13.
Die Wellentaucher
Denn
immer muß ich allein die Zwiebeln fürs Mittagessen schälen,
weil der Herr Cuillaut Arbeit vortäuscht. Mensch, wie das in den Augen
brennt, ich halte das nicht aus.
Das
war aber auch eine Schachtelei mit diesen Venusberg-Akten, eine Geschichte,
wo Schichten und Schichten in Schichten sich schichten -
Gottogottogottogottogott,
wie das beißt, ich presse die Brauen auf die Backenknochen – völlig
sinnlos. Ja nun, wir sind ja schon einiges gewohnt, von der Expedition
damals durch die Initialen im Book of Kells – wir wären nicht mehr
rausgekommen aus der "XRI h generatio", wenn nicht, ja wenn da nicht zufällig,
nun, ach ich weiß nicht mehr; weißt du's noch, Cuillaut? Ach
so, ja. Wir sind in der Tat da nie wieder herausgekommen. Wir sind noch
drin.
Und
später dann unser gescheiterter Versuch, das Mahabharata einzudeutschen,
wo wir seufzend aufgaben, als die seidene Sarihülle der verpfändeten
Draupadi sich ins Unendliche abwickelte, und sie drehte sich wie eine Spule
in endloser Pirouette immerzu weiter und immer weiter und weiter, da kam
Stoff nach und immer mehr nach, und – ja, wir zwei Seelenvoyeure nahmen
mitten in der Auflösung eines Kompositums, das drei Doppelverse überlappte,
beschämt Abstand – wir wußten einfach nicht mehr das Wer-Was-Wo-Wie-Wann.
Wir hatten den Drehwurm der Alldeutigkeit.
Also
die Knibbelei mit den dünnen Häuten, die reicht mir jetzt. Ich
nehme das große Messer und hacke die Riesenflutschi einfach mitten
durch. Zack!
He,
Cuillaut, komm mal her, schau dir das mal an! Ein glatter Querschnitt.
Hättest du das gedacht? Warum habe ich nicht gleich -
Ja
stimmt, zuerst mußten wir die zähe Schale ablösen. Aber
jetzt sehen wir doch schon weiter, nicht wahr? Vorgeschichte, Binnenerzählung,
Nachspiel mit einem Blick. Komm, schreib schnell mit, ich hab's.
Ja
schau doch mal genauer hin, siehst du das nicht? Nimm die Lupe, ja. Das
ists. Die braungoldene Schale ist bei dieser Zwiebel in die Mitte gewachsen,
und das saftige Innenleben hat die Malerin glatt nach außen gestülpt.
Kein Wunder, daß wir uns hier dicht beim Zentrum wiederfinden.
Vielleicht
erkennst du einige Einzelheiten noch genauer, Cuillaut? Wir wollen das
mal gleich festhalten.
Gut,
ich diktiere diesmal, du schreibst. Ja nimm ruhig die Rückseite von
dem Einsiedlertext da in der Mitte. Den hätte ich sonst sowieso weggeschmissen.
Ja klar doch, das ist nur die dürre Schutzhülle. Kosmischer Kitsch.
Eine transparente Bemäntelung.
Die
Vorgeschichte. Sollen wir nicht unsere Väter ehren? Wie schwer mir
das wird, wenn ich an den Eingeweihten vom Dienst denke, an Konrad mit
seinem Hütchen, den Herrn Marburger, dem man seinerzeit die Vaterschaft
in unserer Ordensfamilie übertragen hatte, damit er sich selbsterzieherisch
üben konnte. Für uns war's Spiel, für ihn war's die Sprungschanze
in die Ewigkeit. Den haben wir geschafft. Frieden seiner Seele.
Elischa
war damals noch bei uns in Pflege, wie das so heißt, und er wollte
sie adoptieren, als sie in die Entwicklung kam, wie das so heißt.
Irgendwie wollte er ihre blühende Kindlichkeit bewahren, verdichten,
konzentrieren, wollte die wild Empfindsame wohl zähmen zu einer Heiligen,
erfinderisch in Anlässen und Sichtweisen, die ihr die Röte ins
Gesicht trieben und ihre Wimpern mit Schuldgefühlen beschwerten. Dann
weidete er sich, berauschte er sich an der gediegenen Frömmigkeit,
in der sie aufglühte, an dem flüssigen Gold im Schmelzofen ihrer
Hingabe, fühlte sich ein in ihren Atem, ihr Blut, ihre sprießende
Herzensknospe, hob sie seufzend empor, dankte, brach das Brot, nehmt hin
- – - und sie widerstand ihm nicht, wie er es von ihr als Tempeljungfrau
erwartete, sie quälte den asketischen Masochisten nicht, nein, sie
gab ihm lächelnd nach, verführte ihn vor aller Welt, offenbarte
seine Verliebtheit.
Mein
Gott, wir waren alle verzückt-verrückt, angesteckt durch den
Verliebten, selbst verliebt in diese ungarische Prinzessin und ihre kindlich-unbefangene
Lebendigkeit, in dieses rote Reh; was, "Bambi", ich werd' dir gleich "Bambi"!
Die eisige Glut, die ihr durch die Augen lachte, milderte sich später
zu einer kühlen, erfahrungssatten Wärme, und so kennst du sie
auch. Was, du kennst sie nicht? Übrigens wußte sie nichts von
der Chance zur Selbstprüfung, die dem Marburger in unserer Familie
eingeräumt worden war, und erst recht nichts von der Funktion, in
die er dann aufstieg.
Zunächst
halfen wir damals unserer nach wie vor kindlich-unbefangenen und lebenshungrigen
Pflegeschwester, in natürlichere Lebensumstände einzutauchen,
fern von ihm – er war erledigt und mußte in den obersten Rang einrücken,
blamiert bis auf die Knochen. Wußten wir Schüler doch gut, wie
man Präsident des Elferrates wird, und daß die völlig ohnmächtig
sind, die in den Ruhm geraten, weil sie, wie es so schön heißt,
ihren Lohn dahin haben.
Dann
hat er noch im Zorn versucht, unsere ganze Schule zu vernichten, zu denunzieren
und zu verleumden, wir seien ja alle Gnostiker, Brüder und Schwestern
des freien Geistes, Erkenntnisverliebte, überhaupt Verliebte, die
einander erkennen, als sei er selbst keiner, dieser Eifersuchtsbolzen;
so haben sich die Geistesgeschwister und Schüler und wer alles da
lehrt und lernt und hilft und wirkt, für alle folgenden Zeiten schweigend
auf die Arbeit an der Substanz beschränkt. Nein, nicht wie irgendein
Geheimbund, nur eben wissend, daß Sorgfalt und Seelennahrung mit
Ruch und Ruf nur das Geringste zu tun haben, und daß dieses Geringste
das Tageslicht der Selbstironie und Erfahrung ist. Fast alles ist in der
Substanz anders, als es nach außen zu sein scheint.
