10.
Das Brot
Per
aspera. – Natur, die erste Ärztin, verordnet eigene Kuren. Sie arbeitet
mit Zangen und Feuer. Schlaflosigkeit und ein Nagen im Bauch, ein Würgen
in der Brust verzehrten den alten Adam. Ihm dämmerte langsam, daß
er seine Rolle, seine Person selbst in die Hand zu nehmen habe, um Wirklichkeit
zu schmieden.
Er
stemmte sich ihrem Charakterbild, der Stempelprägung in seinem Gedächtnis
heftig entgegen, – das vertiefte den Abdruck. Er stieß sich von ihr,
der diamantenen Schärfe in seiner Erfahrung, schmerzhaft ab, – indem
er die Härte, den Anspruch, ihre ichzentrierte Kraft sich einzuschleifen
versuchte. Heilung suchte er in der Verwundung selbst, das führte
ihn durch einen höllischen Himmel, eine stolze Verzweiflung, einen
klaren Wahn. Ich gebe zu, es läßt sich nicht fassen, nicht beurteilen,
nicht entscheiden, ob das falsch war oder ein Lernschritt. Ich weiß
es nicht, ich wußte es nicht und konnte ihm auch nicht raten.
Er
fiel gewissermaßen über sich her: Bart ab und Haare kurz; in
der nächtigen Frühe wand er sich aus dem Bett, aß nichts,
trank klares Wasser. Ein Zorn zerriß die Spielerei, eine Zeit später
erst durch lächelnde Nachsicht gemildert, darin verborgen ein asketischer
Kern. Mein Freund war ernst geworden, seine Scherze verstotterten oder
waren bitter. Er schrieb eine Reihe von Stücken nieder, die er schon
früher entworfen hatte, jetzt wollte er sie auf dem Papier sehen,
Produktion, Werk, Niederschrift.
Dann
versiegten seine Eingebungen, vielmehr: Er jätete, brach um, verschnitt
sie. Sarkasmus zerriß die improvisierende Beliebigkeit, eine Zeit
später erst zu Selbstkritik gemäßigt, darin verborgen ein
prophetischer Kern. Mein Freund war über Nacht religiös geworden,
wie ein Wahn brach Religion aus ihm hervor, Bilder und Haltungen setzten
sich in ihm auseinander, sie kamen daher auf den polyphonen Wirbelstraßen
seiner Seele, des Nachts, des Morgens noch vor der Dämmerung, Gespräch
über Gespräch, ein Streit um Selbstbehauptung und Rücknahme
riß in ihm auf, – wie sich überwinden und leben?
Tränen,
Vorsatz, hinaus in die steinerne Stadt, Ding, Widerstand, die reale Substanz
- Schnee schmutzig aufgehäuft, aufgeschmolzen in den Straßenschluchten,
die eigene Welt, das einsame Zimmer, wieder hinaus, wieder zurück,
dann zu mir.
Oeheim,
waz wirret dir? Der Liebende ist immer im Recht.
Ich
wartete ab, bis er verlegen aus seinen Tränen hervorlachte. "War ja
nur ein Scherz mit mir. Das Experiment. Ich weiß nicht, was sie an
mir gefunden hat. Ich kann auch nichts finden. Was bin ich denn? Ich wollte
die erste Geige spielen, und es kam nur ein Krächzen. Verstehst du
mich? Nein, ich – also zum Beispiel hier das Papier: Wie schön
sind die weißen Blätter, bevor ich sie vollschmiere. Oder: Stille
ist endlos schön, das Läuten des Schmelzwassers in der Regenrinne,
die Piepser der Meisen, ihr aufgeregtes Zwitschern, wenn sie vom Zweig
herabflattern, das ist wahre Musik. Nicht dieser Schrott, sieh dir das
mal an!"
"Ich
kann doch nicht Noten lesen, Heinrich. Ist das nicht eine Menge Arbeit?
Fleißig, fleißig!"
Aber
ich ließ es mir am Nachmittag vorspielen, als ich ihn besuchte. Er
wohnte in einem Kellerloch, mit etwas Tageslicht durch eine Fensterluke.
Der Herd, ein Schreibtisch, das Bett und ein großes schwarzes Klavier
füllten den kleinen Hohlkubus des Zimmers ganz aus. Nur wenige Bücher
und Platten.
