|
|
Personen:
Titurel – Baß Gurnemanz – Baß Parsifal – Tenor
– Tenor und Baß Vier Knappen – 2 Soprane, 2 Tenöre KIingsors Zaubermädchen
-
|
Unter
den sechs Hauptpersonen des Wagnerschen "Parsifal" sind zwei stark umgedeutete,
eigentlich aus mehreren Personen des Gralsepos (Wolfram) "zusammengefaßte"
Figuren, nämlich
Gurnemanz, der vom ritterlichen Lehrer in höfischem Betragen (Wolfram 162-179) hier zu einem spirituellen Lehrer der Gralsschule wird und damit eher die Funktionen und die gewichtige Bedeutung Trevrizents übernimmt; und Kundry, die zwar u.a. auch die Botenfunktionen der gleichnamigen Gestalt aus dem Gralsepos übernimmt, aber eine ganz neuartige, tragende Rolle im Verführungsdrama Wagners gewinnt; Klingsor gewinnt gleichfalls an tragender Bedeutung als Gegenfigur zu Amfortas und Titurel mit seiner komplementären Gegenwelt zur Gralsburg, wo auch die "Zaubermädchen" (vgl. Wolfram, die Schastel-marveil-Aventiure Gawans 558 ff, dort auch 637 der Zauberer Clinschor als Herr über die eingeschlossenen Frauen) im zweiten Parsifal-Akt eigenartig süß aufblühen dürfen. Die "Brüderschaft der Gralsritter" dagegen wird bei Wagner eindeutig als Orden esoterisch-selbstsüchtiger, mitleidsloser Parasiten am Leid des Gralskönigs charakterisiert. |
Ort
der Handlung:
Auf dem Gebiete und in der Burg der Gralshüter «Monsalvat»; Gegend im Charakter der nördlichen Gebirge des gotischen Spaniens. Sodann: Klingsors Zauberschloß, am Südabhange derselben Gebirge, dem arabischen Spanien zugewandt anzunehmen. |
Die Jenseitigkeit der Gralsburg besonders bei Wolfram wird zum einen dadurch kenntlich, daß Parzival nur ohne alle eigene Absicht in ihr Gebiet gelangt, zum andern durch das Seelen-Bild der Sigune mit ihrem toten Bräutigam, durch das immer eine Art Bewußtseinsschwelle angezeigt wird. In diesem Grenzbereich findet auch die "Trevrizentbeichte" statt (bezeichnend der Sieg über den Gralsritter unmittelbar vor der Pilgerbegegnung). Wagners Gralsburg "in Spanien" vertritt eher das Christentum gegenüber Klingsors Zauberschloß auf der "arabischen" Seite des Gebirgszugs, ganz gegen die arabisch-heidnische Herkunft der Grals-"Sternendeutung" bei Wolfram und die Unentschiedenheit der Engel, die ihn hüten. |
Original-Orchesterbesetzung:
Streichinstrumente: 16 Violinen I, 16 Violinen II, 12 Bratschen, 12 Violoncelli, 8 Kontrabässe Saiteninstrumente: 2 Harfen Holzblasinstrumente: 3 Oboen, 3 große Flöten, 1 Englisch Horn, 3 Klarinetten, 1 Baßklarinette, 3 Fagotte, 1 Kontrafagott Blechinstrumente: 4 Hörner, 3 Trompeten, 3 Posaunen, 1 Baßtuba Schlaginstrumente: 2 Pauken Auf der Bühne: 2 Trompeten, 4 Posaunen, 1 Rührtrommel, Glockenspiel |
Wagners Klangarbeit repräsentiert erst eigentlich die Grundidee: Sie versinnlicht den "Gral" in solchem Maße, daß die Erzählung, auch in ihrer märchenförmig symmetrischen Umarbeitung durch den Dramatiker, als immanent-imaginatives Bei-Spiel der musikalischen Komposition gelten kann, das in deren polyphonen Schichtungen und harmonikal-chromatischen Polaritäten restlos aufgeht, vom ersten Dreiklangsmotiv (s.u. die Skizze zum Vorspiel) bis hin zur unbegrenzt aufsteigenden Quintenzirkularität des "Erlösung dem Erlöser dem Erlöser..."-Motivs des von da an nie mehr verschlossenen Grals. |
doch nicht düster Eine Lichtung in der Mitte. Links aufsteigend wird der Weg zur Gralsburg angenommen. Der Mitte des Hintergrundes zu senkt sich der Boden zu einem tiefer gelegenen Waldsee hinab. - |
vgl. den parallel
gebauten
Beginn des dritten Aufzugs |
Tagesanbruch. | Bei Wolfram kommt der junge Held, der den ganzen Tag unterwegs war, gegen Abend an und nimmt an einem Nachtmahl bzw. "Abendmahl" in allen Bedeutungen des Wortes teil. |
Gurnemanz (rüstig greisenhaft) und zwei Knappen (von zartem Jünglingsalter) sind schlafend unter einem Baume gelagert. - Von der linken Seite, wie von der Gralsburg her, ertönt der feierliche Morgenweckruf der Posaunen. |
|
GURNEMANZ
(erwachend und die Knaben rüttelnd)
Schlafhüter mitsammen, so wacht doch mindest am Morgen! und verrichtet mit ihnen gemeinschaftlich stumm das Morgengebet. Sie erheben sich langsam.) |
Für den
Hörer des Wagnerschen Werkes, der gerade erst die harmonischen Wandlungen
des Vorspiels von der kadenzklaren Tonalität der Gralsmotive über
deren Moll-Durchführung
hinein in das kompliziert verstrickte Schmerzensmotiv
des Amfortas verfolgt hat und der nun mit "dem Ruf" den Anfang des Anfangs
vernimmt, reicht die Frage des Gurnemanz über die Szene hinaus.