Ja
eben, deshalb müssen wir diese ganze Übersetzungsarbeit leisten.
Die Substanz muß zur Erscheinung gebracht werden: Transkription,
Übertragung, Aufarbeitung – ach, was erzähle ich dir! Undankbares
Geschäft. Vor allem bei dieser philologischen Ordnung in deiner Küche,
Cuillaut! Unglaublich, was man so zwischendrin alles findet in dem Gemüse.
Mit
- mmmh, ich möchte sagen, mit einem gewissen Sarkasmus hat man von
da an gerade die Unerleuchteten, Schwierigen, Unfähigen in aller Lebenspraxis,
das heißt: diejenigen, die eben nichts anderes tun können als
den Lehrer, den Meister, die Schulaufsicht, den Hausjuristen zu mimen,
mit passenden Kostümen ausgestattet und – ja so läuft es – sie
mit der peinlichen Verfolgung und Untersuchung der Schriftarbeit beauftragt.
Sie sind somit unser Selbstprüfungsinstrument, nicht gerade ein Spiegel,
eher ein Reinigungssalz, oder so etwas wie die Maden, die die Knochen freiputzen.
Kein schöner Anblick, aber darauf kommt's nicht an.
Allerdings
wirken im Unmerklichen, ohne besondere Farben, Zeichen und Ansprüche,
kluge und warmherzige Leute, klein und unscheinbar. Die setzen sich eine
große Nase auf und mischen sich zwischen die albernen Riesen, Elfen
und Zwölfen, ununterscheidbar, das ist ein Vergnügen für
jeden Rätselfreund.
Ja,
da sind wir schon mittendrin in der Binnenerzählung. Denn nun haben
wir diese Walze der Generationen. Du sagtest ja bereits, daß wir
da nicht mehr aus herausgekommen sind auf unserer Expedition. Immer gibt
es eine neue Prüfungswelle, mit den Jahreszeiten überrollt sie
uns, denn die Emporkömmlinge kennen die Kinder des Hauses nicht und
halten uns für frische Anwärter. Sie lassen die Wissenden regelmäßig
durchfallen. Nur absolut Blinde bestehen die Prüfung; wer dagegen
die vierzigste Tür geöffnet hat, liest zwar die Schrift – und
das ist in der Tat die entscheidende Prüfungsschwelle -, kann sie
aber nicht umsetzen, weil ihm der Pegasus das linke Auge ausschlägt.
So steigen wir, die Könige unter den Blinden, zu den Anfängen
hinab, fallen gewissermaßen durch die Anfänge hindurch und werden
am Ende herausgeschmissen. Aber die forschen Frischlinge, die uns, die
Durchgefallenen, wegtrumpfen, müssen drinbleiben! Köstlich. Wir
sitzen dann manchmal mit den Ägyptern zusammen im Nebenraum, lauschen
und lachen uns tot.
Ich
war, wie du weißt, schon vor einiger Zeit dem Orden entwachsen, und
ich mußte nun sehen, daß ich Lischa und Hendrik zu dieser Farce
begleite und sie auffange, wenn sie ihre kalte Dusche abbekommen und aus
der letzten Schale des römischen Brunnens herabtropfen.
Hendrik
steckte schon tief drin in der Tränke, denn die experimentfreudigen
Alten hatten ihn mit der Tempeljungfrau zusammengebracht. Du weißt,
mit wem. Jetzt regte sich auch in Elischa so etwas wie eine vage Erinnerung
an ihre frühe Jugend, die sie sonst gründlich verdrängt
und verwandelt hatte. Sie fand Hendrik in einer Situation, die ihrer damaligen
Lage komplementär war, fühlte, daß er den Selbstbeweis
der Eisprinzessin nicht widerlegen konnte, kam aber zu spät, er war
tief verwundet. Das trug sie seelisch mit, und so versuchte sie, ihm mit
dem Einsiedlergespräch eine symbolische Ebene zu geben, auf der er
sich ohne Schande offenbaren sollte, aber das war am Ende nur Perlmutt,
um sein Schmerzenskorn gründlich mit Religion zu verkapseln.
So
ist der Schrecken, durch den Hendrik initiiert worden ist, in die äußeren
Ränder der Geschichte getrieben worden, aber Elischas kosmische Pergamenthülle,
dieses Alles und Nichts, schliert hier in die Mitte der Zwiebel hinein.
Was,
Nachspiel. Welches Nachspiel? Ach so. Nein, nein. Ich würde sagen,
wir lassen die ganze elisabethanische Schichtung jetzt, wie sie nun einmal
ist, also wart's ab. Wir übersetzen ja bloß Lischas Linien-
und Farben-Partitur. Und hätte die Malerin dieses autobiographische
Kapitelchen nicht selbst dokumentiert, hier dieses, das gerade endet, mon
ami, dann hätten wir es auch nicht eben so wiedergegeben, wie wir
es mitteilen, wo sie mir immerhin sogar für dieses Selbstporträt
die Rolle des referierenden Icherzählers zuerteilt, ja, hier steht's
geschrieben, am Ende des Parenthese-Kapitels, komm, rück näher
ran mit deiner Lupe ans goldene Zwiebelherz, hier: "... ans goldene Zwiebelherz"
- siehst du's?
Tja,
da kommen sogar dir die Tränen, Cuillaut. Das goldene Zwiebelherz,
geschaut mit eigenen Augen. Wer würde da nicht weinen!
|
14.
Die Ersten werden die Letzten sein
Als
Hendrik am Nachmittag von der Hochschule nach Hause kam, fand er Post im
Kasten. Werbung. Und, ach, seine letzten beiden Episteln an die blaue Eisblume
- ungeöffnet zurück, wie immer. Und – zuerst hielt er ihn für
einen der eigenen Briefe, diesen selbstgeklebte Umschlag: Das waren, ja!
das waren Lischas Künste. Sein Herz schlug bis zum Hals. Was für
ein langer Weg die Treppe hinab in sein Zimmerquadrat; was für Umstände,
erst den Mantel abzulegen! Er genoß die Spannung mit bewußtem
Hinhalten seines neugierigen Dranges. Vorsichtig, wie seine Seele aufblühte,
kostbare Zeit, gedehnt und fliegend zugleich, zog er die Ecken der Rückseite
sacht auseinander und öffnete so ein buntes Faltblatt, dessen helle
Blumenbemalung eigenartig duftete und die Fingern bestäubte.
