10. Das Brot    
        
    Per aspera. – Natur, die erste Ärztin, verordnet eigene Kuren. Sie arbeitet mit Zangen und Feuer. Schlaflosigkeit und ein Nagen im Bauch, ein Würgen in der Brust verzehrten den alten Adam. Ihm dämmerte langsam, daß er seine Rolle, seine Person selbst in die Hand zu nehmen habe, um Wirklichkeit zu schmieden.   

    Er stemmte sich ihrem Charakterbild, der Stempelprägung in seinem Gedächtnis heftig entgegen, – das vertiefte den Abdruck. Er stieß sich von ihr, der diamantenen Schärfe in seiner Erfahrung, schmerzhaft ab, – indem er die Härte, den Anspruch, ihre ichzentrierte Kraft sich einzuschleifen versuchte. Heilung suchte er in der Verwundung selbst, das führte ihn durch einen höllischen Himmel, eine stolze Verzweiflung, einen klaren Wahn. Ich gebe zu, es läßt sich nicht fassen, nicht beurteilen, nicht entscheiden, ob das falsch war oder ein Lernschritt. Ich weiß es nicht, ich wußte es nicht und konnte ihm auch nicht raten.    

    Er fiel gewissermaßen über sich her: Bart ab und Haare kurz; in der nächtigen Frühe wand er sich aus dem Bett, aß nichts, trank klares Wasser. Ein Zorn zerriß die Spielerei, eine Zeit später erst durch lächelnde Nachsicht gemildert, darin verborgen ein asketischer Kern. Mein Freund war ernst geworden, seine Scherze verstotterten oder waren bitter. Er schrieb eine Reihe von Stücken nieder, die er schon früher entworfen hatte, jetzt wollte er sie auf dem Papier sehen, Produktion, Werk, Niederschrift.    

    Dann versiegten seine Eingebungen, vielmehr: Er jätete, brach um, verschnitt sie. Sarkasmus zerriß die improvisierende Beliebigkeit, eine Zeit später erst zu Selbstkritik gemäßigt, darin verborgen ein prophetischer Kern. Mein Freund war über Nacht religiös geworden, wie ein Wahn brach Religion aus ihm hervor, Bilder und Haltungen setzten sich in ihm auseinander, sie kamen daher auf den polyphonen Wirbelstraßen seiner Seele, des Nachts, des Morgens noch vor der Dämmerung, Gespräch über Gespräch, ein Streit um Selbstbehauptung und Rücknahme riß in ihm auf, – wie sich überwinden und leben?    

    Tränen, Vorsatz, hinaus in die steinerne Stadt, Ding, Widerstand, die reale Substanz - Schnee schmutzig aufgehäuft, aufgeschmolzen in den Straßenschluchten, die eigene Welt, das einsame Zimmer, wieder hinaus, wieder zurück, dann zu mir.    

    Oeheim, waz wirret dir? Der Liebende ist immer im Recht.    

    Ich wartete ab, bis er verlegen aus seinen Tränen hervorlachte. "War ja nur ein Scherz mit mir. Das Experiment. Ich weiß nicht, was sie an mir gefunden hat. Ich kann auch nichts finden. Was bin ich denn? Ich wollte die erste Geige spielen, und es kam nur ein Krächzen. Verstehst du mich? Nein, ich  – also zum Beispiel hier das Papier: Wie schön sind die weißen Blätter, bevor ich sie vollschmiere. Oder: Stille ist endlos schön, das Läuten des Schmelzwassers in der Regenrinne, die Piepser der Meisen, ihr aufgeregtes Zwitschern, wenn sie vom Zweig herabflattern, das ist wahre Musik. Nicht dieser Schrott, sieh dir das mal an!"    

    "Ich kann doch nicht Noten lesen, Heinrich. Ist das nicht eine Menge Arbeit? Fleißig, fleißig!"    

    Aber ich ließ es mir am Nachmittag vorspielen, als ich ihn besuchte. Er wohnte in einem Kellerloch, mit etwas Tageslicht durch eine Fensterluke. Der Herd, ein Schreibtisch, das Bett und ein großes schwarzes Klavier füllten den kleinen Hohlkubus des Zimmers ganz aus. Nur wenige Bücher und Platten.    

    Besuchen, das hieß Mate kochen am Küchenherd und mit Milch mischen, Tassen spülen. Ich bequemte mich endlich in den Sessel neben dem schwarzen Kasten, meinen Teepott auf dem Herd zur Rechten, und lauschte.    

    Das war ja völlig tonal, sieh mal einer an, der Kompositionsschüler auf trivialen Abwegen. Wildes Stück, rhythmisch vertrackt, brutal. Und dann war er auch kein Virtuose, also es war schon eine Zumutung. Eine offene Einleitung, ein rockiges Riff, Knochenarbeit für die linke Hand, während die rechte gegen den eisernen Wiederholungsstrom anschwamm in den Quinten und Sexten plöriger Dreiklangsauflösungen, dünn über dem Treiben wie Flageolettöne.    

    Ach so, nur eine Scheintonika, in Wirklichkeit Dominante, lang vorgehaltene Spannung zum folgenden, dem aufdringlichen Hoppla-jetzt-komm-ich eines blockartig gefügten Sequenzenmotivs ohne Text, wohl ein Sauflied oder sonst eine Art malum carmen, aber da war eine Verschiebung eingebaut, das Motiv kam immer früher als erwartet.    

    Ja, so ist das hier, ein gehetztes Gephrase, immer kommst du zu spät, patsch, bevor du es bemerkst – schon haben sie dich. Da tönte mir unverhüllt das schwarze Kubusherz dieser städtischen Wüste entgegen: Alle machen ihren quadratischen Umgang und küssen den harten Stein.    