Mysteriendrama (das heißt "Bühnenweihfestspiel"): der Hörer ist ein "berufener" Auditor: ho echôn ôta akouein akouetô, "wer Ohren hat zu hören, der höre." Aber die Schulung zeigt keine übertriebene Strenge gegenüber den "Schlafhütern", wie auch im weiteren Verlauf der Lehrer Gurnemanz sich durch Milde, Verständnis und didaktisches Überzeugen auszeichnet (so auch bei Wolfram 174, vgl. auch Trevrizents Reaktion auf das Bekenntnis Parzivals: Er hätte "seine fünf Sinne benutzen" sollen). |
Seht nach dem Bad. Zeit ist's, des Königs dort zu harren.
seh' ich die Boten schon uns nah'n!
Wohl früh verlangt' er nach dem Bade: das Heilkraut, das Gawan mit List und Klugheit ihm gewann, ich wähne, daß das Lind'rung schuf?
Ihm kehrten sehrender nur die Schmerzen bald zurück: schlaflos von starkem Bresten, befahl er eifrig uns das Bad. (das Haupt traurig senkend)
wo einzig Heilung lindert! Nach allen Kräutern, allen Tränken forscht und jagt weit durch die Welt: ihm hilft nur Eines - nur der Eine.
(ausweichend)
|
Bei Wagner dient
der See im Gralsgebiet zum Bad des Kranken und zur Linderung seiner Schmerzen;
bei Wolfram verbindet sich mit diesem See namens "Brumbane" zugleich die
(zunächst nur rätselhafte, biblisch-apostolisch anmutende) Benennung
des Anfortas als "Fischer" oder "Fischerkönig": "Er kann weder
reiten noch gehen, weder liegen noch stehen, er lehnt sich an, ohne richtig
zu sitzen", so läßt er sich also vom Wasser dort tragen; die
Lüfte des Sees vertreiben zudem auch den üblen Geruch seiner
Wunde – "daher stammt die Geschichte, er wäre ein Fischer" (Parzival
491). Allerdings ist bei Robert de Boron "der reiche Fischer" Titel des
Gralskönigs Hebron bzw. Bron, da dieser zur durchsichtigen, mit dem
Blut Christi gefüllten Kristallschale, dem "Gral", und der Patene,
die ihm aufliegt, als dritten "Ritualgegenstand" einen Fisch hinzufügte
(siehe auch das "Fisch"-Erlebnis
im Vergleich der Speisungswunder unten).
