten der letzten noch  
      verurteilt und verachtet zu sein. -   

      Der Himmel und Götter und Engel verzückteste  
      Sehnsucht heißt sterben, zerreißen im sinnlosen,  
      sinnlosen Taumel des irdischen Wahns.  
      Nach der nimmerendenden Ewigkeit, die sie sind,  
      dürfen sie das Unmögliche begehen – sie wissen selbst nicht wie,  
      so beginnt ihr Sturz, ihr Erinnern, Verzweifeln:  
      sie wissen nicht wie – in menschlichen Qualen  
      zu brennen, in Schande und Scham, zu zerstäuben,  
      Asche zu Asche, der letzte Dreck. -   

      Das ist der Stoff dieser Welt, die du siehst und kennst.  
       
       

    Hendrik hatte, als er den Blütenbrief in seinem Kellerkubus las und musikalisch hineinhorchend auslotete, eine gewisse Zeit gebraucht, sich an das Pathos und die fast aufdringlich-vertrauliche Metrik der Worte zu gewöhnen, aber auch dann war noch eine peinliche Berührung in ihm zurückgeblieben. Woher wußte sie von seiner Beschäftigung mit Grünewalds Visionenaltar, von den analytischen Rollenspielen der beiden Freunde? Da hatte Wolfram wohl aus der Schule geplaudert. Wie die beiden ihn nun zwischen sich einhakten, eine Nähe, die ihn ein wenig befremdete. Aber das war es nicht.   

    Ja, was wollte sie sagen mit dieser Skizze? Was wußte sie wohl? Was ahnte die alte Freundin? Er versuchte sich zu erinnern, wie die beiden ihn im Café entdeckt hatten, wie sie in seinen synästhetischen Versuch miteingestiegen waren, als sei es das Selbstverständlichste von der Welt, die Schriften der Bewegungen, Melodien, Flechtbänder und ihrer Deutungen so ineinander zu übersetzen, als bildeten ihre Sprachen einen durchlaufenden Kreiswirbel von Tanz in Musik, von Melodien in Kalligraphie, und von deren Chiffernschrift wieder weiter in Gestus, Klanggewebe, Ornamentik, in immer fortlaufenden Übertragungsschritten.   

    Aber im Grunde hatte sie still dabei gesessen, während Wolfram die Schichtung der Analogien auszumessen versuchte, der Übersetzer und Theoretiker in der Runde. Sie hatte mehr versonnen dreingeschaut, war ihm aber wohl auf der Spur, empfand da vielleicht etwas von den Regungen, die in seinen Inspirationen keimten, von diesem Eistanz, der sein Herz schliff und zersichelte wie ein Violinsolo. Fühlte sie das mit ihm, konnte sie das in ihm, mit ihm, durch ihn hindurch wahrnehmen?   

    Oder war es schlicht ihr bildnerisches Vermögen, das schon die leisen Nebentöne aus Hintergründen in solche Parabeln verwandelte und mit dem metaphysischen Extremismus, in dem sie noch einen Wolfram mit Schafsfellen überkleidete, zu eschatologischen Rätseln aufblähte?   

    Nein, auch das war es nicht, was ihn berührte, verstörte, verwirrte. Nein – obwohl – warum wehrte er sich dagegen? Vielleicht traf sie doch den Nerv seines hingerichteten Selbstwertgefühls, übertrieb es ins Überpersönliche, Unpersönliche, Allgemeine und wendete seinen Schmerz durch die Spiegelung an der Kristallsphäre in Ekstase. Wollte sie wirklich ihn, den zertretenen Wurm, mit den himmlischen Selbstopferern identiSHAN SZI ieren?   

    Oder war das ihr eigenes Erleben, der Sturz, als sie den Händen ihres verirrten Seelenhirten entglitt? Oder war eben der gemeint? Wer ist es, der die Sternbilder vom Himmel auf die Erde herunterreißt und sie als Teppiche zertritt? Ach Lischa, ich erwarte, daß du mit mir fühlst, und nun kann ich nicht unterscheiden, wer hier mit wem durch die Sphären hinablodert.   