    Es hatte etwas Gequältes, maschinell fortgetrieben in permanentem Tonartenwechsel, immer der gleiche Übersteigungsschritt, und damit auch eigentlich unmelodisch, unsanglich. Der Clou bestand darin, daß das konsequent mit seiner Verkürzung durchgetriebene Motiv erst in einem schnellen Dreiertakt mit Punktierungen durchgeschleudert wurde und dann, vor der Strophenwiederholung, breit in einen Vierertakt gepackt war, wo es vollends seine Banalität aufmauerte, ein Klischee zum Quadrat, hoch drei, sie schwenken lallend die Humpen, hoch vier, ein Bier für den Mann am Klavier.    

    Natürlich konnte ich Noten lesen – Dechiffrierung ist nun einmal mein Beruf -, aber das gab ich ihm nicht zu. So machte es viel mehr Spaß. Er mußte also Überzeugungsarbeit leisten, nicht mit Theorie, sondern durch die Sache selbst. Kollegiale Nähe würgt jedes Gespräch ab mit ihrem "Wie wir ja alle wissen" und "Ach das kennen Sie ja schon". Warum waren denn die Künstlerkollegen im kritischen Austausch so unfruchtbar? Sie mußten ja keinen Laien überzeugen. Vor mir nun brauchte der liebe Kerl keine Puristen- und Analytikerangst zu haben, und so kam mir das ganze zusammengestauchte Lallebei, diese herrliche Verletzung aller Wettbewerbsgeschmäcker zu Ohren.    

    Na, wie wollte er wohl das Ende bringen? Oder sollte etwa noch eine dritte Strophe kommen? Nein, die viertaktige Passage baute er jetzt aus zu einem endlosen Sequenzenmuster über die ganze Tastatur, nur die dynamische Klanggebung und die rhythmische Füllung variierten, changierten, schwankten leicht. Eine absolut konsequente Tapetenformel, sieh an, ein Mantra, ein Hare Krishna mit der Offenbarung von "Wie wir alle wissen" und "Ach das kennen Sie ja schon". Gelungen, gelungen.    

    Er lachte sogar ein bißchen, also war er sich wohl dessen bewußt, was er da tat. Dann kehrte der bleichrote Schmerz zurück in seine Miene.    

    Der Verliebte, der Liebende, auch da wo er Unrecht tut, und sei es, daß er seinen besten Freund mit kalten Tränen bekleckert oder mit Zornausbrüchen versengt, sei es, daß er ihn mit seinem Klavier erschlägt, Heinrich! - der Liebende ist immer im Recht.    

    Erst barg er sein Gesicht in den Händen, dann sprang er plötzlich auf und war nahe daran, sein Blatt zu zerknüllen, zu zerreißen. Ich versuchte ihn mit dem Tee abzulenken, reichte ihn hinüber, er sollte nicht kalt werden, und stotternd begann er, mit der Tasse in der Hand in seinen dreimaldrei Metern Freiraum hin und her zu wandern.    

    "Da hörst du's. Ich seh schon an deinem Gesicht, du hast es wohl verstanden. Ja, ich weiß, klingt alles bekannt. Solche kurzen Liedmelodien, die einem einfallen, können gut irgendwoher stammen, aus irgendwelchen Sachen, die man einfach vergessen hat, und dann meint man, das sei auf den eigenen Mist gewachsen. Ich weiß selbst nicht – was ist das? Du hast es ja gehört. Das ist – das, das sind -"    

    "Steine statt Brot." half ich ihm.    

    "Was kann man auch mehr erwarten!" lächelte er sauer und blieb vor der Fensterluke stehen. Ich wußte nicht, ob er mich damit meinte oder die eigene Schwäche. In das Bibelwort tauchte er jedoch sogleich ein, als stamme es von ihm selbst. Mein Freund war religiös geworden - ich sagte es bereits – Religion brach aus ihm hervor; es war Zeit, ihn an die Hand zu nehmen:  

    "Nun, wenn dich jemand um ein Stück Brot bittet, wirst du ihm dann einen Stein geben? Etwa so heißt es doch, gewiß. Aber Häuser baut man nicht mit Broten, sondern mit Steinen eben. Und das ist doch sehr klar gefügt, wie ein Bau, mit kristallgenauen Kanten, das hat schon seine eigene Gesetzmäßigkeit. Es ist sogar so, wie bei den Mineralien, wo etwa eine Ecke fehlt, und da wächst ein kleinerer Kubus in der Aussparung, und der hat selbst eine Bruchstelle und darin wieder einen winzigen Sproßkristall, und so fort. Nach dem Muster sollte man Gebäude setzen, das wäre doch überaus reizvoll, nicht wahr?"    

    "Aber du erwartest Brot. Und du hast recht: Der Körper baut sich nicht aus Steinen, sondern aus Nahrung auf. Die Seele braucht auch etwas zwischen die Zähne. Vielleicht sind schon die Gerüche und Geschmäcker eine Nahrung für sie. Die eigentliche, die richtige Nahrung für die Seele – ist das Schöne, das Reizvolle, das Erstaunliche, oder wie kann man das nennen, das Unfaßliche." Er setzte sich vor mich hin, aufs Bett, und rührte sich einen Berg Zucker in den Tee. Das ließ hoffen, daß er sein Fasten endlich aufgab.    

    "Seit wann hast du nichts mehr gegessen, Heinrich?"    

    "Ich glaube, seit über einer Woche. Aber ich habe keinen Hunger. Und die Empfindungen sind viel klarer so, die Wahrnehmungen und inneren Bilder, die Sinne. Und der Körper wird leicht, ein Anflug von Geist, von Schweben -"    

    "Ich glaub's dir, ich habe selbst schon mal vier Wochen lang gefastet."    

    "Wiebitte?"    