Auch bei Wolfram ist die eifrige weltweite Suche nach einem Heilmittel für die Wunder des Königs völlig zwecklos: nur die Mitleidsfrage eines Fremden kann den König erlösen (Parzival 483), wie im Folgenden wiederholt und vollständiger ausgeführt werden wird. |
(Die beiden Knappen
haben sich
dem Hintergrunde zugewendet und blicken nach rechts.) ZWEITER KNAPPE
ZWEITER RITTER
(stürzt hastig, fast taumelnd herein. Wilde Kleidung, hoch geschürzt; Gürtel von Schlangenhäuten lang herabhängend; schwarzes, in losen Zöpfen flatterndes Haar; tief braunrötliche Gesichtsfarbe; stechende schwarze Augen, zuweilen wild aufblitzend, öfters wie todesstarr und unbeweglich. Sie eilt auf Gurnemanz zu und dringt ihm ein kleines Kristallgefaß auf)
Hilft der Balsam nicht, Arabia birgt dann nichts mehr zu seinem Heil. - Fragt nicht weiter! Ich bin müde. |
"Cundrie,
surziere (Zauberin) was ir zuoname" - so heißt bei Wolfram die häßliche Frau, die (bei Chrétien noch anonym) am Artushof erscheint, kaum daß Parzival dort aus der Faszination der drei Blutstropfen im Schnee herausgerissen und in die Ritterrunde aufgenommen worden ist. Dort verflucht sie ihn im Prophetenstil und reitet dann auf ihrem Maultier weiter. Chrétien (4608 ff) und Wolfram (312) stimmen in der Beschreibung ihrer Häßlichkeit wie ihres Reittieres überein; aber sie ist bei Wolfram zugleich kostbar mit schwerer Seide gekleidet und ist zu allem Überfluß noch hochgelehrt, d.h. sie kann Latein, Arabisch und Französisch und beherrscht Logik, Geometrie und Astronomie. Von ihrer äußerlichen Beschreibung sind bei Wagner nur die schwarzen Zöpfe übriggeblieben, - Chrétien (4614): "La damoisele fu trechie a deus treches tortes et noires" (Ihr Haar trug sie in zwei wirren schwarzen Zöpfen), - Wolfram (313): "über den huot ein zopf ir swanc unz ûf den mûl: der was sô lanc, swarz, herte und niht ze clâr, lind als eins swînes rückehâr"; alles weitere bei Wagner ist originell; sie ist auch nicht der Ausbund von Häßlichkeit, wie bei den beiden Epikern, sondern (in Spanien immerhin) eine Art "Carmen", Zigeunerin mit Verführungsreiz, ein wildes Naturwesen, zauberkräftig nicht so sehr durch die Kompensation ihrer Häßlichkeit mit scharfer Klugheit, ja Prophetie (wie bei Chrétien) oder durch Gelehrtheit in den sieben freien Künsten (wie bei Wolfram), als wegen ihrer seelischen Zerrissenheit und ihres erfahrungstiefen Alters durch mehrere Inkarnationen hindurch, hier nur knapp symbolisch repräsentiert mit ihrem "Gürtel von Schlangenhäuten". Und sie, die Verführerin und Ursache der Verwundung des Königs, reicht einen Balsam "von weiter her als du denken kannst", – von jenseits des Bewußtseins – ein, wie wir erfahren werden, weit stärkerer Kompensationsdrang als bei der häßlichen Prophetin im Epos. In der Tat ist sie die tragende Figur der ganzen Handlung, Ursache und treibende Kraft. Die Kompensation ihrer hier noch verborgenen "Nachtseite" (die aber als "Schlaf" hervordrängt) beansprucht ihre Kräfte so sehr, daß sie sofort von einer unwiderstehlichen Müdigkeit überwältigt wird – mitten am Tage! |
(Ein Zug von Knappen
und Rittern,
die Sänfte tragend und geleitend, in welcher Amfortas ausgestreckt liegt, gelangt, von links her, auf die Bühne. - Gurnemanz hat sich, von Kundry ab-, sogleich den Ankommenden zugewendet.) GURNEMANZ
O weh'! Wie trag' ich's im Gemüte, in seiner Mannheit stolzer Blüte des siegreichsten Geschlechtes Herrn als seines Siechtums Knecht zu seh'n!
und stellen das Siechbett nieder) AMFORTAS
Ein wenig Rast. - Nach wilder Schmerzensnacht nun Waldes-Morgenpracht. Im heil'gen See wohl labt mich auch die Welle: es staunt das Weh', die Schmerzensnacht wird helle. - Gawan!
Da seines Heilkrauts Kraft, wie schwer er's auch errungen, doch deine Hoffnung trog, hat er auf neue Suche sich fortgeschwungen.
daß schlecht er Gralsgebote hält! O wehe ihm, dem trotzig Kühnen, wenn er in Klingsors Schlingen fällt! So breche keiner mir den Frieden: ich harre des, der mir beschieden. «Durch Mitleid wissend» - war's nicht so?
mich dünkt ihn zu erkennen: dürft' ich den Tod ihn nennen! (indem er Amfortas das Fläschchen Kundrys überreicht)
Auf, Kundry, komm! AMFORTAS
Muß ich dir nochmals danken, du rastlos scheue Magd? - Wohlan! Den Balsam nun versuch' ich noch; es sei aus Dank für deine Treue! (unruhig und heftig am Boden sich bewegend)
Nicht Dank! Fort, fort! Ins Bad! (Der Zug entfernt sich nach dem tieferen Hintergrunde zu. - |
Innerhalb der
Gralsburgszene bei Chrétien und Wolfram sind die Leiden des Anfortas
diskret mit Symbolen verhüllt, die
erst durch die Erklärungen Sigunes (unmittelbar
nach der Gralsbegegnung) und später besonders durch Trevrizents
Ausführungen "lesbar" werden.
