Buchstaben – Nächte in
den Tag geprägt
Damit die Tage ihren Sinn
erblicken
Der Blinde trägt den
Lahmen auf dem Rücken
Bedeutungsarm ist was Bedeutung
trägt
Wenngleich das Opfer größer
ist: zu tragen
Und der Bedeutung Glanz vor
dem verglimmt
Was schöpferischer Wahn
zu sein bestimmt
Und aller Selberdeutung zu
entsagen
Den größten Reichtum
trägt Geröll und Sand
Gekräusel auch im Schaum
poröser Rinden
Kannst du die Schrift die
Ornamente finden
Die Salomon versiegelt mit
Verstand
Doch ärmer bin der Gärtner
ich: Geblendet
Wie mir die Blüten durch
die Sinne brennen
So liebe ich sie die sich
selbst nicht kennen
Bis ihre Anmut allen Reiz
vollendet
1.
Prolegomena zu einer jeden Metaphysik etc.
Ja,
der war schon ein Rätsel für sich, dieser Heinrich Tannhäuser,
mein Freund Hendrik. Du kanntest ihn auch, Cuillaut, nicht wahr? Der Musiker,
richtig. Das war einer, der das Experiment liebte. Er ritt sein Düsenjetspinett
zuschanden, zerriß unsere Drahtseilnerven, schmetterte seine Harfe
in die Sterne und lauschte den Echowellen in der galaktischen Brandung
nach – aber das genügte ihm nicht: Eines Tages behauptete er, unter
Wasser atmen zu können, und tauchte ab. Selbst ist das Experiment.
Eben,
Cuillaut, das ist es ja: Was sind wir lebensdurstigen Zeitgeschöpfe
allesamt denn anderes – als ein Drahtseilakt auf der Nervenharfe, ein einziger
gefährlich-offener Versuch?
Tja,
wenn das nicht zweideutig wäre: Es fragt sich doch, wer oder was sich
da an uns erfahren will. Ist da denn nicht ein kleiner Unterschied, ob
wir ein Fraß des Minotauros in den chemischen und überlebensstrategischen
Labyrinthen der Natur sind, – oder ob wir uns selbst in die Versuchung
führen? Stell dir vor, irgendwo äonentief in unseren Nervengeweben
lägen die verborgenen Meister, Geister, Götter, Spötter
auf der Lauer, die sich in unserem Ich selbst bemeistern, begeistern, vergotten,
verspotten wollten. – Jaja, das letzte wärst du, alter Spion, aber
jetzt halt mal still, sonst gerät das hier ins Protokoll und deine
Tarnung fliegt auf! -
Ich
erinnere mich noch gut daran, wie Hendrik zu mir kam und mir dieses Schwellenrätsel
aufgab. Das heißt, Rätsel ist zu viel gesagt; zuerst war das
nur eine Art rhetorischer Frage.
"Ist
es nicht ein Wunder", so begann er, "daß die Natur in ihrer Entfaltung,
in der Evolution, den Menschen dahin bringt, daß er eines Tages den
Schlüssel findet, der ihm die Pforten der Wahrnehmung öffnet,
und er sieht dann sie selbst, die Quelle allen Fragens, aus der eben diese
Frage selbst hervorgeht? Macht hoch die Tür, öffnet die Pforten
der Wahrnehmung, daß der König der Ehren ziehe ein! Wer ist
der Ehren König?", so sprang er durchs Zimmer, sang und dirigierte
in der Luft herum, als habe er eben den Messias empfangen. Und in dem Schneegebirge,
da fließt ein Brünnlein kalt und so weiter.
Ganz
genau, Cuillaut, das gleiche habe ich ihn auch gefragt. Wir sind ja nicht
blind noch taub, sollen wir offene Türen einrennen? Und überhaupt:
Wer den Brunnen des Lebens erblickt, der möge bittesehr daraus trinken,
oder besser: daraus schöpfen und uns einen guten Schluck abgeben!
Wenn
das denn wirklich besser ist als Wasser.
"Wasser
wandelt sich in Wein, wenn nur die Zunge sich löst, die flammenzarte.
Sapere aude – wage zu schmecken! Und als der fünfzigste Tag erfüllt
war und alle zusammen waren, erhob sich ein Brausen – "
Tja,
Cuillaut, dein Seufzer wischt all das kosmische Gerausche mit einem Atemzug
auf. Ist doch wahr, Kollege! Da setzen wir zwei Übersetzer uns über
die Sprachschwelle hinweg und dürfen nun Pfingstreden entwirren. Und
was ist das ganze Gestammel letzten Endes? Alles alte Metaphysik, voller
Banalitäten. Jedermanns Wahrheiten.
Es
kann sich doch nicht darum handeln, die synthetischen Urteile a priori
in popmusikalischer Fassung an alle Plakatwände zu klatschen, "that
we all are one" und so fort. Was hätte denn irgendwer davon, zu hören,
daß die Zeit die Gestalt des Bewußtseins ist, das sich mit
sich selbst befaßt? Und daß alle Welt in dieser Selbsterinnerungs-Struktur
stattfindet, so daß eines jeden Ich das All umspannt?