    "Das ist nicht schwer; der Hunger vergeht ja nach zwei Tagen, der Appetit stürzt sich dann auf die Sinne anstatt auf den Magen. Aber dann begann ich meinen Leib wie einen Dämon wahrzunehmen, beim Aufwachen; schlimme Alpträume: ich dachte, ich verliere den Verstand. Ich begriff zuerst nicht, wo dieses böse Getier herkam, das mich da umschlang – mein eigener Körper. Ich dachte ja, ich wolle mich vergeistigen, mir beweisen, daß die angeblichen Grundbedürfnisse und Nöte nichts über mich, einen freien Willen, vermögen. Auf der einen Seite diese wundervolle, ja, geradezu schwebende Leichtigkeit, auf der anderen Seite nun dieses brutale Geschlinge."    

    "Und wie hast du dich befreit?"    

    "Ich dachte nach und fand, daß ich einem Irrtum aufgesessen war mit meinem egoistischen Spiritualismus, also brach ich das Fasten."  

    "Aber der Getaufte hat auch gefastet."    

    "Und das weckte den Versucher. Sieh mal, diese Legende vom Dahingleiten auf den Fittichen der Engel. Das stimmt alles gut zusammen. Er war bei den Tieren, und die Engel dienten ihm. Ja, gewiß, aber würde das uns nicht in Himmel und Hölle zerreißen? Und er ging nicht in die Wüste, um seine Heiligkeit zu beweisen, sondern der Geist trieb ihn, wie einen Besessenen."    

    "Ich faste auch nicht aus Entschluß, ich bin krank, Wolfram. Ich konnte einfach nichts essen die ganze Zeit."    

    "Beginn doch wieder, Heinrich, ja beginn aus dieser Sensibilität heraus, behutsam etwas zu essen. Etwa indem du es so lange kaust, bis nichts mehr davon in deinem Mund ist. Sieh es vielleicht so – auch wenn fremd und zugleich phrasenhaft banal klingt, aber ich meine es ernst: Brot ist heilig, eine alltägliche Kraft, die sich in uns verwandelt."    

    "Weißt du, Wolfram, daß im Mittelalter die Menschen vom Brot Visionen bekommen konnten?" Er schaute mich etwas listig von der Seite an, eine eigenartige Reaktion bei seiner Verzweiflung und Traurigkeit. Offensichtlich beschäftigte ihn noch etwas anderes als seine unglückliche Liebe, damit verbunden oder dahinter versteckt, oder unabhängig davon.  

    "Jetzt gibst du mir Rätsel auf. Warum Visionen?"    

    "Weil die Menschen mit dem Getreide auch unwissentlich Mutterkornpilze mitvermahlen haben, die an den Ähren schmarotzten. Mehr oder weniger waren wohl ganze Landschaften davon betroffen, aber wenn das überhand nahm und zu oft geschah, wurde die Wirkung der Alkaloide des Pilzes für die Brotesser sehr unangenehm, führte zu Krämpfen und fürchterlichen brandigen Entzündungen, zum Antoniusfeuer. Die Antonitermönche haben Hospitäler für diese Krankheit geführt, die wie eine Epidemie auftrat, wenn das durch die Witterungsbedingungen vermehrt ins alltägliche Brot hineinkam."    

    "Ah, ich glaube, ich verstehe: Schließlich ist Antonius der Prototyp all der Mönche, Heiligen und Visionäre, die unter Verführungen und Versuchungen leiden, wegen seiner eigenen Schreckensvisionen."  

    "Kennst du den Isenheimer Altar?" Das war ein gemeinsamer Gedanke; ich hatte ihn gerade danach fragen wollen. Er reichte mir einen Bildband herüber und knipste die Lampe über meinem Sessel an; es dämmerte langsam.    

    Ja, ich kannte das Werk, diese Sinfonie der Farben und empfindungsleuchtenden Gesten, voll von – ach, was sind Worte in Anbetracht solcher Bilder. Ich saß über das Weihnachtskonzert gebeugt und konnte mich nicht satt daran sehen. Es gewann immer neue Bedeutungen, wurde sprechend, tönend, regte sich, ich wollte ihm gerne aufzeigen, wie -  

    Aber er hatte schon die Gitarre genommen und sich auf dem Drehstuhl zurechtgesetzt. Er habe was Neues, das sei noch nicht aufgeschrieben, das sei gewissermaßen das weibliche Gegenstück zu dem vorherigen Steineregen-Walzer.    

    Er zögerte, drehte sich auf seinem Klavierstuhl zur Seite, die Gitarre auf dem linken Bein, und schaute aus dem Fensterchen hinaus ins fahle Blau. Ich war ganz ins leuchtende Gambenspiel unter dem filigranen Tempelbau versunken, merkte kaum, daß er anfing, war wohl leicht weggedämmert in den Lauten der spielenden Kinder auf der Straße und dem weichen Rauschen des Verkehrs. In der Ferne hörte man immer Lautsprecher und Gong des Bahnhofs, auch den hellen Klang und das Gleißen der Züge.   

    Eine Melodie, aus Fernen in die Ferne, weit, weitklingend oben, von nur ganz vereinzelten abgehackten Abbreviaturen unten kontrapunktiert. Ich vergaß alles Beobachten, das analytische Nachzeichnen, in diesem Gedicht, in der mondenen Traurigkeit aus Fernen in die Ferne. Singe mir ein altes Lied, die Welt ist verkehrt und alle Himmel neigen sich.    

    Hatte er geendet? Es war, als tönte es da draußen weiter, aus Sternen in die Sterne. Ich blickte ins Blaue hinaus. Er sah meine Verlegenheit, ahnte wohl meine versteckten Augenwinkeltränen und lächelte.    