Sogar das friedlich-zivile Eingangsbild des "Fischers" auf dem See beinhaltet (wie bereits erklärt wurde) den Schmerz des Verwundeten, der "weder reiten noch gehen, weder liegen noch stehen" kann (Parzival 491) und auf dem See Linderung sucht. Daß der Schmerz nicht schwindet, sondern nur gewissermaßen "umgefärbt" wird – "aufgehellt", also vielleicht sogar verstärkt in eine andere Richtung – entspricht den Gegenschmerzmitteln in Trevrizents Bericht: die Saturnskälte und der blutende Speer. Hier ist die Musik sprechend (wie immer in Wagners Werk): der eigenartige Klang der Hörner, ganz Gegen-Impression zum gleißenden, scharf von Trompeten überglänzten Unisono der Streicher im Motiv der Gralenthüllung, wo die "Schmerzensnacht" des zelebrierenden Königs auf eine ganz andere Art und Weise "helle wird", und mit der entsprechenden harmonischen Chromatik besonders bei der Mollvariante des Motivs ("Nehmet hin mein Blut, nehmet hin meinen Leib"). Gawan wird bei Wagner vom Befreier des Schastel marveil hier auf einen durch Klingsor (also eben durch das Zauberschloß) gefährdeten Heilmittelsucher reduziert, so daß sein Anteil an der Gesamthandlung des Epos auf Parsifal übertragen werden kann. Die Verheißung der Heilung durch einen Fremden, der die symbolhaft-diskrete Verschleierung der Ereignisse mit einer schlichten Mitleidsfrage durchdringt: bei Sigune und, als Gipfel der Heilungssuche, bei Trevrizent. Exotik der Heilmittel – noch ist die arabische Kultur die medizinisch, wissenschaftlich und technisch überlegene Nachbarkultur des Abendlandes – in Trevrizents Bericht; der Begriff des "Heidnischen" ist bei Wolfram niemals pejorativ; zwar macht die Taufe hellsichtig, aber meistens nur für Geheimnisse, die doch von den "Heiden" selbst erst dargeboten werden. Bei Wagner schimmert durch die Exotik – "heimliches Gefäß aus Arabia", aber auch das zigeunerhafte Erscheinungsbild (gemäß Merimee: Carmen; vgl. Nietzsches Äußerung, er habe sich durch übermäßigen, suchtartigen Genuß der Bizet-Oper von Wagners Psychologismen heilen wollen...) der Surziere Kundry – schon der Verdacht durch, daß es hier nicht mit rechten Dingen zugeht: "Arabia" ist Klingsors Welthälfte; die soeben vom Himmel hier auf die Erde gestürzte wilde Reiterin (wie die "wilde Jagd") bringt das Heilmittel von dort her, von ihrer eigenen Nachtseite, die (so sagt sie selbst) der Gralslehrer Gurnemanz mit seinem Bewußtsein nicht erreichen kann. Kundry vermeidet die unmittelbare Begegnung und Berührung mit dem Gralskönig; Gurnemanz soll es weitergeben; Dank nimmt sie nicht an. Sie hat wohl eine gefühlsartige Ahnung von Schuld, Kompensation, Wirksamkeit und Unwirksamkeit in ihrem Versuch, während die Äußerung des Kranken mit Blick auf die Gesamthandlung geradezu grotesk erscheint: "es sei aus Dank für deine Treue" – das Oberflächenbewußtsein verkehrt die "wahren" Sachverhalte und verbirgt sie mit Harmlosigkeiten. Diese dramatische Polarität und Spannung wird von Freud in der bekannten Weise beschrieben (z.B. in seiner "Traumdeutung"), ist aber durch die griechische Tragödie und besonders durch Wagners Bühnenwerke seit jeher ausgestaltet worden; Nietzsche, angeregt durch Schopenhauer, aber selbst Altphilologe und glühender Wagnerianer, greift das romantische Begriffspaar "dionysisch"-"apollinisch" von Creuzer und Schelling auf und bezieht es auf die spannende Polarität des dionysischen Wahns und seiner apollinischen Bewältigung im Bewußtsein: "Die Geburt der Tragödie aus dem Geiste der Musik" (1871); vgl. insbesondere zu Beginn dieser Schrift die Bildbeschreibung der "Verklärung" von Raffaelo Santi im Vatikanischen Museum, wo mit der schwebenden Christusgestalt oben die vergebliche Heilung des Besessenen durch die Jünger unten kontrastiert und die einzige Verbindung der unteren und der oberen Bildhälfte durch den Blick des "Besessenen" nach oben zur schwebenden Gestalt geknüpft wird. Man beachte insbesondere die rätselhafte kniende Frauengestalt in der unteren Bildhälfte. |
Gurnemanz, schwermütig
nachblickend,
und Kundry, fortwährend auf dem Boden gelagert, sind zurückgeblieben. - Knappen gehen ab und zu.) DRITTER KNAPPE
Was liegst du dort wie ein wildes Tier?