    Andere wirbeln durch den Äther, kam ihm in den Sinn, andere gleiten an der kristallenen Wölbung durchs Blau – nein uns, die wir als Regenwürmer den Dreck durchfressen und in Erde zu verwandeln suchen, uns erscheint der Tod als der Wirt der Vielen. Eine Herberge nimmt uns auf; Frau Wirtin, die holde, hat große Zähne. Wölfin und Wolf überzeugen uns mit Fleiß, daß wir ihre Nahrung sind, da wir ja alle einander nähren. Aber wißt ihr denn, was das bedeutet, den Biß der Meute im Nacken zu spüren, das lähmende Grausen, zu zerfließen wie Wachs? Wißt ihr, was das heißt, seine Knochen zu zählen?  
     
      

      eLIEschaBEth! - 
Rege webt im Lebensasyl - 
 
  
Lysas Nebelmitbeweger, 
      DhEINrich ........
       
      Der Abgesang des Einsiedlers kann den Gast nicht beruhigen.  
      Kennt er doch Gewächse, die noch die Kräuter des alten Asketen übertreffen an Bitterkeit:  
      All das Zeug, das sich süßlich gibt  
      und in Wirklichkeit nur glimmend verfault, vor Fäulnis phosphoresziert.  
      Nun ja, vielleicht ist das mitgedacht in seiner Materie,  
      oder gerade das ist gemeint.  
      Gut: Auch hinter dem Abgestorbenen stehen willentliche Kräfte  
      - aber wessen Willen? -,  
      Bewußtseinsprozesse  
      - und wessen Bewußtsein? -,  
      die sich gerade darin auswirken, zu verzichten,  
      keine Eigenheit anzumelden.  
      Verborgenes Sichverbergen.  
      Substanzieller Spiegel.   

      Nun aber  
      - wessen Spiegel!   

      Vielleicht sind wir selbst diese zu Boden geschleuderten Flammen,  
      aber so kennen wir uns nicht.  
      Vielleicht ist es der verdrängte Schmerz dieser Selbstverleugnung,  
      der uns dann doch in die Anerkennungssucht treibt,  
      in die Raserei, wirklich werden zu wollen,  
      da wir empfinden, daß wir nun nichts mehr sind.   

      Die ekstatische Selbstzernichtung der Ewigkeits-Übersatten -  
      was ist sie mit irdischen Augen gesehen denn anderes  
      als  der blinde Anfang unseres "Wir wissen nicht, woher wir kommen"?  
      Vergangenheit ohne Bewußtsein eines Vergangenen,  
      wie Asche ohne die Glutwärme ihres zeugenden Feuers.  
      Wir! Ich! Marktgeschrei billiger Selbstanbieter.  
      Schatten, die danach hungern, Licht zu werden,  
      die ihren Hunger als Befriedigung und ihre Blindheit als Licht deuten.  
      Ein Wahn, der die Sonne der stürzenden Götter überdunkelt,  
      der schließlich deren Opfer mitleidslos, ohne Erkenntnis und Identifikation  
      erst zur grausamen Vollendung bringt.   

      Und so sind wir sie nicht, können wir sie nicht sein,  
      sind nicht jene Flammen, die sich zu unserer Substanz verzehren;  
      nein, wir sind nicht unsere Existenz, sind nicht wir selbst.  
      Wir sind gar nicht!  
      Wo wir sind, sind wir nicht wir.  
      Und holla!, was ich von allen Seiten höre, dieses: "Wir werden ja erst"?  
      Anmaßung! Ein einziger Diebstahl!  
      Verkehrte Welt:   
        
         
      Antonius:   

