18.
Der Wein
Und
siehe: Die Windesbraut der lodernden Himmelsstürze dreht sich in fliegenden
Gewändern durch die Vorfrühlingsstürme herab, mit der Milch
ihrer Wolken die Erde zu überschäumen. Die Fischerin im pupillenschwarzen
Meer der Sterne rollt sich in die Netze ein, ihren luftigen Schal, und
kommt heim.
Die
Malerin der verflochtenen Gewächse und verblätterten Blüten,
die Sammlerin der Schuppen und Federn, der silbernen Häute des Mondes
und goldenen Wimpern der Sonne, sie nimmt ihren Medizinbeutel auf die Schulter
und steigt hinab ins Tal.
Die
geduldige Pilgerin, mit Augen von Asche umrändert, sie steht am Nachmittag
mit fragendem Blick in seiner Tür.
Lischa
legt ihren riesigen Hut auf den Schreibtisch, schält sich aus ihrem
Filzmantel, steht schlank da in ihrem grünen Wollrock mit roter Borte,
über den ein wilder Fluß schwarzer Locken sich reich verzweigt
und hinabwogendend nicht enden will; duftig färbt sich ihr Gesicht,
das im Wechsel von der nassen Kälte zur Hitze des kleinen Raumes heftig
aufglüht. Hendrik nimmt ihre kalten Hände an sein Gesicht, haucht
sie warm. Willst du Tee? – Ja bitte.
Wie
lange sie sich schon kennen, wer zählt die Jahre. Schon immer, Vertrautheit
ist zeitlos. Ohne Bewegung spürst du das Badewasser nicht. Als er
hinter der Tänzerin hergetaumelt ist, dieser verrückte Falter,
da hat sie erst diese allgegenwärtige Nähe gemerkt. Oder ist
sie verloren, diese Geschwisterschaft? Vorher ist er wohl Raupe gewesen,
Larve, nun verflatterte der Bunte, ungreiflich, im Spiel mit der Flamme,
mit dem flackernden Ende-Anfang, mit dem Licht.
Wohl
ist auch sie dem älteren Freund unters Dach gestiegen, hinauf und
hinab, Mansarden und Keller, treppauf treppab die geschichtete Stadt, die
Wanderin, Sucherin, Sammlerin, Fischerin, Menschin, Virago, Ischah. Denn
frei sind wir und neugierig auch, und sie ist frei und neugierig auch.
Den
leichten Vogel Wolfram mag sie gewiß – nein, es gibt keine Gründe,
nur eben alle Gründe. Und nun den jüngeren Schwärmer wieder
an sich zu ziehen, dazu ist der süße Sog in ihrer Brust sich
selbst schon Grund genug. Hat denn er etwa irgendwelche Absichten, Zwecke,
Pläne? Nein, der ist kein Verführer, kein Spieler. Er mag sie
einfach, und so mag sie ihn – das war schon immer so.
Ja
du willst mehr, du willst weniger. Du bist ein heimlicher Seelenvoyeur,
der weiß, unter den angeblichen Grundlosigkeiten ballt sich eine
panische Erregung, bohrende Lust, verschämtes Spiel; doch wenn ich
deren verschwiegene Rolle offenbare, wird es dann nicht erst vollends rätselhaft?
Gut,
du suchst keine Gründe. Soll ich dir glauben? Nein, laß also
mich fragen: Was weckt es denn, dieses Aphrodisiakum in den Gliedern? Da
mag etwas sein, da ist etwas, das erinnert an ein erstes Lächeln,
an Kindheitseindrücke, an das keimende Leben noch vor dem Einsetzen
der Erinnerung. Aber sieh einmal diesen Riß dort, ja diese Narbe
meine ich, das sind doch erste Tränen, ein feiner Saum, eine Spur
von Salz? Durch jene Vertrautheit des eigenen Namens, in der wir schwimmen,
zieht sich eine Fremdheit, eine versteckte Angst. Ältester Liebestrank
in den menschlichen Gliedern: Tränen, verdrückte, verspülte,
verdrängte – eine letzte Spur von Wehmut juckt irgendwo im Blut, in
den Wangengrübchen, in der Brust, unter der Haut, wenn dieser Schrecken
der Fremdheit sie berührt.