Die
vier Ecken dieses Umschlags zeigten auf der Innenseite einen bizarr durchstrahlten
Nachthimmel, sprühende Sterne in schwarz verwölkter Masse. Auf
dem Quader zwischen den diagonalen Faltungslinien war ein weiterer Umschlag
aufgeklebt, außen blau aquarelliert, ein duftig atmendes Fenster,
aber es klappte schon blütengleich seine vier Kronblätter auf,
unverschlossen, und zeigte sich von innen als ein schneeweißes Blatt,
blau beschrieben in der ihm wohlvertrauten Schrift. Als es sich öffnete,
fiel ihm ein loses Briefchen heraus, ockergelb mit goldenen Schlieren.
Zuerst
las er die lichte Seite des blauen Umschlags, das Innenleben der vierfaltigen
Blume. Er hatte Wilderes erwartet, Vorwürfe vielleicht oder sonst
etwas, das sich verriet oder verbarg, aber sie bat ihn mit schlichten Worten
in zierlicher Schrift um die Vertonung eines kleinen Dialogs, den sie skizziert
habe. Eine Einladung, aha, eine Einladung in die "Oase", in den Jazzkeller,
wo Elischa Dichterlesungen für Pop-Poeten veranstaltete. Sie wünschte
nun von ihm eine Fortsetzung oder Verarbeitung des beiliegenden Anregungstextes,
Beitrag zu einem Wettbewerb, was auch immer da zu wetten und zu werben
war und wer auch immer da urteilen wollte, nun ja, das Publikum, wer denn
sonst. Welcher Text? Ja, sie meinte wohl das kleine bräunliche Faltblatt,
das sie mit so viel Papier umkleidet hatte. Nun, mal sehn.
Es
war nicht leicht zu lesen, Bleistiftgesilber auf einem Untergrund, der
aussah, als habe sie ihn als Palette benutzt und dann einmal kurz an den
Seifenrand ihrer Badewanne gedrückt und wieder abgezogen, die Schaumgeborene.
Wenn Maler dichten! Du permanente Ein- und Sorgfalt, du Pergamentblatt
mit deinen silbernen Sorgenfalten.
Da
entdeckte er im verbraunten Geschlier die Namen der beiden Einsiedler vom
Kern des Isenheimer Altars, und verwundert, hineingesogen in die Ahnung
seines Traumes, las er sich ein in das Wechsellied, sang sich hinein in
Lischas dunkle Worte, erfüllt von der rauh-weichen Schwere ihrer Stimme.
Und
so stieg er ziemlich spät am Abend des folgenden Tages aschfahl geschminkt,
in türkisener Antoniusgewandung, zum Jazzkeller hinab, reichlich vergrübelt,
halb verzweifelt, halb in den Ideenfetzen verzettelt, die er am vorherigen
Abend noch in einem Antwortbrief an die liebe Freundin skizziert hatte,
um sie ihr nach dem Vortrag in der Oase zu überreichen. Er kämpfte
sich, als gerade ein mexikanisch anmutendes Musikstück mit der Anrufung
Vitzliputzlis zum Ende kam, durch das Gewühl der Klatschenden und
Lachenden, Rauchenden und Aufrückenden, Ankommenden und Gehenden unter
den Palmensäulen und Blattfächerdächern zur ihr durch -
ja, da fand er sie endlich! – drängte sich also zur kleinen Dame mit
dem gewaltigen Schlapphut hindurch, die als schöne Seele des Abends
rechts neben dem Bühnenpodest im Kreis der anderen Pop-Poeten und
Musiker auf einem Sofa kniete, sofort aufstand, als er in die Nähe
gelangte, ihn strahlend mit ausgebreiteten Armen empfing, freudig umarmte,
knetete und mit drei Küssen auf die Wangen begrüßte.
Nun
erkannte er auch den Sänger mit der graugelben Bastweste auf der Bühne,
der ihnen im Gespräch mit den Musikern, die ihn begleitet hatten,
eben den Rücken zukehrte, stieg die eine hohe Stufe hinauf und tippte
ihm von hinten auf die nackte Schulter. Wolfram übergab ihm gerne
das Mikrophon, und Hendrik sang nach kurzer Abstimmung mit den Gewieften
erst einmal, gewissermaßen zum Eingewöhnen, sein Lied von der
Totenherberge. Vom Podest aus überschaute er zugleich etwas leichter
den verqualmten und halbdunklen, bunt durchleuchteten Raum, den er doch
soeben besang oder zumindest mitmeinte, musterte die Tische in den felsenartigen
Seitenhöhlen, wandernde und gesprächige Gästegruppen dazwischen,
auch vor der Tanzfläche in der Mitte, die deshalb nur schwer einzusehen
war, einen längeren Tisch im Hintergrund, an dem ein Dutzend ältere
Herren in schwarzen Anzügen, aber mit brokatenen Narrenkappen, saß,
die hier überhaupt nicht hereinzupassen schienen und manche mutwillige
oder spöttische Geste in ihre Richtung mit einem bedächtigen
Zurechtrücken der Brillen konterten.
Nach
kurzen Absprachen der drei Freunde trat Elischa vor und gab inmitten der
Palmensäulen und Höhlennischen eine malerische Einführung
gewissermaßen in die "Oase" selbst, fast schon Beschreibung dessen,
was ohnehin alle um sich sahen und worin sie sich eingenistet hatten, zu
der Wolfram am Schlagzeug und Heinrich auf der Gitarre leichte Hintergrund-Geplänkel
beigaben, so daß sie mit verstärkter Akzentuierung der Rhythmik
dann in der Folge auch einen nahtlosen Übergang zur Rezitation des
Elischa-Briefes fanden, den Hendrik als Antonius bluesartig, gewissermaßen
auf der ausklingenden Rückseite eines variierend wiederholten kurzen
Riffansatzes seiner Gitarre, im Sprechgesang vortrug, bis dann auch Wolfram
mit entsprechender Fortführung und Steigerung dieser atmosphärischen
Grundierung und Klanggliederung die Paulus-Antwort, die offensichtlich
von Elischa inspiriert war oder gar aus ihrer eigenen Feder stammte, unmittelbar
anschließen konnte:
Antonius:
Gewiß,
dir geht es gut.
Der
Rabe bringt dir Brot,
der
Fels springt auf zu kühlen Quellen,
unter
Himmelblau und Blättergrün zählst du die Sonnenscheibchen,
blinzelst
selbst den ganzen lieben langen Tag dem Wüstengeist ins luftige Gesicht.