das wissen wir grad' noch nicht.
wird sie den Meister vollends verderben.
Wann Alles ratlos steht, wie kämpfenden Brüdern in fernste Länder Kunde sei zu entsenden, und kaum ihr nur wißt, wohin? - Wer, ehe ihr euch nur besinnt, stürmt und fliegt da hin und zurück, der Botschaft pflegend mit Treu' und Glück? Ihr nährt sie nicht, sie naht euch nie, nichts hat sie mit euch gemein; doch wann's in Gefahr der Hilfe gilt, der Eifer führt sie schier durch die Luft die nie euch dann zum Danke ruft. Ich wähne, ist dies Schaden, so tät' er euch gut geraten?
Sieh' nur, wie hämisch dort nach uns sie blickt!
Hier lebt sie heut' – vielleicht erneut, zu büßen Schuld aus früh'rem Leben, die dorten ihr noch nicht vergeben. Übt sie nun Buß' in solchen Taten, die uns Ritterschaft zum Heil geraten, gut tut sie dann und recht sicherlich, dienet uns – und hilft auch sich.
die uns so manche Not gebracht? |
Daß die
Knappen, unerzogen, ohne Anstand, noch eine Ahnung oder kaum bewußte
Kenntnis davon haben, daß mit Kundry "irgendetwas nicht stimmt",
gegenüber dem grotesken Verkennen der Situation durch ihr Verführungsopfer
Amfortas und den Lehrer Gurnemanz, zeigt, daß sie in gewisser Weise
näher beieinanderstehen und etwas gemeinsam haben – wohl die Natürlichkeit
der Jugend, die der personalen Verkörperung der Natur, Kundry, enger
verwandt ist als die höfisch-höflichen Alten. Kundry als Natur-Personalisierung,
nicht bloß als wildes Naturwesen mit naturhaft verdichteter Verführungs-,
Hellsichtigkeits- und Heilkraft: Sie "stürmt und fliegt" durch die
Luft wie eine Walküre, wie Odins wilde Jagd, wie ein Wind- und Wettergeist.
Andererseits müßten die beiden Alten, besonders Gurnemanz, mit ihr die Erfahrung und Lebensweisheit gemeinsam haben; Gurnemanz ruft ihre "Leistungen" ins Gedächtnis, erkennt und erklärt sie auch allmählich als Kompensation, und führt, fast unmerklich, die Erwägung an das offene Problem heran: daß die Helferin immer dann, wenn wirkliche Hilfe vonnöten war, fernblieb. Daß sie die "Ursache" selbst ist, diese Einsicht rückt näher heran an seine Reflexion, erreicht ihn aber nicht. Die tiefste seiner Einsichten: daß der Eifer, für den sie jeden Dank abweist, einem Kompensationsbedürfnis entspringt, das über ihre bewußt erreichbare individuelle jetzige Lebenssphäre hinausreicht, führt seine Erwägungen sogar an die Möglichkeit heran, daß sie Handlungen aus "früheren Leben" durch helfende Taten ausgleicht, also auf die klassische "Karma"-Idee - hier allerdings individuell auf die helfende Botin bezogen, noch nicht zu einem Prinzip für das Tatenausgleichsgeflecht aller Menschen verallgemeinert. Die etwas unverschämte Rückfrage des dritten Knappen: ob denn nicht von dem Helfersyndrom der ruhelosen Gralsbotin, also von ihrem Bedürfnis, frühere Schuld auszugleichen, auch darauf geschlossen werden könne, daß sie die Ursache "mancher Not" der Gralsritterschaft sein könne, ist logisch genug, den Lehrer Gurnemanz nahe an die Wurzel des Problems heran zu rücken. "Schuld aus früherem Leben" müßte allerdings nicht mit dem Gral und seiner Ritterschaft zusammenhängen; Schuld am Gral oder seiner Ritterschaft läge eher in diesem Leben, in dem Bereich, den das Bewußtsein des Lehrers als Gralsgeschichte überschaut. Das Motiv der Verkörperungen-Kette Kundrys wird erst im zweiten Akt durch Klingsor aufgegriffen und gewissermaßen im Nachhinein "bestätigt"; die Frage nach einem engeren Zusammenhang von verborgener Schuldursache und ausgleichendem Tatendrang wird nun durch den dialogisch-lehrenden Gurnemanz zugeschärft und bringt die Verwundung des Amfortas zur Anamnese. Man vergleiche die Schuld oder Nichtschuld der Engel, die den Gral hüten: Sie haben sich im Kampf zwischen Michael und dem Drachen nicht entschieden – ob Gott ihnen vergeben habe, muß selbst dem theologisch klarsichtigen Trevrizent offenbleiben. |
GURNEMANZ
(sich besinnend)