      Nach der Ewigkeit -   

      vergessen sich die in aller Vergangenheit Verlorenen,  
      die im leeren Lärm, im zischenden Applaus der Millionen sich winden,  
      Gedärm von Gelächter durchzuckt, von Witzen gekitzelt,  
      schal, fahl, Schalala, Hahaha,  
      Pa, sieh da den Vater der Lüge,  
      Pi, den Sohn des Strahls und der Halbwelt,  
      Pu, den Gewinner mit  
      Po dem Doppelten,  
      Pö, ihre Wenigkeit, immer zuviel,  
      und das Quid und das Quale, und immer in Schale,  
      und schal, und fahl, und Schalala, Haaa,  
      und weil es so schön war, noch einmal von vorn,  
      noch einmal von hinten, noch einmal von vorn.  
      Vergiß es, vergiß es, vergiß es, vergiß. -   

      Wie kann man vergessen. -   

      Und sie dreschen und brechen, zerschlagen ihr Schlagzeug,  
      sie steigen im Zorn und sie preschen empor,  
      zu siegen, zu blühen durch alle die sieben  
      die Sinne, ein richtiges Leben, sieh da,  
      die Sterne wie Sonnen, die Explosionen,  
      so reich und so kräftig und herrlich, oh ja:  
      die erste Sahne, Rang und Namen,  
      Ruhm und Samen auf ewig, Amen. -   

      Das ist das Spiel dieser Welt, die du siehst und kennst. 

       
       
    Paulus, der alte Wolf, verstand ihn wohl und ging gut mit, als Hendrik in der "Oase", in der eben von ihm noch besungenen "Totenherberge", seine Antonius-Versuchungen offenbarte, schlug zunächst nur die verschiedenen Becken in jazziger Komplexität, in der lockeren Unregelmäßigkeit einer schwebenden Dauerspannung, ließ ihr Silberrauschen zu einem blendenweißen Zischen anschwellen und die Gischt überströmen, ohne Hendriks von kurz-abgehackten Gitarrenfloskeln untergliederten Sprechgesang allzu grell zu übergleißen.  

    Doch im Publikum war von Anfang an eine gereizte Unruhe zu spüren, Zwischenrufe, Gelächter, Versuche, durch vorzeitiges Klatschen einen Abbruch zu provozieren – in grotesker Weise dem Vortrag des "Spiels dieser Welt" so gemäß, als beschreibe der türkisene Einsiedler vorne nur das allgemeine Wir oder Ihr der Hörer; und durch die letzten Steigerungswirbel Wolframs fühlten sich wohl einige weiter hinten im Raum zu einem Klatschmarsch mit Fußgetrampel, Johlen und Pfeifen, zu einer Rakete also veranlaßt, wie sie auf Karnevalssitzungen üblich ist, wobei die schwarzen Herren am langen Tisch sich beflissen Notizen machten, die goldbestickten Narrenkappen vorgebeugt, ab und zu tuschelnd, kopfwackelnd, gewiß Negatives bejahend, Positives verneinend in ihrer außerirdisch anmutenden Kommission.  

    Und als sei es nicht genug mit der obszön-selbstverliebten Apotheose des Publikums, fiel nun mit dem Schlußsatz vom "Spiel dieser Welt" Wolfram vom Hocker und riß das laut flirrende Schlagzeug mit unter lautem Geschepper und noch lauterem tosendem Gelächter der Fans. Fluchtartig verließ Heinrich die Bühne.  

    Ein leichtes Schwindelgefühl hatte ihn erfaßt, eine Flauheit, die er mit Mühe zu verdrängen suchte. Kalter Schweiß, ein Kribbeln in den Fingern; es würgte ihn, er wankte zum Spülbecken, mußte sich übergeben. (Die Blätter scheinen durch, die Szenen werden einstimmig, déjà vu, überschneiden sich, Cuillaut, siehst du's? Das ist wieder der Vorabend des Oasenspektakels, also Heinrich in seinem Klavierkellerkubus. ) 
    Körperlich etwas erleichtert, als er sich hinlegte, zog er sich die Wolldecke über die Schultern und schloß die Augen.   

    Die Antwort – in etwa also das, was er am folgenden Tag vortrug – fetzte er auf die Rückseite eines Januar-Kalenderblattes; die Vorderseite zeigte einen Kopf mit zwei voneinander abgewandten Gesichtern. Vorsichtig knickte er es längs der Symmetrieachse zusammen.   