Doch
schon da vorn, im Knochenfeld -
die
unter deinen Schritten knirschen,
längst
ertaubt vom leeren Lärm,
verstummt
vor all der Eitelkeit des Fleisches,
sie,
die allen Schmerz der Zeit in Ewigkeit verwinden -
die
wir die Verdammten nennen,
Feuerwürmer,
Bergarbeiter, Sklaven
in
den Schächten, Kellerlöchern, Schlangengruben
jener
kaltverglühten Welt -
Hat
deren Zorn nicht Eifer mehr
als
all die faule Heiligkeit
der
Blumen in der Himmelsvase,
wurzellos
und aller Sehnsucht
ewiglich
verlustig? -
Schande
ists, erwählt zu sein! -
Was
ist da Hölle und was darf denn
Himmel,
Himmel! heißen?
Paulus:
Nach
der Ewigkeit -
hebt
unser Leben an.
Denn
wie ein Sprung im Porzellan,
so
fein geht unsres Lebens Riß
durch
seine Ursubstanz, durch aller
Wesen
Zukunftskern.
An
dieser Wunde umgestülpt,
verkehrt,
zieht sich die Zeit hinab,
von
nah zu fern verzerrt, ein bunter
Blitz
durch helles Sein, des Werdens
Schwall,
empörtes Nichts, gestörtes
Licht,
des Ewigen Ernst und Spiel in
Prüfung
und Gericht. Denn sieh:
Nach
der Ewigkeit -
erinnern
sich die Seligen, die in der Brandung der Zukunft baden,
die
in der donnernden Stille, dem Schlußakkord aller Sinfonien sich vereinigen,
in
der Woge des Friedens, die hereinbricht über die Seufzer der Liebe,
himmelfrei,
gottkonzentriert, schöpferische Keimperlen in Muschelparadiesen
voll
der Lust, die Erkenntnis der Lust der Erkenntnis zu sein, -
an
das Schmerzenskorn, um das ihr Perlmutt sich geschichtet,
an
die Schmeißfliegen, deren Gold sie gesammelt,
an
die blutige Nacht der Geburten,
die
Schlacht allen Fleisches um Zeit, ach die Zeit!
und
neigen sich in Wehmut und steigen hinab,
vor
allen anderen noch zu verderben,
vom
jüngsten Gericht bis an den Anbeginn der Tage
als
die letztesten der letzten noch
verurteilt
und verachtet zu sein. -
Der
Himmel und Götter und Engel verzückteste
Sehnsucht
heißt sterben, zerreißen im sinnlosen,
sinnlosen
Taumel des irdischen Wahns.
Nach
der nimmerendenden Ewigkeit, die sie sind,
dürfen
sie das Unmögliche begehen – sie wissen selbst nicht wie,
so
beginnt ihr Sturz, ihr Erinnern, Verzweifeln:
sie
wissen nicht wie – in menschlichen Qualen
zu
brennen, in Schande und Scham, zu zerstäuben,
Asche
zu Asche, der letzte Dreck. -
Das
ist der Stoff dieser Welt, die du siehst und kennst.
Hendrik
hatte, als er den Blütenbrief in seinem Kellerkubus las und musikalisch
hineinhorchend auslotete, eine gewisse Zeit gebraucht, sich an das Pathos
und die fast aufdringlich-vertrauliche Metrik der Worte zu gewöhnen,
aber auch dann war noch eine peinliche Berührung in ihm zurückgeblieben.
Woher wußte sie von seiner Beschäftigung mit Grünewalds
Visionenaltar, von den analytischen Rollenspielen der beiden Freunde? Da
hatte Wolfram wohl aus der Schule geplaudert. Wie die beiden ihn nun zwischen
sich einhakten, eine Nähe, die ihn ein wenig befremdete. Aber das
war es nicht.
Ja,
was wollte sie sagen mit dieser Skizze? Was wußte sie wohl? Was ahnte
die alte Freundin? Er versuchte sich zu erinnern, wie die beiden ihn im
Café entdeckt hatten, wie sie in seinen synästhetischen Versuch
miteingestiegen waren, als sei es das Selbstverständlichste von der
Welt, die Schriften der Bewegungen, Melodien, Flechtbänder und ihrer
Deutungen so ineinander zu übersetzen, als bildeten ihre Sprachen
einen durchlaufenden Kreiswirbel von Tanz in Musik, von Melodien in Kalligraphie,
und von deren Chiffernschrift wieder weiter in Gestus, Klanggewebe, Ornamentik,
in immer fortlaufenden Übertragungsschritten.
Aber
im Grunde hatte sie still dabei gesessen, während Wolfram die Schichtung
der Analogien auszumessen versuchte, der Übersetzer und Theoretiker
in der Runde. Sie hatte mehr versonnen dreingeschaut, war ihm aber wohl
auf der Spur, empfand da vielleicht etwas von den Regungen, die in seinen
Inspirationen keimten, von diesem Eistanz, der sein Herz schliff und zersichelte
wie ein Violinsolo. Fühlte sie das mit ihm, konnte sie das in ihm,
mit ihm, durch ihn hindurch wahrnehmen?
Oder
war es schlicht ihr bildnerisches Vermögen, das schon die leisen Nebentöne
aus Hintergründen in solche Parabeln verwandelte und mit dem metaphysischen
Extremismus, in dem sie noch einen Wolfram mit Schafsfellen überkleidete,
zu eschatologischen Rätseln aufblähte?
Nein,
auch das war es nicht, was ihn berührte, verstörte, verwirrte.
Nein – obwohl – warum wehrte er sich dagegen? Vielleicht traf sie doch
den Nerv seines hingerichteten Selbstwertgefühls, übertrieb es
ins Überpersönliche, Unpersönliche, Allgemeine und wendete
seinen Schmerz durch die Spiegelung an der Kristallsphäre in Ekstase.
Wollte sie wirklich ihn, den zertretenen Wurm, mit den himmlischen Selbstopferern
identiSHAN SZI ieren?
Oder
war das ihr eigenes Erleben, der Sturz, als sie den Händen ihres verirrten
Seelenhirten entglitt? Oder war eben der gemeint? Wer ist es, der die Sternbilder
vom Himmel auf die Erde herunterreißt und sie als Teppiche zertritt?
Ach Lischa, ich erwarte, daß du mit mir fühlst, und nun kann
ich nicht unterscheiden, wer hier mit wem durch die Sphären hinablodert.