dann brach ein Unglück wohl herein. Und lang' schon kenn' ich sie: doch Titurel kennt sie noch länger: Der fand, als er die Burg dort baute, sie schlafend hier im Waldgestrüpp, erstarrt, leblos, wie tot. So fand ich selbst sie letztlich wieder, als uns das Unheil kaum gescheh'n, das jener Böse über den Bergen so schmählich über uns gebracht. -
wo schweiftest damals du umher, als unser Herr den Speer verlor?
so sende sie nach dem verlor'nen Speer! (düster)
jedem ist's verwehrt. -
heiliger Speer! Ich sah dich schwingen von unheiligster Hand! - |
So weit erkennt
auch Gurnemanz die Zusammenhänge: Zum einen ist mit dem Schaden für
den Gral und seine Hüter jeweils eine längere Abwesenheit
Kundrys verbunden. Zum zweiten ist sie allen Gralsgenerationen,
auch der ältesten, nämlich Titurel, bekannt. Zum dritten taucht
sie aus tranceartigen Zuständen
auf, wenn sie nach längerer Abwesenheit "gefunden"
wird, und das im "Waldgestrüpp", geradezu verflochten mit der wilden
Natur, die sie personifiziert. Eben so wird sie ja auch im
dritten Akt auftauchen.
Dieses Bildmotiv der erstarrten, "leblos, wie tot" Schlafenden, die passiv aufgefunden wird, verstärkt den Charakter der Kundry-Gestalt im Parsifal als der schlechthinnigen Personifikation der Natur: Hineingezogen in den Sündenfall - bzw. in der Deutung durch Trevrizent: befleckt durch den Brudermord Kains – verliert die Erde ihre paradiesische Unschuld, bringt statt Milch und Honig Dornen und Disteln hervor, wird trocken, staubig und steinig, verliert ihre Erkenntnistransparenz: Die eigentlichen Ursachenkräfte liegen nun im Verborgenen; dem findenden Bewußtsein zeigt sich nur noch eine material erstarrte, passive Erscheinungswelt. Hat Gurnemanz sich im Dialog durch die Frage des Knappen selbst die Ereignisse ins Gedächtnis gerufen, so "bohrt" er hier gewissermaßen richtig weiter, indem er Kundry danach fragt, wo sie vor ihrem letzten Aufgefundenwerden und Aufwachen aus der Trance denn gewesen sei. Abweisung jedes Danks, das "ich – helfe nie", im dritten Akt die dort einzigen Worte "dienen – dienen" - all diese abgerissen-kurz dahingestammelten Äußerungen stehen in völligem Gegensatz zum strömenden Melos der eloquenten Überbringerin mütterlicher Grüße und Küsse im zweiten Akt. Sie finden immerhin Entsprechung und anziehende Verwandtschaft in den naiv-lakonischen Auskünften des Schwanentöters, etwa "waren sie bös?" und "wer ist gut?": Hier wie dort schreibt sich die tätige Seele keine ihrer Taten als "gut" zu; dies weiter unten noch einmal deutlicher: "Nie tu ich Gutes". Hier das erste Mal das Motiv vom verlorenen Speer, eine Wagnersche Spezialität: Bei Chrétien und Wolfram gehört der Speer zu den Ritualgegenständen der Gralsspeisung und wird zur Vergegenwärtigung der Schmerzen des Gralskönigs immer wieder durch den Raum getragen. Von einem Verlust an den Kämpfer, der Anfortas verwundete, kann keine Rede sein. Verbunden mit diesem Motiv des Speerverlustes ist bei Wagner die Rolle Klingsors: Anders als bei Chrétien und Wolfram ist er der Täter, hat die Waffe dem Amfortas entwunden und sie gegen ihn geführt, und nun hält er sie als Ritualgegenstand fest, bis er auch den Gral in der Hand hat, so ist jedenfalls seine Absicht. |
(in Erinnerung sich
verlierend)
wer mochte dir es wehren den Zaub'rer zu beheeren? -
wird uns der Held entrückt: ein furchtbar schönes Weib hat ihn entzückt: In seinen Armen liegt er trunken, der Speer ist ihm entsunken. - Ein Todesschrei! - Ich stürm herbei: - von dannen Klingsor lachend schwand, den heil'gen Speer hat er entwandt. Des Königs Flucht gab kämpfend ich Geleite; doch eine Wunde brannt' ihm in der Seite: die Wunde ist's, die nie sich schließen will. |
Zwar ist auch
bei Chrétien und Wolfram Ursache der Verwundung des Anfortas dessen
jugendlich-überschwenglicher Minnedienst, aber
der Täter wird selbst durch Anfortas besiegt und ist mit Clinschor,
dem Zauberherrn des Schastel marveil, nicht identisch.