Und
daß wir uns ineinander verschränken, wo jedes Ich die umfaßt,
die ihm begegnen? Kräfte müssen da sein, die uns voneinander
treiben, Persönlichkeit, Erfahrungsdifferenz, Neigungs- und Abneigungswinkel;
und Welten zwischen uns, Häutungen, Spuren vergangener, vergessener
Wanderungen und Wandlungen: Woher? Wohin? Wozu?
Oder,
daß das Denken eine Art Geburtsprozeß ist?
Oder,
daß dieser Geburtsprozeß der Gedanken im Totenreich stattfindet,
aufkeimt, wo alle Geister zuhause sind, seien sie verstorben, seien sie
ungeboren, wir selbst aber sehen mit unseren Sinnen nur diese hervorgeborene,
herausgestorbene Außenseite des allbegreifenden, allseienden, alles
liebenden -
"Ja",
beruhigte er sich, "des Alles, des Einen, gewiß. Aber nur nicht im
Sinne der blassen Tautologie. Das ist ja gerade die Frage, was die Substanz
des ganzen bunten Treibens hier ist. Wasser, ja gut, so mag man es nennen,
und es ist und bleibt Wasser, aber es schmeckt dem, der hoch die Tür
die Tor macht weit, wie Wein. Wer von dem Brünnlein trinket, wer diese
Farben atmet, berauscht sich an Güte, an Sorgfalt, und schmeckt eine
Zärtlichkeit, den Knospenmund der Blüte Zeit, wird jung und niemals
alt, wird jung und niemals alt."
Gut
und schön, habe ich ihm damals gesagt, dann setz dich auf deine vier
Buchstaben und schöpfe, schaffe, gestalte das auf deine Weise aus,
schreib's auf. Bring den wuchernden Silbensalat in eine wiederholbare Form,
dokumentier deinen Gesang, gib deiner Binnenreederei einen klug verästelten
Binnenhafen: Produktion, Werk, Niederschrift! Dann werden wir uns auch
daranwagen, versprach ich ihm, und das Ding zu übersetzen versuchen.
Aber zuerst einmal laß es gelten, wie es ist, ohne unsere Deutung.
Eine kleine Weile muß das auch ohne einen interpretierenden Verstand
auskommen. Das Rätsel sollte nicht vor der berühmten Frist von
fünfzig Tagen gelöst sein. Laß dem Leben seine frische
Eigenkraft, darin liegt sein Nährwert, nicht in den Bedeutungen, in
die wir es dann auflösen. Musik spricht erst einmal für sich
selbst.
Ja,
so war das.
Nein,
Cuillaut, das hat keinen interessiert. Frag mich nicht, warum, aber er
hat keinen Verlag gefunden, der seine Notendichtung veröffentlicht.
Einmal war ich dabei, als er ein Lied aus dem ganzen Zyklus selbst aufführte.
Unter Elischas Schutz kam er damals noch einigermaßen heil aus dem
Keller heraus, sonst wäre es ihm wohl übel ergangen. Das waren
die Umstände, ich glaube nicht einmal, daß es an dem Lied lag.
Denn das hat damals bestimmt keiner verstanden, in dem Lärm.
Und
die Lektoren! Liktoren die! Die nahmen die Axt aus dem Rutenbündel
und bewiesen ihm, daß sie ein Amt hatten. Den einen war das zu ernst,
nicht leicht genug; vergnüglich müsse ein Werk sein. "Wir lesen
darin ein arg angestrengtes Bemühen um einen Tiefsinn, der sich uns
aber nicht erschließt." – Was ist Tiefsinn, lachte er sie an.
Dann
kam die Retourkutsche, man erkenne nicht so recht das Warum und Wozu, es
sei – überflüssig. Voller Kuckucke. – Wiebitte? – "Sie sagen
uns nichts Neues. Da sehe ich eine Terz im Nest quirliger Amseln. Und hier,
um Gottes willen, das kann man ja beinahe schon singen!?" – Man nennt es
Melodie, antwortete er dann. Musik ist ein Spiel, und Spiel ist nun einmal
überflüssig.
Schließlich
gab er das Schulterzucken auf und machte sich auf die Reise. Nein, das
ist ja gerade das Rätsel, das er uns aufgab, wir wußten nicht
genau und ausdrücklich, wo er abtauchte. Wir verloren ihn aus den
Augen.
Eine
Zeitlang noch erreichten uns seine Briefe, ein unverständliches Kauderwelsch;
schließlich wurde sein Gekrakel unlesbar. Der Sinn seiner Worte versank
in Musik, am Ende sandte er uns nur noch Kompositionen in einer eigentümlichen
Schrift, lauter farbige Linien, die wir als Klangnotation deuteten. Elischa
sammelte die Blätter, erkannte sie als Partituren und las sich in
sie hinein.