Andere
wirbeln durch den Äther, kam ihm in den Sinn, andere gleiten an der
kristallenen Wölbung durchs Blau – nein uns, die wir als Regenwürmer
den Dreck durchfressen und in Erde zu verwandeln suchen, uns erscheint
der Tod als der Wirt der Vielen. Eine Herberge nimmt uns auf; Frau Wirtin,
die holde, hat große Zähne. Wölfin und Wolf überzeugen
uns mit Fleiß, daß wir ihre Nahrung sind, da wir ja alle einander
nähren. Aber wißt ihr denn, was das bedeutet, den Biß
der Meute im Nacken zu spüren, das lähmende Grausen, zu zerfließen
wie Wachs? Wißt ihr, was das heißt, seine Knochen zu zählen?
Rege
webt im Lebensasyl -
Lysas
Nebelmitbeweger,
DhEINrich
........
Der
Abgesang des Einsiedlers kann den Gast nicht beruhigen.
Kennt
er doch Gewächse, die noch die Kräuter des alten Asketen übertreffen
an Bitterkeit:
All
das Zeug, das sich süßlich gibt
und
in Wirklichkeit nur glimmend verfault, vor Fäulnis phosphoresziert.
Nun
ja, vielleicht ist das mitgedacht in seiner Materie,
oder
gerade das ist gemeint.
Gut:
Auch hinter dem Abgestorbenen stehen willentliche Kräfte
-
aber wessen Willen? -,
Bewußtseinsprozesse
-
und wessen Bewußtsein? -,
die
sich gerade darin auswirken, zu verzichten,
keine
Eigenheit anzumelden.
Verborgenes
Sichverbergen.
Substanzieller
Spiegel.
Nun
aber
-
wessen Spiegel!
Vielleicht
sind wir selbst diese zu Boden geschleuderten Flammen,
aber
so kennen wir uns nicht.
Vielleicht
ist es der verdrängte Schmerz dieser Selbstverleugnung,
der
uns dann doch in die Anerkennungssucht treibt,
in
die Raserei, wirklich werden zu wollen,
da
wir empfinden, daß wir nun nichts mehr sind.
Die
ekstatische Selbstzernichtung der Ewigkeits-Übersatten -
was
ist sie mit irdischen Augen gesehen denn anderes
als
der
blinde Anfang unseres "Wir wissen nicht, woher wir kommen"?
Vergangenheit
ohne Bewußtsein eines Vergangenen,
wie
Asche ohne die Glutwärme ihres zeugenden Feuers.
Wir!
Ich! Marktgeschrei billiger Selbstanbieter.
Schatten,
die danach hungern, Licht zu werden,
die
ihren Hunger als Befriedigung und ihre Blindheit als Licht deuten.
Ein
Wahn, der die Sonne der stürzenden Götter überdunkelt,
der
schließlich deren Opfer mitleidslos, ohne Erkenntnis und Identifikation
erst
zur grausamen Vollendung bringt.
Und
so sind wir sie nicht, können wir sie nicht sein,
sind
nicht jene Flammen, die sich zu unserer Substanz verzehren;
nein,
wir sind nicht unsere Existenz, sind nicht wir selbst.
Wir
sind gar nicht!
Wo
wir sind, sind wir nicht wir.
Und
holla!, was ich von allen Seiten höre, dieses: "Wir werden ja erst"?
Anmaßung!
Ein einziger Diebstahl!
Verkehrte
Welt:
Antonius:
Nach
der Ewigkeit -
vergessen
sich die in aller Vergangenheit Verlorenen,
die
im leeren Lärm, im zischenden Applaus der Millionen sich winden,
Gedärm
von Gelächter durchzuckt, von Witzen gekitzelt,
schal,
fahl, Schalala, Hahaha,
Pa,
sieh da den Vater der Lüge,
Pi,
den Sohn des Strahls und der Halbwelt,
Pu,
den Gewinner mit
Po
dem Doppelten,
Pö,
ihre Wenigkeit, immer zuviel,
und
das Quid und das Quale, und immer in Schale,
und
schal, und fahl, und Schalala, Haaa,
und
weil es so schön war, noch einmal von vorn,
noch
einmal von hinten, noch einmal von vorn.
Vergiß
es, vergiß es, vergiß es, vergiß. -
Wie
kann man vergessen. -
Und
sie dreschen und brechen, zerschlagen ihr Schlagzeug,
sie
steigen im Zorn und sie preschen empor,
zu
siegen, zu blühen durch alle die sieben
die
Sinne, ein richtiges Leben, sieh da,
die
Sterne wie Sonnen, die Explosionen,
so
reich und so kräftig und herrlich, oh ja:
die
erste Sahne, Rang und Namen,
Ruhm
und Samen auf ewig, Amen. -
Das
ist das Spiel dieser Welt, die du siehst und kennst.
Paulus,
der alte Wolf, verstand ihn wohl und ging gut mit, als Hendrik in der "Oase",
in der eben von ihm noch besungenen "Totenherberge", seine Antonius-Versuchungen
offenbarte, schlug zunächst nur die verschiedenen Becken in jazziger
Komplexität, in der lockeren Unregelmäßigkeit einer schwebenden
Dauerspannung, ließ ihr Silberrauschen zu einem blendenweißen
Zischen anschwellen und die Gischt überströmen, ohne Hendriks
von kurz-abgehackten Gitarrenfloskeln untergliederten Sprechgesang allzu
grell zu übergleißen.
Doch
im Publikum war von Anfang an eine gereizte Unruhe zu spüren, Zwischenrufe,
Gelächter, Versuche, durch vorzeitiges Klatschen einen Abbruch zu
provozieren – in grotesker Weise dem Vortrag des "Spiels dieser Welt" so
gemäß, als beschreibe der türkisene Einsiedler vorne nur
das allgemeine Wir oder Ihr der Hörer; und durch die letzten Steigerungswirbel
Wolframs fühlten sich wohl einige weiter hinten im Raum zu einem Klatschmarsch
mit Fußgetrampel, Johlen und Pfeifen, zu einer Rakete also veranlaßt,
wie sie auf Karnevalssitzungen üblich ist, wobei die schwarzen Herren
am langen Tisch sich beflissen Notizen machten, die goldbestickten Narrenkappen
vorgebeugt, ab und zu tuschelnd, kopfwackelnd, gewiß Negatives bejahend,
Positives verneinend in ihrer außerirdisch anmutenden Kommission.
Und
als sei es nicht genug mit der obszön-selbstverliebten Apotheose des
Publikums, fiel nun mit dem Schlußsatz vom "Spiel dieser Welt" Wolfram
vom Hocker und riß das laut flirrende Schlagzeug mit unter lautem
Geschepper und noch lauterem tosendem Gelächter der Fans. Fluchtartig
verließ Heinrich die Bühne.