Besuchen,
das hieß Mate kochen am Küchenherd und mit Milch mischen, Tassen
spülen. Ich bequemte mich endlich in den Sessel neben dem schwarzen
Kasten, meinen Teepott auf dem Herd zur Rechten, und lauschte.
Das
war ja völlig tonal, sieh mal einer an, der Kompositionsschüler
auf trivialen Abwegen. Wildes Stück, rhythmisch vertrackt, brutal.
Und dann war er auch kein Virtuose, also es war schon eine Zumutung. Eine
offene Einleitung, ein rockiges Riff, Knochenarbeit für die linke
Hand, während die rechte gegen den eisernen Wiederholungsstrom anschwamm
in den Quinten und Sexten plöriger Dreiklangsauflösungen, dünn
über dem Treiben wie Flageolettöne.
Ach
so, nur eine Scheintonika, in Wirklichkeit Dominante, lang vorgehaltene
Spannung zum folgenden, dem aufdringlichen Hoppla-jetzt-komm-ich eines
blockartig gefügten Sequenzenmotivs ohne Text, wohl ein Sauflied oder
sonst eine Art malum carmen, aber da war eine Verschiebung eingebaut, das
Motiv kam immer früher als erwartet.
Ja,
so ist das hier, ein gehetztes Gephrase, immer kommst du zu spät,
patsch, bevor du es bemerkst – schon haben sie dich. Da tönte mir
unverhüllt das schwarze Kubusherz dieser städtischen Wüste
entgegen: Alle machen ihren quadratischen Umgang und küssen den harten
Stein.
Es
hatte etwas Gequältes, maschinell fortgetrieben in permanentem Tonartenwechsel,
immer der gleiche Übersteigungsschritt, und damit auch eigentlich
unmelodisch, unsanglich. Der Clou bestand darin, daß das konsequent
mit seiner Verkürzung durchgetriebene Motiv erst in einem schnellen
Dreiertakt mit Punktierungen durchgeschleudert wurde und dann, vor der
Strophenwiederholung, breit in einen Vierertakt gepackt war, wo es vollends
seine Banalität aufmauerte, ein Klischee zum Quadrat, hoch drei, sie
schwenken lallend die Humpen, hoch vier, ein Bier für den Mann am
Klavier.
Natürlich
konnte ich Noten lesen – Dechiffrierung ist nun einmal mein Beruf -, aber
das gab ich ihm nicht zu. So machte es viel mehr Spaß. Er mußte
also Überzeugungsarbeit leisten, nicht mit Theorie, sondern durch
die Sache selbst. Kollegiale Nähe würgt jedes Gespräch ab
mit ihrem "Wie wir ja alle wissen" und "Ach das kennen Sie ja schon". Warum
waren denn die Künstlerkollegen im kritischen Austausch so unfruchtbar?
Sie mußten ja keinen Laien überzeugen. Vor mir nun brauchte
der liebe Kerl keine Puristen- und Analytikerangst zu haben, und so kam
mir das ganze zusammengestauchte Lallebei, diese herrliche Verletzung aller
Wettbewerbsgeschmäcker zu Ohren.
Na,
wie wollte er wohl das Ende bringen? Oder sollte etwa noch eine dritte
Strophe kommen? Nein, die viertaktige Passage baute er jetzt aus zu einem
endlosen Sequenzenmuster über die ganze Tastatur, nur die dynamische
Klanggebung und die rhythmische Füllung variierten, changierten, schwankten
leicht. Eine absolut konsequente Tapetenformel, sieh an, ein Mantra, ein
Hare Krishna mit der Offenbarung von "Wie wir alle wissen" und "Ach das
kennen Sie ja schon". Gelungen, gelungen.
Er
lachte sogar ein bißchen, also war er sich wohl dessen bewußt,
was er da tat. Dann kehrte der bleichrote Schmerz zurück in seine
Miene.
Der
Verliebte, der Liebende, auch da wo er Unrecht tut, und sei es, daß
er seinen besten Freund mit kalten Tränen bekleckert oder mit Zornausbrüchen
versengt, sei es, daß er ihn mit seinem Klavier erschlägt, Heinrich!
- der Liebende ist immer im Recht.
Erst
barg er sein Gesicht in den Händen, dann sprang er plötzlich
auf und war nahe daran, sein Blatt zu zerknüllen, zu zerreißen.
Ich versuchte ihn mit dem Tee abzulenken, reichte ihn hinüber, er
sollte nicht kalt werden, und stotternd begann er, mit der Tasse in der
Hand in seinen dreimaldrei Metern Freiraum hin und her zu wandern.