Den Bericht von der Unternehmung des Anfortas, seiner Verwundung und dem Geleit zurück zur Gralsburg gibt im Epos natürlich Trevrizent, der Bruder des Gralskönigs und der Herzeloyde, Onkel Parzivals und sein klarsichtiger Beichtvater, der sich familiär mitverantwortlich fühlt und mit seiner Askese ein Gegengewicht zur Schuld des Bruders aufbaut. |
(Der erste und zweite
Knappe kommen -
vom See her – zurück.) DRITTER KNAPPE (zu Gurnemanz)
(zu den zurückkommenden beiden Knappen)
(für sich)
die nie sich schließen will! -
du kanntest Klingsor – wie mag das sein? |
Sobald die Fragen
der Knappen, die in Bezug auf Kundry alle Höflichkeitsgrenzen überschritten,
den Lehrer in einen skandalverdächtigen Zusammenhang mit Klingsor
bringen, überdeckt die Sorge des Gurnemanz um den König die Anamnese.
Aber dies ruft wegen der Wunde, "die nie sich schließen will", gerade die Erinnerung an die tieferen Zusammenhänge wach; als Lehrer angesprochen und um Aufklärung gebeten, setzt der Trevrizent-Amfortas dieser weitläufigen Exposition seinen Bericht fort. |
(Der dritte und der
vierte Knappe
hatten sich zuletzt schon zu Gurnemanz' Füßen niedergesetzt; die beiden anderen gesellen sich jetzt in gleicher Weise zu ihnen unter dem großen Baum.) GURNEMANZ
der kannt' ihn wohl. Denn ihm, da wilder Feinde List und Macht des reinen Glaubens Reich bedrohten, ihm neigten sich in heilig ernster Nacht dereinst des Heilands selige Boten: daraus der trank beim letzten Liebesmahle, das Weihgefäß, die heilig edle Schale, darein am Kreuz sein göttlich Blut auch floß, dazu den Lanzenspeer, der dies vergoß - der Zeugengüter höchstes Wundergut, - das gaben sie in unsres Königs Hut. Dem Heiltum baute er das Heiligtum.