    Nein, das gefiel ihm nicht, diese tautologische Gleichartigkeit der beiden Profile, diese magische Zwanghaftigkeit.   

    Die Härten der symmetrischen Spiegelung beschäftigten ihn, quälten ihn, Sätze zu bauen, die vorwärts wie rückwärts gleichklangen, hinauf-hinab die gleichen Buchstaben brachen mit dem Gewicht ihrer geballten Unwichtigkeit, Sisyphoszwänge, Ixions Gezeitenmühle, Katharinenbeweise und Gegenbeweise im Geräder einer sinnlosen Logik: "Sei dies Euer, sei es teuer, eben Elisen Eris -, und nu – Sirene Silene bereuet; sei es Reue, sei dies..." – verräterische Sprüche eines angeknabberten Lebkuchenherzens.   

    Die plötzliche Botschaft der Freundin, ihr verblüffendes Antwortspiel zum Schweigen des harten Glanzes, der sich ihm mit undurchdringlicher Verschlossenheit offenbarte – diese beiderseitige Ergänzung, als seien sie die einander widersprechenden Interpretationen eines einzigen ambivalenten Orakels, überforderte ihn ebenso wie sein eigener Versuch, Zukunft und Vergangenheit, Erinnern und Vergessen, Himmel und Hölle in seiner Bewußtseinsgegenwart zusammenzubinden.   

    Der Schlaf erst löste den Bann.   

    In der ersten Morgendämmerung wachte er auf, noch angekleidet, schwitzend unter der Decke. Ja, das war es, was ihn weckte: Eine Amsel sang, in der Ferne antwortete eine andere, und die erste wieder und wieder anders die andere, in immer neuen Strophen.   

    Das schien ihm unbeschreiblich schön, wandelte seine Verzweiflung in ein wehmütiges Entzücken. Vorsichtig öffnete er das Klappfenster, lauschte hinaus, verfolgte das Wechselgespräch, die Zwitscherwalze, wie sie sich die Straße entlangdrehte, trank mit staunendem Mund die zärtlichen Wunder des Vorfrühlings.   

    Der Frühling, ja: die Mitte zwischen den einander umkreisenden, einander umwindenden Extremen des Briefes und Gegenbriefes. Kommt ein Vogel geflogen, schwarze Botin, singt mir ein Lied, daß ich schier vergeh, mich ringle, zurück in den Boden zu kriechen, da flattert ein anderer Bote vom Himmel herbei, singt der ersten ein Lied, daß sie schier vergeht, schon flattern die schattigen Sänger davon.   

    Wie es keimt, ergrünt, von Wassern aus dunklen Rätseltiefen genährt, erfrischt vom Gesang der gefiederten Schwestern: So durchdringen sich Asche und Erde des himmlischen Opfers, der hinabgestorbene Stoff schmerzlicher Erinnerung, der zersplitterte Leib der Göttersöhne – ja, so ließ es sich hören und deuten – mit schwarzer Feuchte, mit morgendlichem Tau, neu aufzusprießen in zarten Bildern von Sternen und Sonnen, sichtbaren Gesichtern des unsichtbaren Lichtsaftes.   

    Ein Spiel aus seiner Kindheit fiel ihm mit einem Male ein, wo ein Papier so gefaltet wurde, daß es über die Finger einer Hand gestülpt sich auf zwei verschiedene Weisen öffnen ließ und so mit den zwei senkrecht aufeinander stehenden Lippenpaaren seines innen bemalten Maules einmal den Himmel, einmal die Hölle mit vier Flächen auftat.   