Vieles
mußte sie sich ergänzen, tat es auf ihre eigene Weise, indem
sie die endlosen Sequenzen und Modulationstreppen, die sie dort fand, in
Arabesken, Flechtbänder, Tapetenmuster übertrug.
So
wuchs sein musikalisches Experiment in ihr zum Farbengeflecht, wurde ihr
Werk zu einem Versuch, seinen Versuch vom Akustischen ins Optische hinüberzuspiegeln.
Lauter Bilder, kalligraphische Wälder, transparente Blätter,
deren Gestalten ineinanderscheinen.
Die
Unregelmäßigkeiten der Struktur konnte sie nicht deuten, bis
sie eines Tages eine Krümmung in den endlosen Flächen bemerkte.
Die Landkarte der Klänge bog sich mit einem Male auf zum Relief, wurde
sprechend und zeigte sich als eine mehrdimensionale Gestalt, die den Charakter
von Persönlichkeit hatte, genauer: in die das Wechselspiel mehrerer
Personen hineingefaltet war.
Und
dann kam ihr die Ahnung: Diese Personen waren wir selbst, aber merkwürdig
ineinandergeschoben, als wären wir eins.
Moment,
ich zeig dir mal was.
Da
staunst du, nicht wahr? Rat mal, was das ist.
Eine
Zwiebel, ja, gut. Zwiebel! Lieber Kollege, das ist ein Manuskript. Rat
mal, was es enthält.
Diese
winzigen Skizzen, jawohl, das sind Elischas Notizen von Heinrichs Reisen
und ästhetischen Beweisen. Natürlich kenne ich es, ich war dabei,
als sie es malte.
Tja,
da haben wir die Bescherung: Die Mappe, dieses Bündel hier, sieht
aus wie ein Schmorbraten. Wollte sie so, wie du es siehst, verbrennen.
Dabei habe ich ihr schon so oft gezeigt, wie man die Blätter auseinandernehmen
muß, wenn man ein Flammenopfer durchführen will!
Nun,
die Anfangs- und Endkapitel müssen wir neuschreiben, die sind hinüber.
Aber hier, wenn ich das vorsichtig abhebe, siehst du – das müssen
wir Blatt für Blatt ablösen, die Schriften haben sich dabei auch
noch überlagert, das ist ein arg verklebtes Palimpsest, Geschichte
in allen Bedeutungen der Worte. Blickst du noch durch? Ist doch nicht schwer;
die Lücken ergänzen sich von allein in Analogie zu den durchscheinenden
Reimen: Mein Gott, ist das be... ??? ... geb mich gleich; der Wolf hat's
... brochen, das Schaf wird schon ger..., gerächt und hingerichtet,
gedacht und hinged... – komm her, Cuillot, du F..., bist du denn nicht
der Meister im Entziffern solcher Schnörkel?
Nee,
tut mir leid, mon ami, ich kann die Kringel nicht lesen; ich bin bloß
der Protokollant in diesem Ding hier; der Leser bist du! Deine Arbeit ist
das! Kusch, Cuillaut! Das haben wir doch noch nie anders gemacht, das ist
bei uns so Brauch, und so machen wir's jetzt auch: Du entzifferst und ich
übersetze. Du fragst und ich antworte, na klar, mit Gegenfragen.
Hei
nun, was kann ich dafür? Lischa hat mich gegen meinen Willen als Ich-Erzähler
eingesetzt, obwohl es doch ihr ureigenstes Werk ist und im Grunde genommen
den Freund und dessen Experiment zum Thema hat. Jedenfalls nach dem, was
auf dem verkohlten Deckblatt übriggeblieben ist: ??? ... NOCH EINEN
TANNHÄUSER SCHULDIG. – Sehr gelehrt. Oder verstehst du's?
Vielleicht
hilft uns der Untertitel weiter. Schwierig. Das könnte heißen
- warte mal – mmmh – "Venusberg-Akten", glaube ich – -
Komm,
krieg dich wieder ein, Cuillaut! Meinetwegen – taufen wir diesen krausen
Lusthügel und Sesamgarten um, bevor wir uns daran freuen, ihn zu öffnen.
- Also, was meinst du? Zwiebelakten – nein; Goldzwiebel? Was soll's. Fangen
wir an, und der richtige Titel wird sich finden. Wir müssen ja ohnehin
die Schlußkapitel hinzubasteln.
Was,
"Fälschung"? Seit wann nennst ausgerechnet du, Cuillaut, unsere Arbeit
denn "Fälschung"? Meinst du etwa, ich, Wolfram von Lischas Gnaden,
hätte das alles verbrochen und benutzte die Freunde, um von mir abzulenken?
Aber gib's doch zu: Erfinden ist allemal besser als Finden, na? Und Interpretation
ist beides, das eine durchs andere. Du bist an der Reihe, Cuillaut. Versuchen
wir's?
Nun
denn.