Ein
leichtes Schwindelgefühl hatte ihn erfaßt, eine Flauheit, die
er mit Mühe zu verdrängen suchte. Kalter Schweiß, ein Kribbeln
in den Fingern; es würgte ihn, er wankte zum Spülbecken, mußte
sich übergeben. (Die Blätter scheinen durch, die Szenen werden
einstimmig, déjà vu, überschneiden sich, Cuillaut, siehst
du's? Das ist wieder der Vorabend des Oasenspektakels, also Heinrich in
seinem Klavierkellerkubus. )
Körperlich
etwas erleichtert, als er sich hinlegte, zog er sich die Wolldecke über
die Schultern und schloß die Augen.
Die
Antwort – in etwa also das, was er am folgenden Tag vortrug – fetzte er
auf die Rückseite eines Januar-Kalenderblattes; die Vorderseite zeigte
einen Kopf mit zwei voneinander abgewandten Gesichtern. Vorsichtig knickte
er es längs der Symmetrieachse zusammen.
Nein,
das gefiel ihm nicht, diese tautologische Gleichartigkeit der beiden Profile,
diese magische Zwanghaftigkeit.
Die
Härten der symmetrischen Spiegelung beschäftigten ihn, quälten
ihn, Sätze zu bauen, die vorwärts wie rückwärts gleichklangen,
hinauf-hinab die gleichen Buchstaben brachen mit dem Gewicht ihrer geballten
Unwichtigkeit, Sisyphoszwänge, Ixions Gezeitenmühle, Katharinenbeweise
und Gegenbeweise im Geräder einer sinnlosen Logik: "Sei dies Euer,
sei es teuer, eben Elisen Eris -, und nu – Sirene Silene bereuet; sei es
Reue, sei dies..." – verräterische Sprüche eines angeknabberten
Lebkuchenherzens.
Die
plötzliche Botschaft der Freundin, ihr verblüffendes Antwortspiel
zum Schweigen des harten Glanzes, der sich ihm mit undurchdringlicher Verschlossenheit
offenbarte – diese beiderseitige Ergänzung, als seien sie die einander
widersprechenden Interpretationen eines einzigen ambivalenten Orakels,
überforderte ihn ebenso wie sein eigener Versuch, Zukunft und Vergangenheit,
Erinnern und Vergessen, Himmel und Hölle in seiner Bewußtseinsgegenwart
zusammenzubinden.
Der
Schlaf erst löste den Bann.
In
der ersten Morgendämmerung wachte er auf, noch angekleidet, schwitzend
unter der Decke. Ja, das war es, was ihn weckte: Eine Amsel sang, in der
Ferne antwortete eine andere, und die erste wieder und wieder anders die
andere, in immer neuen Strophen.
Das
schien ihm unbeschreiblich schön, wandelte seine Verzweiflung in ein
wehmütiges Entzücken. Vorsichtig öffnete er das Klappfenster,
lauschte hinaus, verfolgte das Wechselgespräch, die Zwitscherwalze,
wie sie sich die Straße entlangdrehte, trank mit staunendem Mund
die zärtlichen Wunder des Vorfrühlings.
Der
Frühling, ja: die Mitte zwischen den einander umkreisenden, einander
umwindenden Extremen des Briefes und Gegenbriefes. Kommt ein Vogel geflogen,
schwarze Botin, singt mir ein Lied, daß ich schier vergeh, mich ringle,
zurück in den Boden zu kriechen, da flattert ein anderer Bote vom
Himmel herbei, singt der ersten ein Lied, daß sie schier vergeht,
schon flattern die schattigen Sänger davon.
Wie
es keimt, ergrünt, von Wassern aus dunklen Rätseltiefen genährt,
erfrischt vom Gesang der gefiederten Schwestern: So durchdringen sich Asche
und Erde des himmlischen Opfers, der hinabgestorbene Stoff schmerzlicher
Erinnerung, der zersplitterte Leib der Göttersöhne – ja, so ließ
es sich hören und deuten – mit schwarzer Feuchte, mit morgendlichem
Tau, neu aufzusprießen in zarten Bildern von Sternen und Sonnen,
sichtbaren Gesichtern des unsichtbaren Lichtsaftes.
Ein
Spiel aus seiner Kindheit fiel ihm mit einem Male ein, wo ein Papier so
gefaltet wurde, daß es über die Finger einer Hand gestülpt
sich auf zwei verschiedene Weisen öffnen ließ und so mit den
zwei senkrecht aufeinander stehenden Lippenpaaren seines innen bemalten
Maules einmal den Himmel, einmal die Hölle mit vier Flächen auftat.
Das
war es. Er raffte sich auf, holte einen Wasserbecher und öffnete den
neuen Aquarellkasten, die Farbtöpfe noch sauber gefüllt mit konvex
glänzenden Oberflächen, eine Klaviatur frischer Töne von
Gelb über Rot zu Blau und Türkis; nun begann er mit dem nassen
Pinsel leicht über das scharfdunkle Rot zu streichen, wollte nur ganz
ganz wenig davon aufs Papier nehmen, ein zartestes Rosa. Dann zeichnete
er mit gelblichem Grün einige Andeutungen sprießender Halme
und Stengel zwischen die blaßblühenden Zungen, halt, Vorsicht,
genügen diese vier fünf Striche nicht? – aber dann gab er doch
der Versuchung nach und tuschte mit sattem Pinsel einen tiefschwarzen Hintergrund
um die grünenden und rosigen Frühlingsvorboten, ein Meer von
Nacht. Und so schrieb er seine Antiphon auf die Rückseite des Aquarells.
Er umfaltete es kompliziert mit Packpapier – braune Schale um ein süßes
Innenleben, wohl noch innerhalb der erdigen Samenanlage unter gefleckten
Kronblättern zu denken, die sie ihm zugesandt hatte, gewissermaßen
ein Weiterschreiten in den Kern ihres Blütenbriefes – und steckte
diese papierene Frucht dann in seinen Mantel. Er wollte es nicht als Brief
zusenden, sondern ein wenig abwarten und es Elischa bei Gelegenheit selbst
in die Hand geben.
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15.
Die Wellenreiter
"Knospende
Keimkraft, – ist das nicht eine Frage der Zurückhaltung, der Fähigkeit,
verhüllende Pausen zu setzen, im doppelten Sinne: eine Frage des Takts?"