     

 
    11. Der Kelch   

       
    Feuer zeugt Asche. Asche zeigt an, da war Feuer. Das war. Das zeigt sich an schmerzlich verwrungenen Gliedern, da rangen die Kräfte, da rissen sie Wunden, verglühten, versiegten, die Münder im brennenden Schrei noch erfroren.   

    Das war. Das ist der Stoff. Das wächst noch an, so lang sie sich winden, erglühen und siegen. Sobald sie es sehen, sobald sie es wissen, so wie sie erwachen, sehen sie, wissen sie, wachen sie auf im Gekammer der Frucht, der Frucht genossen vom Baum der Erkenntnis.   

    Sie finden sich in diese Frucht eingeschlossen. Inmitten des Fleisches, des sterbenden Lebens, inmitten des bitteren Ernstes.   

    Die Nacht. Die Finsternis durchwacht von zeugender Einsicht, Erinnern, das zeigt, was ist, daß es ist. Was ist, das ist gestorben, so ist es da. Erinnern zeigt Außenseiten, bezeugt Vergangenes, zeugt Totes. Und weist darauf hin und weiß, das muß wachsen, das Ende vergeht nicht, das Tote nimmt zu. Was ist da Bewußtsein? Es nimmt sich zurück, nimmt sich fort, nimmt ab. Vergessen führt sich in stille Bewahrung des Toten. Vergessen das Werden, das strebende Selbstsein, die Sucht sich zu sein, Vergessen hält wohl dieses eine nur wach, das Sterben, Vergehen, zu sein, nur zu sein.   

    Des Tages Bewußtsein sieht Nacht, geendet ist alles, und alles wird enden. Das ist, was du siehst. Das ist, was du zeugst. Das ist, was da ist. Was da ist, daß es ist.   

    Er schlug die Flügel des Bildes behutsam auf und schob das Buch nun näher unter die Bettlampe, wo er lag, die Decke über die Schultern gezogen, hinübergebeugt, den Wein der Farben mit seinen Augen zu trinken, daß nur kein Tropfen des leuchtenden Blutes verloren gehe.   

    Ja, hinter den Außenseiten des großen Altars, hinter den Flügeln der Nacht, hier unter der Asche, im Schwarzen und Bleichen, im Fruchtfleisch des Toten, da barg sich, enthüllte sich, ging nun aus bitteren Kelchblättern auf, entfaltete sich nun das blühende Leben in Keim und Sproß und Verwandlung, die Worte kaum fassen, ja die noch ein inneres Tun, das innere Ringen von Zärtlichkeit, Freude, Verehrung und Sorgfalt kaum fassen, so sehr auch dein Denken und Danken darein sich versenkt und dein Blick in dem Wein dieser leuchtenden Farben ertrinkt.   

    Sie treten wie Zauber hervor aus der finsteren Höhle, die schmerzlichen Brände, die giftigen Flammen – verwandeln sich, zeigen ein anderes Wesen, ein anderes Wirken der sehrenden Glut. Sie schwelen und glimmen und brechen hervor aus der schwärzlichen Tiefe, doch nicht als die schreienden Bälger der Nacht, – aus der Stille kommen sie nun in goldenen Gambengesängen gezogen, purpurnes Sehnen gespannt auf den Bogen der selbst sich gebenden Güte, Gewährung, die Angst verrauscht im grünlichen Brandungssaum durch die quellende Pracht.   

    Ist doch Angst nur die Außenseite der Liebe, damit dir das Herz nicht zerspringt im Anschauen, wie du sie siehst, die Sehende, wie du sie anschaust, die selber den Blick nicht wenden kann von dem Kleinen, den sie auf zerrissenem Leinen hochhält, als wüchse er aus ihrem Busen hervor, Gesicht zu Gesicht und Glanz zu Glanz, einander umherzend, umspielend, umliebend. Du selbst kannst den Blick nicht von ihr wenden, du hältst das Buch so dicht vor die Augen, wie sie ihr Kind.   

    Und schaust, Freund Hein, wie ein grauer Prophet im offenen Flechtwerk des sprießenden Steins vom flamboyanten Tempel herab der selbst sich sprechenden Schriften, einander sich deutenden Bögen und Kreise, daraus sie erblühen, die Engel. Füllhorn der Freuden.   

    Nun öffne das Buch, die tieferen Kerne der Seele, Morpheus, Brüderchen, du!   

    Der steinalte Mann vor der Hütte, du kannst ihn von Felsen und Holz kaum unterscheiden, siehst du ihn nun?, es ist Väterchen Paulus, der hält ihn umarmt und versucht ihn zu trösten, den Einsiedler, der ihn besucht hat. Wer wird es ihm glauben, daß der große Antonius vor ihm hockt, weint wie ein Kind und ihm die Schulter näßt. Der uralte Weise läßt ihn gewähren. Er hat viel gesehen, das Urteilen hat er sich abgewöhnt. Und die Gefahren der Größe und Vollkommenheit, oh ja -   

    "Ach, Bruder, das vollkommenste der Wesen – weißt du's? – war der Morgenstern, der Lichtträger, und stürzte. Und nur indem er tiefer hinabstieg als jener, hat unser Schöpfer und Wiederschöpfer uns aufgefangen.   

    Er stürzte doch selbst nicht, sagst du? Aber wo denkst du hin, lieber Bruder? War nicht auch der Gefallene sein lichter Sohn, Widerschein seines unsichtbaren Glanzes? Meinst du, der Vater hielte sich selbst in dem Stolz fest, dessen Blitzesstrahl bei dem Lichtträger er in den Abgrund hinabgelenkt hatte, damit sein Aufflammen nicht den Himmel in Brand setze? Nein, – der, den wir verehren, er ist nicht stolz, nicht zornig, nicht unbeherrscht. Er ist immer neu gewonnene Selbstüberwindung, nimmt die verlorenen Söhne an, läuft ihnen entgegen, wäscht sie, heilt sie, kleidet sie neu.   