    Das war es. Er raffte sich auf, holte einen Wasserbecher und öffnete den neuen Aquarellkasten, die Farbtöpfe noch sauber gefüllt mit konvex glänzenden Oberflächen, eine Klaviatur frischer Töne von Gelb über Rot zu Blau und Türkis; nun begann er mit dem nassen Pinsel leicht über das scharfdunkle Rot zu streichen, wollte nur ganz ganz wenig davon aufs Papier nehmen, ein zartestes Rosa. Dann zeichnete er mit gelblichem Grün einige Andeutungen sprießender Halme und Stengel zwischen die blaßblühenden Zungen, halt, Vorsicht, genügen diese vier fünf Striche nicht? – aber dann gab er doch der Versuchung nach und tuschte mit sattem Pinsel einen tiefschwarzen Hintergrund um die grünenden und rosigen Frühlingsvorboten, ein Meer von Nacht. Und so schrieb er seine Antiphon auf die Rückseite des Aquarells. Er umfaltete es kompliziert mit Packpapier – braune Schale um ein süßes Innenleben, wohl noch innerhalb der erdigen Samenanlage unter gefleckten Kronblättern zu denken, die sie ihm zugesandt hatte, gewissermaßen ein Weiterschreiten in den Kern ihres Blütenbriefes – und steckte diese papierene Frucht dann in seinen Mantel. Er wollte es nicht als Brief zusenden, sondern ein wenig abwarten und es Elischa bei Gelegenheit selbst in die Hand geben.   
       
     

       
    15. Die Wellenreiter   
        
       
    "Knospende Keimkraft, – ist das nicht eine Frage der Zurückhaltung, der Fähigkeit, verhüllende Pausen zu setzen, im doppelten Sinne: eine Frage des Takts?"   

    Um sie die milchigen Papierwände, deren Fachwerk saubere Linien bilden, die sich durch die lichte Milde des Raumes zeichnen. Seitlich in einem Krug einige Kirschzweige, die sie ihm mitgebracht hat, und ein singender Teekessel auf dem kleinen Ofen.   

    "Die Sinne spannen sich als ein einziger Vorhalt, vorläufig ist ihre Befriedigung, Scheinschluß nur; sie brechen in immer neuen Spannungen auf: Die Augen, die Münder, die Ohren eröffnen ein einziges Fragen, Bitten, Suchen, Streben, Verlangen – doch hier, eben hier, eben noch im Überschlag der Woge zur Brandung innezuhalten: Seufzer, Tränen und Lachen vor deren Ausbruch in sich zurück zu wenden – treibt nicht eben dies den Saft in ein inniges Blühen, verwandelt, bezaubert, spricht -"   

    Da verschließt, umstrafft und öffnet sie seine Lippen mit ihren offenen, straffen, nun zärtlich sich schließenden Lippen, tastet, liest und nimmt seine Frage mit ihren Zähnen, ihrer Zunge von seiner Zunge, seinen Zähnen behutsam ab und löst sich wie ein Sperling, der vom Gezweig abfedert, von seinem Mund; und gleichsam aus dem elektrischen Teich des Schlafs wieder auftauchend in sanften Vereinigungsblitzen, vokalisch umfärbt, konsonantisch umformt im Gliederspiel seiner Silben, tastet, liest, vernimmt sie ihn - 

    "- verschlossen wie all die Briefe, die du an ihn zurückschickst, treibt dein Schweigen seine Liebe nun in den vollen Frühling. Man könnte meinen, dann beginne es erst, dann entfalte sich sein Rausch erst in voller Fahrt und reiße dich mit, da, Achtung!, der Schaumkamm bricht schon von oben über dich herein – doch du gleitest, du schießt in gerader Bahn trocken dahin auf der Woge alles Zeitlichen, ein nicht endender Blitz vor dem donnernden Staunen der eifernden Geister und geifernden Gischtfetzen - das nenne ich – ja, das nenne ich – -"   

    Bei den letzten Worten Kurinshorus, ihres listigen Freundes, blickt sie ihn fast ein wenig verblüfft an und gibt einen kurzen hohen Ton von sich, als sei dies das Wort, das er sucht.   