Worüber
nun reden, herumstottern, am Ende gar sich noch entschuldigen. Du fürchtest
ein wenig, daß sie nun fremd tut. Aber das will sie gar nicht. Die
Gute, sie kommt auf dich zu, sie zögert nicht, und sie hat auch nichts
von der überspielenden Härte der Erfahrenen. Nein, sie ist neugierig.
Süß ist sie; gewiß, dezent geschminkt, parfümiert,
verbirgt verlegen ihr Gesicht, lächelt durch die Finger.
Dann
blickt sie dich offen an – ein weiter Blick, weit weit offen die grüngoldenen
Meere, pupillenschwarz, tiefschwarz die Wellen der Haare, mütterliche,
schwesterliche, bräutliche Nacht, fließende Güte der Nacht,
Gnade der Nacht, dies pupillenschwarze Haar – - – ihr Mund bleibt geschlossen,
es sind ihre Wangen und Augenwinkel, die heiter aufleuchten. Ach diese
Haare! Sie ist zurückgekommen. Ohne Umstände. Sie ist da.
Erst
einmal hinsetzen. Ausatmen. Sich anschauen, halb hinter den Tassen versteckt.
Lacht sie? Er ist ein wenig verwundert. Summt sie? Er hört in sich,
lauscht er ihr?
Stille.
So
sitzen sie lange einander gegenüber, nur Schauen, verlegenes Lächeln,
dann entspannter Ernst, Frieden. Verwundern und Stille.
"Das
sind Evas Söhne, nicht wahr?" – Sie nickt zögernd. "Und es geht
in der Zeit rückwärts, so daß aus dem Mord am Hirten dessen
Heilung wird?" – "Ja, richtig erkannt." -
Und
Stille. Weiter rückschreitend gelangen wir zu dir, meine Liebe, denkt
er, war dir das bewußt? Und schon taucht er in diesen Anfang ein:
"Bis an die Geburt aus dem Ewigen hervor. Aber was bedeutet das denn nun:
Nach der Ewigkeit?" – "Ja – - -", murmelt sie in sich hinein, schweigt
zunächst aber eine Zeitlang, als beginne sie jetzt erst, darüber
nachzudenken.
"Selbst
wenn du annimmst", erläutert er deshalb seine Frage, "der Grundgedanke
von der Ewigkeit als einem alles in sich befassenden Augenblick, allbewußter
Allmacht, sei allgemein bekannt oder sei hier vorauszusetzen, so verlassen
wir doch mit diesem ewigen Höhepunkt alle zeitliche Distanz, alles
Vorher und Nachher, und wie kannst du dann sagen: Nach der Ewigkeit?"
Sie
ist aufgestanden und hat die Ölpastell-Stifte auf seinem Schreibtisch
aufgeklappt. Eine Handvoll der Farben nimmt sie zum Bett zurück, kniet
sich zur Wand, und während sie dort in weiträumigen Bewegungen
einen großen Regenbogenkreis auf die Tapete zieht, den sie rasch
zur Kugel ausschraffiert, antwortet sie mit ihrem angenehm breiten, rauh-weichen
Singsang:
"Genauso
gut, vielleicht noch besser, als: Vor der Ewigkeit. Die übliche Vorstellung
ist doch die: Erst kommt das begrenzte Leben der Taten, dann die ewige
Frucht dieser kurzen Blüte. Also da wird durchaus eine Kausalität,
eine zeitliche Reihe angesetzt. Aber widerspricht das nicht der unendlichen
Asymmetrie beider Phasen, wo die Frucht sich als das eigentliche, wirkliche
Leben erweist? Denn wenn diese Frucht himmlisch genannt wird, die Liebe
in Vollendung und Fülle enthalten und sein und auswirken soll, dann
muß es doch eine Kraft sein, die zurückkeimt in die Tatenwelt
der Individuen. Ja, der Glanz des flüchtigen Lebens läßt
sich fast nur als ein bunter Schimmer auf einer Haut von reifer Erfüllung
begreifen. Und die Lebenswege umschreiben ihren Zukunftskern wie Spuren
auf der Schale der Gegenwart, die ihn umrundet, umhüllt und enthält."