    Und da weinst du, weil der Vater gut ist zu abgefackelten Göttern, aber du hast dich umsonst bemüht, ein Leben lang? Siehst du, ein kleiner Egoist bist du, der gerechte Sohn. Du denkst, du quälst dich die kurze Frist, um eine Ewigkeit inmitten goldener Engelskonzerte unserer lieben Frau ins Gesicht schauen zu dürfen, alle Tage im Jungbrunnen gebadet zu werden und durch die Ornamente des Tabernakels zu sprießen?   

    Weißt du was? Ich hab auch einen Jungbrunnen in meiner Oase. Meine eigene Quelle, selbstgegraben und in eine steinerne Wanne gefaßt.   

    Willst du sie sehen? Komm mal mit raus, Wasser holen. Du verdurstest mir ja noch. Nimm gleich den Eimer mit."   

    Die Einsiedelei nutzt eine schattige Nische in der durchglühten Steinwüste, wo der zerklüftete Boden zu einer verborgenen Grundwasserschicht hin aufbricht, so daß der durchwitterte Grund des wild verzackten Grabens Gebüsch und Bäume nährt.   

    "Du bist ja derartig verdreckt, sag mal, wie lange hast du dich schon nicht mehr gewaschen? Was, wieviele Jahre? Ich versteh dich nicht, soweit kann ich nicht zählen. Aber paß mal auf, ich bin ein Mann der Praxis" - und, ja was ist denn das, schau mal, da wirft er seinen Gast einfach in die steinerne Tränke! Wie der schreit, er könne nicht schwimmen - haha, das Ding ist nur eine Elle tief – und kalt sei das, und überhaupt, in vollen Klamotten! Aber Väterchen Paulus, Mann der Praxis, lacht nur und taucht ihn noch ein paarmal tief unter in dem schmalen Trog, wird ja selber ganz naß dabei, aber das erfrischt in der Nachmittagshitze, packt ihn dann am Schlawittchen und forscht den Prustenden aus:   

    "Sprich, was hast du angestellt? Raus mit der Sprache! Sieh mal einer an, kommst du alter Seelentaucher mir mit verschleierten Bildern, anstatt gerade heraus die Wahrheit zu sagen, he? Du vergißt wohl, daß ich mit diesen Bemäntelungstaktiken wohlvertraut bin? Erzähle. Zwei schöne Fremdlinge badeten in deinem Teich. Ein junger Mann und ein Mädchen. Sie liebten sich dort. Ja, und? Sie haben dich also in Flammen gesetzt. Entzückend!" Da taucht er ihn wieder unter, wohl um das Feuer gleich zu löschen, und zieht ihn wieder kraftvoll hoch, als sei er selbst nicht schon längst im Patriarchenalter:   

    "Du selbst – immer wahr. Junger Mann? Mmmmh! Das Mädchen stieg also mit dir, mit dir!, aus dem Wasser hinaus, nahm dich an der Hand und führte dich in ihren Tempel ein. Au Scheiße, was für ein Poet du doch bist, versteckst dich hinter symbolischen Handlungen. Ihren Tempel nennst du das also, du Heidensohn. Und sie gaben dir dort eine Schrift zu lesen. Und lachten dich aus? Na klar, du konntest sie nicht entziffern. Das alte Spiel. Jeder macht das mal durch.   

    Und was geschah dann? Na los, Bruder, soll ich dir helfen? Was gluggluck, spuck aus, was dir auf dem Herzen brennt, oder soll ich's schon wegspülen? Wir haben auch Seife!" Die Drohung wirkt offensichtlich. Antonius gesteht alles.   

    "Fein, dann kamen sie also, die Fragen. Die Zweifel. Die Schuld. Und weiter? Nun?"   

    Er muß den Beichtenden noch einmal tief hinunterdrücken, damit der mit seinen letzten Erinnerungsbildern und Räuberhöhlen-Schätzen rausrückt. Er geht nicht gerade zimperlich mit dem greisen Einsiedlerbruder im Bad um; fällt ihm denn keiner in den Arm, diesem Rauhbein von einem Freund? Gottseidank ist auch der alte Antonius, nicht anders als der nicht minder junge Paulus, gut gegerbt von Sandschliff und Wetter, der hält schon was aus.   

    "Du meinst, du bist vom Verführer besessen? Schön. Was sonst noch? Ja, deutlicher, raus mit der Sprache! Du bist es selbst? Was bist du? Der Wurm im Apfel? Du selbst – immer wahr. Na endlich! Mmmh." Puh, er läßt den Wüstenbruder nun endlich los, der treibt halbtot im schwankenden Wasserspiegel der Tränke.   

    "So tief also bist du gestürzt, sagst du. Hingefallen, der Länge nach. Oh du lieber Morgenstern, Abendstern, Apfelwurm. Oh du lieber Augustin, alles ist hin. " So singt er, man weiß nicht, ist es spöttisch oder einfach nur albern, sein Kinderlied.   

    Manchmal wackelt das Bild irgendwie, vielleicht vom Wind in den flirrenden Bäumen, wenn die Sonnenscheibchen über die Felsen, das Gestrüpp, die Steinbrocken und Holzsplitter blinzeln, dann kommen mir die Gesichter für kurze Momente bekannt vor; ja – ist das nicht Wolfram, der seine Socken wäscht und auswringt, der dann auf seiner Matratze sitzt und mit der alten Kaffeemühle sein Getreide schrotet? Und dann wieder ist er der verbrannte, verbraunte, vergilbte, der bastgekleidete Alte, der dem nassen Täufling aus der Patsche hilft, ihn auszieht und mit einer Decke, rauh wie Draht, abrubbelt.   