    Cuillaut, das ist geil, was für gymnastische Übungen Iris in Hendriks Imaginationen vollführt, huaaah, hör dir das an: Sie sitzt auf dem Schoß des Meisters, gestützt von seinen im Lotossitz auf die Schenkel geflochtenen Füßen, umschlingt seine Hüften mit ihren bis obenan bestrumpften Beinen, doch ihr weites Kleid, vom Oberkörper bis zur Taille hinabgestreift, überfließt dies innige Gliedergeflecht mit einem faltigen Meer flaumigen Stoffs. Ihre Hände kreuzen sich hinter seinem Nacken, die Finger in gelassener Eleganz um den silbernen Samtschädel des Alten gelegt, doch mit einem leichten Zucken berühren ihn unwillkürlich ihre Brustspitzen, und hin und wieder rollt ein ruckendes Zittern durch ihren aufrecht gespannten Leib. Seine Fingerspitzen gleiten in kaum merklicher Berührung ihr Rückgrat entlang, vom Kreuzbein durch alle Farben der Erregung bis zu ihrem Scheitel hinauf, schauern dort über ihren aufgelösten Haaren weich auseinander, schwimmen rasch hinab und tasten kaum, schweben fast in verschwindend leiser Berührung erneut die süße Spur im Glissando der Nervenharfe hinauf.   

    "Ja, da lachst du.", deutet er mit merkwürdiger Kenntnis ihrer Gemütsregungen dieses kurz abgerissene Stöhnen. "Damit mußtest du rechnen. Schau mal, sie sind Kinder und spielen wie Kinder mit den ernstesten Dingen, treiben blühende Scherze mit der Gewalt der Götter, rufen für ihre Spiegelphantasien nichts geringeres als den Namen der Ewigkeit an. Mutwillige Spielerei mit dem Ernsten.   

    Du kennst anderes. Du machst Ernst mit dem Spiel, du arbeitest damit, du schmiedest es um und um in der Esse deines schmerzhaften Fleißes. Wie verglühte nicht all deine Scham in diesen verzückten Momenten der verrückten Entgeisterung eines heißen, spitzen Publikums, wo dir die jauchzende Angst wie eine stramme Hand in die Glieder fuhr, der süße Schrecken dich peitschte wie einen Kreisel, sssjuuuh, dich lüpfte, schwerelos - da begann sie über dich zu brechen, die allseitige Welle, – aber etwas in dir war klug. Im wildesten Anfall der zuckenden Lust, da bist du gestürzt, eine Sternschnuppe durch die Himmel – so entkamst du dem tosenden Ende. So schießt du dahin, gleitest entlang an der hochgeneigten Wand des immerwährenden, immerletzten, immerzu gleich herüberbrechenden Elements, entlang an der gediegenen Spannung des Vorhalts, an der Pause vor dem Drohen und Dröhnen des Schlußakkordes. Das erreicht dich nicht mehr, du fliegst, du biegst durch die Sonne, du siegst.   

    Aber hier diese Seelen, nun, sie spielen wie Spatzen, sie picken das kleine Gebrösel vom Boden auf, das du ihnen da nebenher einmal hingeworfen hast; sie werden davon schon satt und zwitschern beseligt durch die blauen Lüfte. Gewiß, das ist schön, und dein Lächeln geht darin auf:  
      

      Des Himmels Zeichnung treibt den Fernen zu,  
      der Vögel Zitterwellen ohne Leid."   
      
    Er lächelt, steht nun auf, noch eng von ihren Schenkeln und Armen umschlungen, umfaßt ihre Taille, um sie nun leicht von seinen Hüften zu heben, frei schwingt die weiche Glocke um sie, als er sie hoch über sich hält und dann sachte zur Seite niederläßt, wo sie sogleich aufmerksam ihre Beine unterschlägt, und er setzt sich zum Ofen und prüft den Tee.   