-
"Es
wäre aber nicht verkehrt, den Widerspruch aufzulösen – wie denn
etwas nach der Ewigkeit geschehen kann. Also: Nach dem Zeitlosen, – was
heißt hier: nach?"
"Gut,
ich habe stillschweigend unterstellt, oder vielmehr: ich habe gerade das
mit den Worten des Resignationslehrers Paulus durchspielen, durchführen
wollen, daß Ewigkeit zumindest genauso vor allen zeitlichen Ereignissen
liegen muß, wie nach ihnen; daß die Entwicklung der Lebenslinien
von ihrem Sonnenkeim ausgeht und in ihrer Sonnenfrucht einmündet,
so daß in ihr der Kreis geschlossen wird, wie im eisig glühenden,
brennend frostigen Purpur der Kreis der kühlen und warmen Farben -"
"Oder,
ja, vielleicht so, wie – wenn man die Tonika im harmonischen Strom vermeidet,
wie dann die Melodien sich ins Unendliche spannen und diese Spannung sich
zum anfangs- und endlosen Kreis der Kadenzen und Modulationstreppen schließt
- " Er sitzt bereits am Klavier, beginnt mit durchgedrücktem Pedal
den Quintenzirkel als langsames Arpeggio aufzutürmen, legt in diesen
durchtönenden Akkord eine nicht enden wollende chromatische Melodie
und verbleibt dann auf dem lang angestrebten, letzten einen Ton, den er
nicht Schlußton werden läßt, indem er ihn in immer andere
Harmonien einbettet und so, ihn ständig erneuernd, vielfältig
umdeutet. Aber er schließt den schwarzen Kasten bald wieder, neugierig
auf die Entwicklung des Mandalas an der Wand und auf Elischas metaphysische
Erläuterungen:
"So
wird es sein, das weißt du als Musiker wohl besser als ich; und wie
im Fluchtpunkt alle parallelen Wege in die Ferne sich kreuzen, und eben
dieser Fluchtpunkt, die Gesamtheit aller unendlichen Fernen, dehnt sich
zur Kugel des himmlischen Umkreises, zur allumgleitenden Vereinigung eines
immer sich schließenden Endens und eines immer neuen Beginnens, der
Ursprünge und Ziele – - – mmmh, es ist schwer, das mit Worten in den
Griff zu bekommen."
Doch
sie wird nicht müde, die Liebe, wie sie da mit fließenden Haaren
- ach diese pupillenschwarze Pracht über den weichen Celloformen ihres
biegsamen Rückens! – auf dem Bett hin und her wogt, mit den Knien
die Decken zerwühlt, mit der einen Hand sich auf der Wand abstützt,
mit der anderen die Farbreste in der Tapete zerreibt. Das Wandbild gestaltet
sich nach und nach zu einem großen Auge, zur runden Camera mit der
Linse an der Seite, von wo die bunte Außenwelt gebündelt einstrahlt
und sich zum umgekehrten Bild im Hohlspiegel des Hintergrundes wieder auffächert.
"Es
geht ja in beide Richtungen." führt sie aus, "Einerseits den Weg aus
der Zukunft hinab, wie ich ihn dir im Brief beschrieben habe, und andererseits
aus phantomartigen Vergangenheiten herauf, wie du geantwortet hast." -
"Ich
finde etwas dazwischen, das beide Wege kreuzt und erlöst." – Sie dreht
sich zu ihm, nimmt neue Wachsstücke aus dem Blechkasten, wartet aber
zunächst mit aufmerksamer Miene ab.
"Den
Frühling, den goldenen Keim: Die Zukunft geht in der Gegenwart auf
und belebt das Vergangene, Nichtige." -
"Also
doch ein Werden?" erinnert sie ihn lächelnd. "Ein Wachsen, Aufblättern,
Blühen? – Gewiß ja: Wo sich unsere Sinne öffnen, da treffen,
erleben, genießen, verdauen wir schon die herniederflammenden Götter,
wie sie sich den Menschen aufopfern und als Substanzen darreichen: Farben!