     
    12. Wasserwüsten    
         
        
    Ja, merkwürdig, wie das ganze Bild die Farben wechselt, aufblüht, welkt, verfließt, wieder auftrocknet, ich weiß nicht – wer bin ich? Mein Gesicht liegt auf der ganzen Szenerie, Sonne bin ich über dieser Wüste, meine Hand formt den Felsen, die Höhle, mein Haar fließt wirr um die beiden, die Freunde, ich schlafe durch ihre Wachträume hindurch, ströme im Atem ihres Wechselgesprächs, kreise in der Schrotmühle, vermahle die Konsonantenhülsen ihrer Silben, berühre mich vokalisch zwischen ihnen, Sturmlied, Windorgel, osmotische Wand im Aneinander der Bewußtseine, spiralig gewunden zu unendlichem Ineinander - wer bin ich?    

    "Komm, wir arbeiten das durch, trockne dir die Haare, dann machen wir ein diagnostisches Rollenspiel. Vergessen wir zunächst unsere einsamen Höhlen und versetzen uns mitten in die tosende Stadt – weißt du noch, was das ist, eine Stadt? – nun, mimen wir zwei Gelehrte oder Künstler, die da wohnen, unbekannte, elende Bohémiens. Das ist ja nicht so schwer für solche Spinner, wie wir es sind, na? Ich mache jetzt den Philosophen und Übersetzer, und wir sind in meinem Zimmer unter dem Dach; jaja, in der Stadt gibt es Häuser wie Felstürme, erinnerst du dich? Tief unter unserer Tugendkammer donnern die Laster vorbei. Und du – na was hältst du von einer Rolle als Musiker? Dich taufe ich hiermit auf den Namen Heinrich Tannhäuser – Was ist? Nicht doch, hab keine Angst, du hast genug Wasser geschluckt. Ich spuck dir auf den Schädel und nenne dich einfach Hendrik. Gut?"    

    Und dann grinst der gräuliche Täufer den Besucher mit großen Zähnen an und will sich von ihm Wolf nennen lassen. Er setzt den Täufling ins Trockene und fährt in seiner Untersuchung fort.    

    "Nun, wie geschah dein Sturz? Das hängt doch mit diesem Mädchen da zusammen. Eine Tänzerin ist sie? Bezaubernd! Sie lud dich ein? Ja. So einfach machst du dir's. Einen bitteren Tee gab sie dir zu trinken: Sich selbst, ihr Lächeln, als du das Licht in ihren Augen trankst. Na, was war dadrin?    

    Aha. Klingt nach der blauen Blume. Zauberhaft! Wiebitte? Ach nichts. Ich hab nur mit mir selbst gesprochen.  Dir wurde zuerst speiübel, du mußtest dich übergeben, aber dann verwandelte sich alles. Mmmh. Ja Hendrik, du hast am himmlischen Nektar, am verbotenen Trank genippt. Aber der springende Punkt in eurem Pas de deux war dann dies: Sie hat sich sofort von dir losgerissen und dein Herz der Sonne geopfert. – Nun hör doch auf mit dem Geschluchze, am Ende weinst du darüber, daß so ein alter Hase wie du noch darüber weinen muß, daß er die Marienbader Elegien bekommt, echte Alterskrankheit!   

    Was, nicht alter Hase, ein junges Karnickel? Ja allerdings, du hast deine Studentenrolle gut drauf, Hendrik. Er lacht schon wieder, wie ein Säugling, Jammer und Grimassen gehen ineinander über. Nicht Hase, ein grüner Hüpfer bist du. Trockne dich mal hinter den Ohren ab. Drei Tage war der Frosch nun krank, jetzt lacht er wieder gottseidank.    

    Also in den Ozean müssen wir hinein, in deine Salzfluten. Deinen Augensaft analysieren, diesen Glanz. Laß mal sehn – aha, hab ich mir gedacht, deine Kleine ist eine Aztekenpriesterin. Interessantes Verfahren, es erspart einem Jahrzehnte der härtesten Askese, nein, nicht ihr, sondern dir selbst, du seliger Sünder.    

    Und dann hat der Trank, als er die Quelle nicht mehr fand, dich alleine durchdrungen, verwandelt, durchblüht und in den Himmel geschleudert wie eine unhörbar laute Posaune – und das nennst du einen Sturz? Du hast schon Humor.    

    Ja, laß mich lachen, ich darf das, ich kenne das Spiel. Du warst nur nicht darauf vorbereitet. Ach, mein Lieber, was meinst du, was ich schon alles erlebt habe. Was glaubst du denn, wie man dazu kommt, so etwas Abgehobenes wie die Weisheit der Freundesliebe zu studieren. Nur zwei Einsiedler können noch verrückter sein, als wir beide, na? Und das sind wir denn auch. Wir sind viel verrückter, als wir scheinen.   

    Es wird Zeit für den Abendgesang und das tägliche Brot, sieh, der Rabe kommt schon. Die Wüste glüht ein letztes Mal in einem Meer von Kieseln auf, Auge um Auge; die Kälte fällt über die Steine her, um sie zu brechen, Zahn um Zahn. Doch von den Palmen fließt Frische, Frieden um Frieden.    