"Da
hörst du's. Ich seh schon an deinem Gesicht, du hast es wohl verstanden.
Ja, ich weiß, klingt alles bekannt. Solche kurzen Liedmelodien, die
einem einfallen, können gut irgendwoher stammen, aus irgendwelchen
Sachen, die man einfach vergessen hat, und dann meint man, das sei auf
den eigenen Mist gewachsen. Ich weiß selbst nicht – was ist das?
Du hast es ja gehört. Das ist – das, das sind -"
"Steine
statt Brot." half ich ihm.
"Was
kann man auch mehr erwarten!" lächelte er sauer und blieb vor der
Fensterluke stehen. Ich wußte nicht, ob er mich damit meinte oder
die eigene Schwäche. In das Bibelwort tauchte er jedoch sogleich ein,
als stamme es von ihm selbst. Mein Freund war religiös geworden -
ich sagte es bereits – Religion brach aus ihm hervor; es war Zeit, ihn
an die Hand zu nehmen:
"Nun,
wenn dich jemand um ein Stück Brot bittet, wirst du ihm dann einen
Stein geben? Etwa so heißt es doch, gewiß. Aber Häuser
baut man nicht mit Broten, sondern mit Steinen eben. Und das ist doch sehr
klar gefügt, wie ein Bau, mit kristallgenauen Kanten, das hat schon
seine eigene Gesetzmäßigkeit. Es ist sogar so, wie bei den Mineralien,
wo etwa eine Ecke fehlt, und da wächst ein kleinerer Kubus in der
Aussparung, und der hat selbst eine Bruchstelle und darin wieder einen
winzigen Sproßkristall, und so fort. Nach dem Muster sollte man Gebäude
setzen, das wäre doch überaus reizvoll, nicht wahr?"
"Aber
du erwartest Brot. Und du hast recht: Der Körper baut sich nicht aus
Steinen, sondern aus Nahrung auf. Die Seele braucht auch etwas zwischen
die Zähne. Vielleicht sind schon die Gerüche und Geschmäcker
eine Nahrung für sie. Die eigentliche, die richtige Nahrung für
die Seele – ist das Schöne, das Reizvolle, das Erstaunliche, oder
wie kann man das nennen, das Unfaßliche." Er setzte sich vor mich
hin, aufs Bett, und rührte sich einen Berg Zucker in den Tee. Das
ließ hoffen, daß er sein Fasten endlich aufgab.
"Seit
wann hast du nichts mehr gegessen, Heinrich?"
"Ich
glaube, seit über einer Woche. Aber ich habe keinen Hunger. Und die
Empfindungen sind viel klarer so, die Wahrnehmungen und inneren Bilder,
die Sinne. Und der Körper wird leicht, ein Anflug von Geist, von Schweben
-"
"Ich
glaub's dir, ich habe selbst schon mal vier Wochen lang gefastet."
"Wiebitte?"
"Das
ist nicht schwer; der Hunger vergeht ja nach zwei Tagen, der Appetit stürzt
sich dann auf die Sinne anstatt auf den Magen. Aber dann begann ich meinen
Leib wie einen Dämon wahrzunehmen, beim Aufwachen; schlimme Alpträume:
ich dachte, ich verliere den Verstand. Ich begriff zuerst nicht, wo dieses
böse Getier herkam, das mich da umschlang – mein eigener Körper.
Ich dachte ja, ich wolle mich vergeistigen, mir beweisen, daß die
angeblichen Grundbedürfnisse und Nöte nichts über mich,
einen freien Willen, vermögen. Auf der einen Seite diese wundervolle,
ja, geradezu schwebende Leichtigkeit, auf der anderen Seite nun dieses
brutale Geschlinge."
"Und
wie hast du dich befreit?"
"Ich
dachte nach und fand, daß ich einem Irrtum aufgesessen war mit meinem
egoistischen Spiritualismus, also brach ich das Fasten."
"Aber
der Getaufte hat auch gefastet."
"Und
das weckte den Versucher. Sieh mal, diese Legende vom Dahingleiten auf
den Fittichen der Engel. Das stimmt alles gut zusammen. Er war bei den
Tieren, und die Engel dienten ihm. Ja, gewiß, aber würde das
uns nicht in Himmel und Hölle zerreißen? Und er ging nicht in
die Wüste, um seine Heiligkeit zu beweisen, sondern der Geist trieb
ihn, wie einen Besessenen."