    "Jaja, da gibt es doch noch ganz andere Spieler, hell strahlen sie aus von den Polen der Klugheit und Macht, wie eisige Kristalle, kantig und klar, paß gut auf, mein Mädchen! Man sieht durch sie hindurch, das ist es ja eben. Und die spielen den Meister auf der Orgel des Lebens. Sie fangen uns alte Satyrn und Immengärtner ein und ziehen uns durch ihre gläsernen Apparaturen; sie versklaven die lieblichen Feen, fesseln, blamieren, karikieren, prostituieren sie. Die Säfte der Liebesgötter zischen durch ihre Leitungen, schießen aus ihren Düsen, sie schäumen über, verrauschen, zerplatzen – der Millionen Spiegelwelten Ende und Vergessen. Das trocknet ein, man kratzt die mürben Krusten ab, man spült sie fort, reinigt erleichtert Kolben und Becken; dann sucht man neue Säfte für neue Versuche – tja, sieh dich vor, daß dich nicht eines Tages diese Brandung überrollt! An dem Tag, sage ich dir, wirst du erstarren, kristallin wie ein ausgefälltes Salz im Reagenzglas. Verstehst du mich, was ich meine und wen? Den Nachtclubhengst, ja den auch, aber mehr noch den Schmeichelpfarrer: diesen Chemiker dort. Stimmt, den kenne ich gut. Und wie ich ihn kenne! Na, siehst du -", er räuspert sich verlegen, "der ist mein Schüler."   

    Der Meister, Kurinshoru. Das ist der einzige Mann, der sie wirklich in Erstaunen setzt, der einzige auch, der solch eine Regung überhaupt bei ihr erschließen könnte, aus den Umständen, kausalmechanisch, nicht psychologisch aus ihren Mienen. Schließlich blickt sie ihn ja weiterhin so, wie Göttinnen zu tun pflegen, mit unbewegten Augen an, zuckt nicht einmal mit den Wimpern, sogar ihre Hände verraten nichts. Nein, sie sagt es schlicht, flach, es klingt bedeutungslos: "Da bin ich aber geplättet." Natürlich ist sie das. Was soll sie auch anderes sein.   

    "Jetzt fehlt nur noch, daß ihr untereinander meine Telephonnummer verhandelt, mir Freundschaften und Feindschaften zuschanzt, daß ihr mich Zweite in den bayrischen Eiskunstlauf-Meisterschaften habt werden lassen, ttth - der Witz einer Monopolykarte: Ziehe von jedem Spieler vierhundert Mark ein. Bin ich also euretwegen gestürzt?"   

    Wie schnell sie die Dinge auf den Punkt bringt. Sie springt auf, zieht das Oberteil des Kleides wieder über die Schultern, schließt es vor ihren hohen Brüsten und bindet ihr Haar zu einem Pferdeschwanz. "Ja, das fehlt noch, daß ihr von beiden Seiten die Schlüssel zückt, und mich wollt ihr öffnen wie ein Schloß. Sieh an. Da strickt ihr Moleküle, Zaubertränke, Seelenverwandler, er auf der chymischen Hochzeit, in vitro, du im Innern, durch Dressur meines Körpers. Laß mich weiter raten. Daß du deine Botschaften in Pflanzen und Pilzen versteckst, und die Findigkeit des Forschers auf der Tagseite erweist sich dann darin, diese Agentenbriefkästen lernend aufzuspüren. Alles ist voll von euren Doppelblindversuchen. Also nun gib es doch zu: Ihr habt mich eingesetzt, um den kleinen Komponisten auf Herz und Nieren zu prüfen, nun? "   

    Er steht auf, wendet sich von ihr, die in ihrer Kleidblüte mit gespreizten Beinen auf Zehenspitzen vor ihm steht, höflich ab, um sich in seine seidene Decke zu wickeln, und hört doch deutlich das Rascheln des Stoffs, wie sie die baumwollene Haut unter ihrem weiten Kleid über die bestrumpften Schenkel streift, und die feinen Schnappgeräusche, als sie die elastischen Ränder ihres Schlüpfers auf Hüften und Beinansatz flitschen läßt -   