    Du bist mein Gast. Sing mir die Zweifel, die dir aus diesem Erlebnis kamen, und ich will hören, welche Antwort der Wind uns eingibt, der vom spiegelnden Umkreis der Weltenschale hinabseufzt. Ja, mein Freund, was brütet der Vogel Ruach wohl aus in diesem kosmischen Ei?" -    

    Doch das hörst du nicht mehr, das zerfließt im vagen Pinselstrich der zersplissenen Hütte, der verfaserten Bäume, im Orange, Violett und Grün der zerrissenen Wolken, verwunden, verdreht: Es sungen drei Engel ein rostiges Lied, die Orgel, die leiert, der Globus, der eiert, ich weiß nicht – ich weiß nicht, wie mir geschieht. Bin ich denn ein stürmisches Tief, osmotische Wand zwischen dir und ihm, spiralig gewunden zu einem unendlichem Zwischeneinander? -    

    Über ihren Skizzen, zwischen einem Mikado von Buntstiften und Pinseln wacht sie auf, vor sich das Glas mit der trüben Brühe, einen Bleistift noch in der Rechten: Sie ist am Arbeitstisch eingenickt. Nun ist alles verwirrt und ineinandergeschoben, der größte Teil der Zeichnungen ist auf den Boden gerutscht und durcheinandergeraten.    

    Es ist nicht leicht, das Puzzle der großen biographischen Rosette wieder zu ordnen. Die feinen Umrißlinien und das bunte Getusche der Bewegungen, das über die körperlichen Konturen hinauswischt und in Auren farbiger Echos ausrandet, ausbrandet, sowie die atmosphärischen Schraffuren in und um die Figuren – sie zittern, sie wogen, sie drehen sich zunächst in drei breiten Strömen, dann in verdichteten, verflochtenen Strängen umeinander wie eine Art Walzer im Wechsel der Personen, auch untereinander in weiten und engeren Schleifen und Knoten verstrickt, die Zwischenräume noch infinitesimal gestuft und blättrig in die Tiefe geschichtet, ein Treppenrelief hinein in die Fläche. Schlägt sie den Stapel auf, kehrt es wieder, vielleicht ein wenig anders, wenn sie sich das genauer besieht und mit den oberen Blättern vergleicht, und wenn sie weiter in die Tiefe geht, stuft sich dort noch immer das in sich verflochtene Werk der Bänder in Knoten und Schleifen zu Wendeltreppen in die Substanz hinein ab.  

    Die halbtransparenten Seiten sollten sich säuberlich übereinanderschichten, so daß die Durchsichten und Vertiefungen der Gestalten in der Begegnung, Berührung und Überlappung ihr Miteinander entwickelten, indem sie alle zugleich kaleidoskopisch um eine Mitte gespiegelt schienen, wie das Auge um die Pupille, die Blüte um den Stempel, das Fruchtfleisch um den Kern. Doch nun – was für ein Schlamassel! – ist das alles verschoben, gibt im fächerartigen Sichüberschneiden und der zufälligen Reihung und Nachbarschaft der hinabgeglittenen Skizzen ein eigenes parallelenschariges Muster, über Schreibtisch und Boden ausgebreitet.  

    Soll sie diese Verschiebung der verschiedenen Sichtweisen dazu nutzen, deren zeitliche Entwicklung kontrapunktisch auseinanderzurücken und die Freunde als unabhängige Persönlichkeiten voneinander abzusondern? Oder soll sie nun die ursprüngliche Einheit der biographischen Gesamtgestalt, in der alle drei Blickwinkel durch die Punktsymmetrie ihres Auges vereinigt sind und zu einer gemeinsamen Individualität zusammenklingen, wiederherstellen?    

    Das wäre schwierig. Und schon mit der bisherigen Ausführung ist ihre Unzufriedenheit an dieser engen Konzeption allmählich gewachsen; vor allem sind die Gewichte unglücklich verteilt.    

    Sie hat ihr eigenes Wackelbild zu sehr versteckt hinter den anderen Gesichtern und Gestalten, während ihr alter ego und Kristallsphärenspiegel, die Regenbogenschwester, den Zopfstrang schon fast zu einer eigenen Frisur geflochten, hochgebunden und mit Perlen durchwirkt hat – phhh! -, als sei sie die Meisterin, der wahre "Sie"-Strang und am Ende der Ariadnefaden des verwirrten Symphonikers, nicht um ihn zu leiten, sondern um ihn in ihr Labyrinth unlösbar einzuweben.   

    Nun, mögen die Lebensbänder eine unregelmäßige Knotenschnur durch die Zeichnungen flechten, diese drei im Wechsel umeinander gedreht, wo andere Fäden schon mit hineingewirkt sind. Aber die beiden Freunde, sind sie in der punktsymmetrischen Verquickung nicht ein gemengtes Kleid, von Wolle und Leinen zugleich, in beißenden Fehlfarben koloriert, von den aurischen Farbenfächern bis zur Unkenntlichkeit überlappt? Die Aquarellfarbe läßt oft filzige Säume um ihre Pfützen zurück, gegen alle Logik der Zeichnung, und das Papier zieht sich in strahligen Bahnen zu diesen Flecken hin, so daß das Relief der Blätter eine weitere Schwellenstruktur ergibt, an der Bleistift und Buntstift sich stoßen, verstärken und in den Tälern verdünnen, wo auch die Gerinnsel der Wasserfarben sich gerne sammeln, Sträucher und Bäume in feinstem Geäder aufzweigen und ihre Chemie pelzig gegeneinander sträuben.    

    Ich sehe, ihr malt euch schon selbst; ihr macht ohnehin, was ihr wollt. Was soll ich mit euch anfangen – gähnt sie, reckt sich – da stößt sie mit dem aufgekrempelten Ärmel ihres Morgenmantels versehentlich an das alte Wasserglas, und es ergießt sich mit einem Schwall erdiger Soße über die Blätter, bevor sie es aufschnappen und ans Spülbecken nehmen kann.    

    Mit dem groben Frottee des Morgenrocks läßt sich der See kaum ganz aufsaugen, es bleibt ein Wasserschatten, unter dem die Papiere aufweichen, Wellen schlagen und in Schlieren und Schlamm nun beginnen, ihre Tinten und Farben neu zu mischen, reihum zu verteilen und breit aufzuspreizen. - Wußte ich's doch. Was seid ihr für eine schöne Pokerrunde, Gesichter halb hinter den Kartenfächern versteckt!    