"Ich
faste auch nicht aus Entschluß, ich bin krank, Wolfram. Ich konnte
einfach nichts essen die ganze Zeit."
"Beginn
doch wieder, Heinrich, ja beginn aus dieser Sensibilität heraus, behutsam
etwas zu essen. Etwa indem du es so lange kaust, bis nichts mehr davon
in deinem Mund ist. Sieh es vielleicht so – auch wenn fremd und zugleich
phrasenhaft banal klingt, aber ich meine es ernst: Brot ist heilig, eine
alltägliche Kraft, die sich in uns verwandelt."
"Weißt
du, Wolfram, daß im Mittelalter die Menschen vom Brot Visionen bekommen
konnten?" Er schaute mich etwas listig von der Seite an, eine eigenartige
Reaktion bei seiner Verzweiflung und Traurigkeit. Offensichtlich beschäftigte
ihn noch etwas anderes als seine unglückliche Liebe, damit verbunden
oder dahinter versteckt, oder unabhängig davon.
"Jetzt
gibst du mir Rätsel auf. Warum Visionen?"
"Weil
die Menschen mit dem Getreide auch unwissentlich Mutterkornpilze mitvermahlen
haben, die an den Ähren schmarotzten. Mehr oder weniger waren wohl
ganze Landschaften davon betroffen, aber wenn das überhand nahm und
zu oft geschah, wurde die Wirkung der Alkaloide des Pilzes für die
Brotesser sehr unangenehm, führte zu Krämpfen und fürchterlichen
brandigen Entzündungen, zum Antoniusfeuer. Die Antonitermönche
haben Hospitäler für diese Krankheit geführt, die wie eine
Epidemie auftrat, wenn das durch die Witterungsbedingungen vermehrt ins
alltägliche Brot hineinkam."
"Ah,
ich glaube, ich verstehe: Schließlich ist Antonius der Prototyp all
der Mönche, Heiligen und Visionäre, die unter Verführungen
und Versuchungen leiden, wegen seiner eigenen Schreckensvisionen."
"Kennst
du den Isenheimer Altar?" Das war ein gemeinsamer Gedanke; ich hatte ihn
gerade danach fragen wollen. Er reichte mir einen Bildband herüber
und knipste die Lampe über meinem Sessel an; es dämmerte langsam.
Ja,
ich kannte das Werk, diese Sinfonie der Farben und empfindungsleuchtenden
Gesten, voll von – ach, was sind Worte in Anbetracht solcher Bilder. Ich
saß über das Weihnachtskonzert gebeugt und konnte mich nicht
satt daran sehen. Es gewann immer neue Bedeutungen, wurde sprechend, tönend,
regte sich, ich wollte ihm gerne aufzeigen, wie -
Aber
er hatte schon die Gitarre genommen und sich auf dem Drehstuhl zurechtgesetzt.
Er habe was Neues, das sei noch nicht aufgeschrieben, das sei gewissermaßen
das weibliche Gegenstück zu dem vorherigen Steineregen-Walzer.
Er
zögerte, drehte sich auf seinem Klavierstuhl zur Seite, die Gitarre
auf dem linken Bein, und schaute aus dem Fensterchen hinaus ins fahle Blau.
Ich war ganz ins leuchtende Gambenspiel unter dem filigranen Tempelbau
versunken, merkte kaum, daß er anfing, war wohl leicht weggedämmert
in den Lauten der spielenden Kinder auf der Straße und dem weichen
Rauschen des Verkehrs. In der Ferne hörte man immer Lautsprecher und
Gong des Bahnhofs, auch den hellen Klang und das Gleißen der Züge.
Eine
Melodie, aus Fernen in die Ferne, weit, weitklingend oben, von nur ganz
vereinzelten abgehackten Abbreviaturen unten kontrapunktiert. Ich vergaß
alles Beobachten, das analytische Nachzeichnen, in diesem Gedicht, in der
mondenen Traurigkeit aus Fernen in die Ferne. Singe mir ein altes Lied,
die Welt ist verkehrt und alle Himmel neigen sich.
Hatte
er geendet? Es war, als tönte es da draußen weiter, aus Sternen
in die Sterne. Ich blickte ins Blaue hinaus. Er sah meine Verlegenheit,
ahnte wohl meine versteckten Augenwinkeltränen und lächelte.