- in die Zeit hinein verschränkte Vereinigungen von Licht und Finsternis,
in Zeiten um Zeiten hervorbrechend aus der absoluten Identität von
Licht und Finsternis. Und Töne! Und Gerüche, Geschmäcker!
Und damit auch die Webmuster und Reihenbildungen in der Natur, diese Myriaden
Wellenschauer von Werden und Wiederwerden – - -"
Sie
schwankt, während sie es ausführt, in Worten und zugleich im
Bild, auf dem weichen Bett hin und her, den Arm weit ausgestreckt, nun
auch eine hochgebogene Landschaft außerhalb des Augenkreises zu entwerfen.
Das Mandala des Augapfels, in das sie schon eine umgestülpte Gebirgslandschaft
hineingearbeitet hat, bekommt immer mehr einen flammenden Blütencharakter,
so daß das Bild changiert in der Sichtweise als durchbrochene Jugendstiltapete
oder als übersterntes Felsengesplitter, durch den Punkt seitlich am
Kreis hinausgespiegelt, nach außen hin in einen noch weiteren Bogen
um das Ganze auseinandergezogen, ins planetarisch Runde verzerrt.
Hendrik
ist ein wenig verwirrt, aber mehr noch von der eigenen überbordenden
Phantasie und Vorstellungsflut, als von Elischas wild-illustrierten Auslassungen:
Flügel überdecken Flügel, durchdringen, durchzittern sich
gegenseitig in ihrer fiedrigen Substanz. Die Akkorde brechen ineinander,
wo ist da die zentrale Melodie? Sie schütteln sich im Fieber des Venusberg-Bacchanals,
im Farbenrausch eines brasilianischen Karnevalzuges, in der Polyrhythmik
des fast Regellosen, eben darin höchst raffiniert Geordneten. Er schwimmt
herüber zu ihr, sinkt in das Kopfkissen, während sie über
ihm fortfährt, so daß er sie in den Hüften festhalten muß.
Er schmiegt den Kopf unter ihre zarte Brust, den Blick zum Bild gewandt.
Sie
macht kurz Halt, legt den Arm um ihn und biegt sich ein wenig zurück,
um das farbige Gewirr als Ganzes ein wenig ins Auge zu fassen. "Nein",
sie zieht lachend die Augenbrauen hoch und schüttelt den Kopf, sieht
ihn an und dann wieder das Bild, vergleicht sein Auge mit dem gemalten,
"Halt still, ich muß noch Korrekturen anbringen."
Die
Gnadenwellen ihres nachtglänzenden Haars knistern elektrisch auf seinem
Pullover; er taucht ein in das schmerzliche Lächeln ihres Mundes,
in die feinen Wandlungen, die endlose Melodie der Zärtlichkeit in
ihrem Blick, ihrer Bewegung, ihrer schlichten Geste: Sein Gesicht hält
sie, seine Schläfen mit heißgearbeiteten Fingern, die grüngoldenen
Augen weit offen, Gesicht zu Gesicht, dicht an dicht, hingerissen von einer
süßen Furcht; es ist Anschauen, reines Anschauen, Sich-hinein-Schauen,
Einander-Lesen der Blicke, er legt seinen Zeigefinger auf ihren Mund.
Und
siehe: Die geduldige Pilgerin, mit Augen von Asche umrändert, sie
tritt ein, das Mahl mit ihm zu halten. Die Malerin der verflochtenen Gewächse
und verblätterten Blüten, die Sammlerin der Schuppen und Federn,
der silbernen Häute des Mondes und goldenen Wimpern der Sonne, sie
nimmt ihren Medizinbeutel von der Schulter und breitet ihre Substanzen
vor ihm aus.
Die
Fischerin entrollt sich aus ihren Netzen, ihrem luftigen Schal, weit wirft
sie den Schleier durch das pupillenschwarze Meer der Sterne.
Die
Windesbraut der lodernden Himmelsstürze dreht sich in fliegenden Gewändern
durch die Vorfrühlingsstürme empor, sein Atem trinkt die schäumende
Milch ihrer Wolken. – Ad astra.