    Gottseidank sind nur drei Blätter betroffen. Der Ich-Erzähler und der verletzte Herzensbruder, sie sind auf diesen durchnäßten Papieren nun erst recht wie zwei merkwürdige Erdbewohner miteinander verwoben und verwachsen, zwei Gnome in Kutten von verwaschenem Bast, in rauhem Gekörne von Ocker und Umbra. Das Papier skelettiert durch und bricht in filziger Verwesung auf.  

    Sie schaut sich fasziniert ein in diese wüste Totenherberge, in die Alchemie der substantiellen Differenzierung. Mit der Lupe kann sie in die gestuften Gänge und Gruben hinabsteigen, eintauchen in die Säume, mit den Aufzweigungen mitwachsen, mit dem Opferblut längs der schwärenden Risse in die Gräberwelt dieses Krustenteppichs einsickern.    

    Ist sie wirklich aufgewacht? Heißt Wachsein, sich zu beobachten durch die von ihr selbst inspirierten Augen der Träumer? Oder sind es jene, die da Wache halten in ihrer mürbemüden Farbenmühle?    

    Aggregatzustände des sich malenden Bildes: Schlafbetäubte Widerständigkeit der verwüstete Grund, den die Frühlingswitterung dann von oben aufzubrechen, aufzuweichen sucht in wilden Träumen, deren Hunger und Durst wiederum das sommerliche Licht von oben in sich hinabschlingen will und doch niemals ganz greift: das wache Weiß des Tages, den gleißenden Schmerz mit Namen Sonne, der den Wolkendrachen unter sich zerspießt, zerstrahlt. Herbstliche Michaelskämpfe des prüfenden Auges mit den himmelhellen Höllenhüllen sterbender Stoffe:    
     

      "Wer wird, Freund, der Feuerwälder tigeraugnes Gold verhüllen?"    
      "Schwester Wärme bräunt die Fülle wie ein altes Ölgemälde." 
      
    Suchst du nun den dunklen Schlaf, die Nacht, den Kern der luftig-flüssig-festen Knoten, Schichten, Wände, suchst die Heimlichkeit unter fischig aufglänzenden Schlangenlarven, wo Häute und Häute in Häuten sich häuten, zerschuppte, zerklüftete, zerrissene Flügelnetzgebirge -    

    so schuppt er auf, da klafft er, reißt er dir, springt er auf: der flüsternde, wispernde, knisternde Schmetterlingstropfenfluß, geflügeltes Fohlen, Hendrik du, bist ich, bin du -    

    in meinen Gräsern wild versprengt, durch meine Furten ungezähmt -    

    wer hängt um deinen Hals, deine Mähne, knetet, greift sich, krallt sich da in dich ein – eine Löwin, Medusa dein, mein Söhnchen, Pegasus, ach – klavierschwarze Bitterkeit bin ich, bist du, bist ich, bin du -    

    und trägst diese Zirkusreiterin auf deinem gefiederten Rücken – schlägst Kapriolen, bäumst dich, federst hinauf, hinab, verzweifelte Lust durch meine Seele, stampfst mit den Hufen, zerpochst mein Herz – es klopft, verschlägt sich, läutet über – Hendrik du, bist ich, bin du? -    

    Da tritt sie ein durch die Pforte der Paukenschläge. Es ist ein Abstreifen der gemusterten Häute, des Farbengewühles, der Selbstberührung. Das Traumgewoge schlägt hinter ihr zusammen wie eine Filmmusik, billiges Blech, windiges Georgel, verzichtbar, überflüssige Spielerei - verzeihlich, überfließende Spielkraft.    

    Der ganze Schaum – mmngktjuh – versiegt in einer dünnen Spur, verstummt im Quellpunkt der Genauigkeit.    

    Zu Erinnerung beruhigt, nüchtern gealtert, in stillem Wachstum gestalten sich die Bilder zu einem Garten, einem Rosettenbaum des goldenen Keims, aus dem sich die Linien biegen und die Farben wenden, Blattgrün zu Blütenrot, Erdbraun zu Sonnengold.    

    Sie zieht die Schrift mit dem Bleistift leicht nach und faltet das Geblätter zu Briefen an die beiden darin enthaltenen Einsiedlerzwillinge. Frag mich nicht wie, Cuillaut, schau doch selbst, hier, siehst du's? 

 .
Fortsetzung: Kapitel 13-15
.
zur Titelseite   zum Anfang des Romans   Symmetrieachse   zum Seitenanfang
I. Enneade   
   
1. Prolegomena   
2. Ouvertüre   
3. Iris   
    
4. House burning down 
5. Die Reise   
6. Pupille   
    
7. Rasur   
8. Das Café I   
9. Der Chemiker
II. Enneade   
   
10. Das Brot   
11. Der Kelch   
12. Wasserwüsten   

13. Die Wellentaucher 
14. Die Ersten – die Letzten 
15. Die Wellenreiter   

16. Feuermeere   
17. Die Brüder   
18. Der Wein

III. Enneade   
   
19. Die Substanzen   
20. Das Café II   
21. Eli Eli   

22. Umweg   
23. Der Garten   
24. Er kehret nicht zurück 

25. Oh du lieber Abendstern 
26. Dahin zog's mich   
27. Katalegomena

emaille?!  *  Quellensammlung  *  Lyrik  *  lapsit exillîs  *  Parzival  *  Rheingold-Travestie
Heinrich von Ofterdingen, Wolfram und Klingsôr im "Sängerkrieg auf der Wartburg"
 
zurück        Seitenanfang
 
Feire Fiz / Elischa Beth / Wolfram / Cuillaut : ... noch einen Tannhäuser schuldig : Zwiebelgold : Die verbrannten Briefe 4-6