    "Ja, das ists!", sagt er kaum vernehmlich leise, fast nur zu sich selbst, aber sie hört ihn um so besser, "Hast du das auch gehört? Diese Feinheit verbirgt sich leise im Lebenskeim, diesen Laut suchen alle Münder mit Lippen und Zungen zu küssen, in seiner Heimlichkeit verrauscht diese ganze Brandung um dich her, deren Wogen brechend sich vor ihm, zu ihm hin, um seine Drehachse herum neigen, darin erschließt sich, indem du es umschließt, dein ganzes Geheimnis in einem einzigen Punkt, in einem verschwindend feinen, zärtlichen -"   

    Oh ja, sie hört es raumlos-trocken: Da ist etwas wie das Zerplatzen einer Seifenblase – eben. Also auch du, Kurinshoru, mein Meisterchen du!   

    Mehrere Möglichkeiten blitzen augenblicklich in ihr auf, die sie ins Langsame dehnt, zu quälend vertonten Kriminalfilmen auseinanderspannt, voneinander isoliert, vor sich ausbreitet. Die Patiencen des kaltgenossenen Zorns.   

    Und was tut dieser falsche Kommissar in seinem seidenen Drachentuch? Er verbeugt sich tief, bietet ihr Platz an, schenkt schon wieder Tee ein, blinzelt aus seinen tausend Augenfältchen, als sei da nichts -   

    "- ganz genau, du begreifst schnell: fast ein Nichts. Das ist es! Das nehmen wir, damit prüfen wir ihn. Mal sehn, ob er das aufschlüsseln kann. Sieh an – er hat es gelernt, in dem letzten Staubkorn noch die Bahnhöfe aufzufinden, von denen er zu Reisen in fremde Länder aufbricht, Einsiedlerwüsten und Gärten mit sprühenden Brunnen, Muschelparadiese, alles findet er in deinem -"   

    "Phhh!" Sie zieht sich ihre Eisschuhe an, hier auf der Matte im japanischen Teeraum, was will sie damit? Kurinshoru kennt sie und gürtet sich schon.   

    Sie steht bereit: "Und wie deutest du das?"   

    Sie schwingt sich mit einem katzengeschmeidigen Sprung hinein in die Papierwand, und nicht allein – er hält ihre Taille umgriffen und fliegt mit ihr durch das Niemandsland der milchigen Fläche, und als die dünne Lichthülle im schneidigen Schriftzug unter ihren Kufen aufreißt, da gibt das einen Ton – nein, nicht wie ein zerfetzender Lampion, wo denkst du hin? – nein, es ist – eine zerspringende Seifenblase, fein wie das Schnappgeräusch eines elastischen Gummibandes, wenn -   

 
 
Fortsetzung: Kapitel 16-18
.
zur Titelseite   zum Anfang des Romans   Symmetrieachse   zum Seitenanfang
I. Enneade   
   
1. Prolegomena   
2. Ouvertüre   
3. Iris   
    
4. House burning down 
5. Die Reise   
6. Pupille   
    
7. Rasur   
8. Das Café I   
9. Der Chemiker
II. Enneade   
   
10. Das Brot   
11. Der Kelch   
12. Wasserwüsten   

13. Die Wellentaucher 
14. Die Ersten – die Letzten 
15. Die Wellenreiter   

16. Feuermeere   
17. Die Brüder   
18. Der Wein

III. Enneade   
   
19. Die Substanzen   
20. Das Café II   
21. Eli Eli   

22. Umweg   
23. Der Garten   
24. Er kehret nicht zurück 

25. Oh du lieber Abendstern 
26. Dahin zog's mich   
27. Katalegomena

emaille?!  *  Quellensammlung  *  Lyrik  *  lapsit exillîs  *  Parzival  *  Rheingold-Travestie
Heinrich von Ofterdingen, Wolfram und Klingsôr im "Sängerkrieg auf der Wartburg"
 
zurück        Seitenanfang
 
FEIRE FIZ (Hans Zimmermann) / Elischa Beth / Wolfram / Cuillaut : ... noch einen Tannhäuser schuldig : Zwiebelgold : Die verbrannten Briefe 13-15