|
Wolfram holt weiter aus in seinem Bericht von den Ursprüngen des Grals und seiner Weitergabe; von der Gralskunde in den Sternen, gelesen durch Flegetanis, über die rückwärtige Gralsforschung durch Kyot, der in Anjou das Geschlecht auffindet, das berufen ist, den Gral zu hüten, gelangt er zu den letzten vier Generationen bis an die Zeit heran, in der die Handlung spielt: Titurel, der eigentliche Emfänger des Grals und Erbauer der Gralsburg (vgl. die Erzählung von Luzifers "Stein aus der Krone der Gerechtigkeit" im "Wartburgkrieg"), dann Frimutel und schließlich Anfortas, dessen Schwester Herzeloyde dem Gachmuret einen Sohn schenkt:Parzival. Aber die eigentliche Quelle für die Identifikation des Grals – der bei Chrétien nicht weiter beschrieben wird, außer daß er aus Gold gearbeitet und mit kostbaren Edelsteinen besetzt ist und sonnenhell leuchtet, und der bei Wolfram ein Stein ist, der in mythisch-imaginativen Bezügen eher verschlossen als enthüllt wird – die eigentliche Quelle also für die Identifikation des Grals mit dem Abendmahlskelch, in dem das Blut Christi am Kreuz aufgefangen worden sei, ist Robert de Borons "Estoire del Graal". Dort ist es Joseph von Arimathia, der das Blut im Kelch auffängt, dem Christus erscheint (vgl. Nikodemus-Ev. Kap.15) und die Heiligkeit des sakramentalen Kelches bestätigt, und der nach vierzigjähriger Gefangenschaft mit zwölf Jüngern die Gralsgemeinschaft begründet. |
nach dem ihr fragt, verwehrt, Klingsor'n, wie hart ihn Müh' auch drob beschwert Jenseits im Tale war er eingesiedelt; darüber hin liegt üpp'ges Heidenland: unkund blieb mir, was dorten er gesündigt; doch wollt' er büßen nun, ja heilig werden. Ohnmächtig, in sich selbst die Sünde zu ertöten, an sich legt' er die Frevlerhand, die nun, dem Grale zugewandt, verachtungsvoll des' Hüter von sich stieß; darob die Wut nun Klingsorn unterwies, wie seines schmähl'chen Opfers Tat ihm gäbe zu bösem Zauber Rat; den fand er nun: - Die Wüste schuf er sich zum Wonnegarten, drin wachsen teuflisch holde Frauen; dort will des Grales Ritter er erwarten zu böser Lust und Höllengrauen: wen er verlockt, hat er erworben; schon viele hat er uns verdorben. - Da Titurel, in hohen Alters Mühen, dem Sohn die Herrschaft hier verliehen: Amfortas ließ es da nicht ruh'n, der Zauberplag' Einhalt zu tun; das wißt ihr, wie es da sich fand: der Speer ist nun in Klingsors Hand; kann er selbst Heilige mit dem verwunden, den Gral auch wähnt er fest schon uns entwunden. VIERTER KNAPPE
der Speer kehr' uns zurück!
ihm wär's zu Ruhm und Glück! |
Wagners Sondergut.
Zwar ist das Motiv vom "Schastel marveil" aus den Aventiuren Gavans bei Chrétien und Wolfram, und der Name des herrschenden Zauberers aus Wolframs Text übernommen und ja auch aus der mittelalterlichen Dichtung vom "Sängerkrieg auf der Wartburg" bekannt, wo Clinschor aus Ungerlant dem Heinrich von Ofterdingen gegen Wolfram von Eschenbach (!) zur Hilfe eilen muß, aber sogar die Gefangenschaft der Frauen unterscheidet sich erheblich, wie der Charakter der dort lebenden Frauen ohnehin: Im Epos sind sie bloß Gefangene; hier bei Wagner sind sie Geschöpfe – Gewächse – des "Meisters". Sowohl im Werdegang Klingsors als auch in der Funktion dieser "Gewächse" werden bei Wagner "Verführung", "Enthaltsamkeit" und Sexualität besonders betont – sehr viel stärker als bei Chrétien oder Wolfram, sei es bei deren Gralsgemeinschaft, sei es bei der Schilderung des Schastel marveil. Allerdings ist die Verletzung des Gralskönigs im Epos nicht bloß eine Seitenwunde, vergleichbar der Speerwunde Christi am Kreuz, sondern eine unheilbar-offene Wunde des Genitalbereichs. |
GURNEMANZ
in brünst'gem Beten lag Amfortas, ein Rettungszeichen bang erflehend: ein sel'ger Schimmer da entfloß dem Grale, ein heilig' Traumgesicht nun deutlich zu ihm spricht durch hell erschauter Wortezeichen Mahle: - «durch Mitleid wissend der reine Tor, harre sein', den ich erkor.»
der reine Tor-» |
Entsprechend
bei Wolfram: die Gralsgemeinschaft (Trevrizent: "Wir") kniet
nach erstaunlichen Heilungsversuchen, die aber alle
fehlschlagen, vor dem Gral und empfängt die
Botschaft, daß der König nur durch einen Fremden, der ohne vorherige
Information eine schlichte Mitleidsfrage stellt, von seinem Leiden erlöst
werden kann; dieser Fremde werde dann der neue Gralskönig sein.
Um so größer dann die Enttäuschung, daß der einzige Fremde, dem es gelingt, zur Burg zu gelangen, trotz aller dezenten Hinweise die Frage nicht stellt. Die Deutung des Parzival-Namens als "Fal Parsi" (2. Aufzug) und die Übersetzung dieser Umstellung als "reiner Tor" ist wieder Wagnersches Sondergut. |