Um
sie die milchigen Papierwände, deren Fachwerk saubere Linien bilden,
die sich durch die lichte Milde des Raumes zeichnen. Seitlich in einem
Krug einige Kirschzweige, die sie ihm mitgebracht hat, und ein singender
Teekessel auf dem kleinen Ofen.
"Die
Sinne spannen sich als ein einziger Vorhalt, vorläufig ist ihre Befriedigung,
Scheinschluß nur; sie brechen in immer neuen Spannungen auf: Die
Augen, die Münder, die Ohren eröffnen ein einziges Fragen, Bitten,
Suchen, Streben, Verlangen – doch hier, eben hier, eben noch im Überschlag
der Woge zur Brandung innezuhalten: Seufzer, Tränen und Lachen vor
deren Ausbruch in sich zurück zu wenden – treibt nicht eben dies den
Saft in ein inniges Blühen, verwandelt, bezaubert, spricht -"
Da
verschließt, umstrafft und öffnet sie seine Lippen mit ihren
offenen, straffen, nun zärtlich sich schließenden Lippen, tastet,
liest und nimmt seine Frage mit ihren Zähnen, ihrer Zunge von seiner
Zunge, seinen Zähnen behutsam ab und löst sich wie ein Sperling,
der vom Gezweig abfedert, von seinem Mund; und gleichsam aus dem elektrischen
Teich des Schlafs wieder auftauchend in sanften Vereinigungsblitzen, vokalisch
umfärbt, konsonantisch umformt im Gliederspiel seiner Silben, tastet,
liest, vernimmt sie ihn -
"-
verschlossen wie all die Briefe, die du an ihn zurückschickst, treibt
dein Schweigen seine Liebe nun in den vollen Frühling. Man könnte
meinen, dann beginne es erst, dann entfalte sich sein Rausch erst in voller
Fahrt und reiße dich mit, da, Achtung!, der Schaumkamm bricht schon
von oben über dich herein – doch du gleitest, du schießt in
gerader Bahn trocken dahin auf der Woge alles Zeitlichen, ein nicht endender
Blitz vor dem donnernden Staunen der eifernden Geister und geifernden Gischtfetzen
- das nenne ich – ja, das nenne ich – -"
Bei
den letzten Worten Kurinshorus, ihres listigen Freundes, blickt sie ihn
fast ein wenig verblüfft an und gibt einen kurzen hohen Ton von sich,
als sei dies das Wort, das er sucht.
Cuillaut,
das ist geil, was für gymnastische Übungen Iris in Hendriks Imaginationen
vollführt, huaaah, hör dir das an: Sie sitzt auf dem Schoß
des Meisters, gestützt von seinen im Lotossitz auf die Schenkel geflochtenen
Füßen, umschlingt seine Hüften mit ihren bis obenan bestrumpften
Beinen, doch ihr weites Kleid, vom Oberkörper bis zur Taille hinabgestreift,
überfließt dies innige Gliedergeflecht mit einem faltigen Meer
flaumigen Stoffs. Ihre Hände kreuzen sich hinter seinem Nacken, die
Finger in gelassener Eleganz um den silbernen Samtschädel des Alten
gelegt, doch mit einem leichten Zucken berühren ihn unwillkürlich
ihre Brustspitzen, und hin und wieder rollt ein ruckendes Zittern durch
ihren aufrecht gespannten Leib. Seine Fingerspitzen gleiten in kaum merklicher
Berührung ihr Rückgrat entlang, vom Kreuzbein durch alle Farben
der Erregung bis zu ihrem Scheitel hinauf, schauern dort über ihren
aufgelösten Haaren weich auseinander, schwimmen rasch hinab und tasten
kaum, schweben fast in verschwindend leiser Berührung erneut die süße
Spur im Glissando der Nervenharfe hinauf.
"Ja,
da lachst du.", deutet er mit merkwürdiger Kenntnis ihrer Gemütsregungen
dieses kurz abgerissene Stöhnen. "Damit mußtest du rechnen.
Schau mal, sie sind Kinder und spielen wie Kinder mit den ernstesten Dingen,
treiben blühende Scherze mit der Gewalt der Götter, rufen für
ihre Spiegelphantasien nichts geringeres als den Namen der Ewigkeit an.
Mutwillige Spielerei mit dem Ernsten.
Du
kennst anderes. Du machst Ernst mit dem Spiel, du arbeitest damit, du schmiedest
es um und um in der Esse deines schmerzhaften Fleißes. Wie verglühte
nicht all deine Scham in diesen verzückten Momenten der verrückten
Entgeisterung eines heißen, spitzen Publikums, wo dir die jauchzende
Angst wie eine stramme Hand in die Glieder fuhr, der süße Schrecken
dich peitschte wie einen Kreisel, sssjuuuh, dich lüpfte, schwerelos
- da begann sie über dich zu brechen, die allseitige Welle, – aber
etwas in dir war klug. Im wildesten Anfall der zuckenden Lust, da bist
du gestürzt, eine Sternschnuppe durch die Himmel – so entkamst du
dem tosenden Ende. So schießt du dahin, gleitest entlang an der hochgeneigten
Wand des immerwährenden, immerletzten, immerzu gleich herüberbrechenden
Elements, entlang an der gediegenen Spannung des Vorhalts, an der Pause
vor dem Drohen und Dröhnen des Schlußakkordes. Das erreicht
dich nicht mehr, du fliegst, du biegst durch die Sonne, du siegst.
Aber
hier diese Seelen, nun, sie spielen wie Spatzen, sie picken das kleine
Gebrösel vom Boden auf, das du ihnen da nebenher einmal hingeworfen
hast; sie werden davon schon satt und zwitschern beseligt durch die blauen
Lüfte. Gewiß, das ist schön, und dein Lächeln geht
darin auf:
Des
Himmels Zeichnung treibt den Fernen zu,
der
Vögel Zitterwellen ohne Leid."
Er
lächelt, steht nun auf, noch eng von ihren Schenkeln und Armen umschlungen,
umfaßt ihre Taille, um sie nun leicht von seinen Hüften zu heben,
frei schwingt die weiche Glocke um sie, als er sie hoch über sich
hält und dann sachte zur Seite niederläßt, wo sie sogleich
aufmerksam ihre Beine unterschlägt, und er setzt sich zum Ofen und
prüft den Tee.
"Jaja,
da gibt es doch noch ganz andere Spieler, hell strahlen sie aus von den
Polen der Klugheit und Macht, wie eisige Kristalle, kantig und klar, paß
gut auf, mein Mädchen! Man sieht durch sie hindurch, das ist es ja
eben. Und die spielen den Meister auf der Orgel des Lebens. Sie fangen
uns alte Satyrn und Immengärtner ein und ziehen uns durch ihre gläsernen
Apparaturen; sie versklaven die lieblichen Feen, fesseln, blamieren, karikieren,
prostituieren sie. Die Säfte der Liebesgötter zischen durch ihre
Leitungen, schießen aus ihren Düsen, sie schäumen über,
verrauschen, zerplatzen – der Millionen Spiegelwelten Ende und Vergessen.
Das trocknet ein, man kratzt die mürben Krusten ab, man spült
sie fort, reinigt erleichtert Kolben und Becken; dann sucht man neue Säfte
für neue Versuche – tja, sieh dich vor, daß dich nicht eines
Tages diese Brandung überrollt! An dem Tag, sage ich dir, wirst du
erstarren, kristallin wie ein ausgefälltes Salz im Reagenzglas. Verstehst
du mich, was ich meine und wen? Den Nachtclubhengst, ja den auch, aber
mehr noch den Schmeichelpfarrer: diesen Chemiker dort. Stimmt, den kenne
ich gut. Und wie ich ihn kenne! Na, siehst du -", er räuspert sich
verlegen, "der ist mein Schüler."
Der
Meister, Kurinshoru. Das ist der einzige Mann, der sie wirklich in Erstaunen
setzt, der einzige auch, der solch eine Regung überhaupt bei ihr erschließen
könnte, aus den Umständen, kausalmechanisch, nicht psychologisch
aus ihren Mienen. Schließlich blickt sie ihn ja weiterhin so, wie
Göttinnen zu tun pflegen, mit unbewegten Augen an, zuckt nicht einmal
mit den Wimpern, sogar ihre Hände verraten nichts. Nein, sie sagt
es schlicht, flach, es klingt bedeutungslos: "Da bin ich aber geplättet."
Natürlich ist sie das. Was soll sie auch anderes sein.
"Jetzt
fehlt nur noch, daß ihr untereinander meine Telephonnummer verhandelt,
mir Freundschaften und Feindschaften zuschanzt, daß ihr mich Zweite
in den bayrischen Eiskunstlauf-Meisterschaften habt werden lassen, ttth
- der Witz einer Monopolykarte: Ziehe von jedem Spieler vierhundert Mark
ein. Bin ich also euretwegen gestürzt?"
Wie
schnell sie die Dinge auf den Punkt bringt. Sie springt auf, zieht das
Oberteil des Kleides wieder über die Schultern, schließt es
vor ihren hohen Brüsten und bindet ihr Haar zu einem Pferdeschwanz.
"Ja, das fehlt noch, daß ihr von beiden Seiten die Schlüssel
zückt, und mich wollt ihr öffnen wie ein Schloß. Sieh an.
Da strickt ihr Moleküle, Zaubertränke, Seelenverwandler, er auf
der chymischen Hochzeit, in vitro, du im Innern, durch Dressur meines Körpers.
Laß mich weiter raten. Daß du deine Botschaften in Pflanzen
und Pilzen versteckst, und die Findigkeit des Forschers auf der Tagseite
erweist sich dann darin, diese Agentenbriefkästen lernend aufzuspüren.
Alles ist voll von euren Doppelblindversuchen. Also nun gib es doch zu:
Ihr habt mich eingesetzt, um den kleinen Komponisten auf Herz und Nieren
zu prüfen, nun? "
Er
steht auf, wendet sich von ihr, die in ihrer Kleidblüte mit gespreizten
Beinen auf Zehenspitzen vor ihm steht, höflich ab, um sich in seine
seidene Decke zu wickeln, und hört doch deutlich das Rascheln des
Stoffs, wie sie die baumwollene Haut unter ihrem weiten Kleid über
die bestrumpften Schenkel streift, und die feinen Schnappgeräusche,
als sie die elastischen Ränder ihres Schlüpfers auf Hüften
und Beinansatz flitschen läßt -
"Ja,
das ists!", sagt er kaum vernehmlich leise, fast nur zu sich selbst, aber
sie hört ihn um so besser, "Hast du das auch gehört? Diese Feinheit
verbirgt sich leise im Lebenskeim, diesen Laut suchen alle Münder
mit Lippen und Zungen zu küssen, in seiner Heimlichkeit verrauscht
diese ganze Brandung um dich her, deren Wogen brechend sich vor ihm, zu
ihm hin, um seine Drehachse herum neigen, darin erschließt sich,
indem du es umschließt, dein ganzes Geheimnis in einem einzigen Punkt,
in einem verschwindend feinen, zärtlichen -"
Oh
ja, sie hört es raumlos-trocken: Da ist etwas wie das Zerplatzen einer
Seifenblase – eben. Also auch du, Kurinshoru, mein Meisterchen du!
Mehrere
Möglichkeiten blitzen augenblicklich in ihr auf, die sie ins Langsame
dehnt, zu quälend vertonten Kriminalfilmen auseinanderspannt, voneinander
isoliert, vor sich ausbreitet. Die Patiencen des kaltgenossenen Zorns.
Und
was tut dieser falsche Kommissar in seinem seidenen Drachentuch? Er verbeugt
sich tief, bietet ihr Platz an, schenkt schon wieder Tee ein, blinzelt
aus seinen tausend Augenfältchen, als sei da nichts -
"-
ganz genau, du begreifst schnell: fast ein Nichts. Das ist es! Das nehmen
wir, damit prüfen wir ihn. Mal sehn, ob er das aufschlüsseln
kann. Sieh an – er hat es gelernt, in dem letzten Staubkorn noch die Bahnhöfe
aufzufinden, von denen er zu Reisen in fremde Länder aufbricht, Einsiedlerwüsten
und Gärten mit sprühenden Brunnen, Muschelparadiese, alles findet
er in deinem -"
"Phhh!"
Sie zieht sich ihre Eisschuhe an, hier auf der Matte im japanischen Teeraum,
was will sie damit? Kurinshoru kennt sie und gürtet sich schon.
Sie
steht bereit: "Und wie deutest du das?"
Sie
schwingt sich mit einem katzengeschmeidigen Sprung hinein in die Papierwand,
und nicht allein – er hält ihre Taille umgriffen und fliegt mit ihr
durch das Niemandsland der milchigen Fläche, und als die dünne
Lichthülle im schneidigen Schriftzug unter ihren Kufen aufreißt,
da gibt das einen Ton – nein, nicht wie ein zerfetzender Lampion, wo denkst
du hin? – nein, es ist – eine zerspringende Seifenblase, fein wie das Schnappgeräusch
eines elastischen Gummibandes, wenn -
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