Auf
der Galerie
Wenn irgendeine hinfällige, lungensüchtige
Kunstreiterin
in der Manege auf schwankendem Pferd
vor einem unermüdlichen Publikum
vom peitschenschwingenden erbarmungslosen Chef
monatelang ohne Unterbrechung im Kreise rundum getrieben
würde,
auf dem Pferde schwirrend, Küsse werfend, in
der Taille sich wiegend,
unter dem nichtaussetzenden Brausen des Orchesters
und der Ventilatoren
in die immerfort weiter sich öffnende graue
Zukunft sich fortsetzte,
begleitet vom vergehenden und neu anschwellenden
Beifallsklatschen der Hände,
die eigentlich Dampfhämmer sind
– vielleicht eilte dann ein junger Galeriebesucher
die lange Treppe durch alle Ränge hinab,
stürzte in die Manege,
riefe das: Halt!
durch die Fanfaren
des immer sich anpassenden Orchesters.
Da es aber nicht so ist;
eine schöne Dame, weiß und rot, hereinfliegt,
zwischen den Vorhängen, welche die stolzen
Livrierten vor ihr öffnen;
der Direktor, hingebungsvoll ihre Augen suchend,
in Tierhaltung ihr entgegenatmet;
vorsorglich sie auf den Apfelschimmel hebt,
als wäre sie seine über alles geliebte
Enkelin,
die sich auf gefährliche Fahrt begibt;
sich nicht entschließen kann, das Peitschenzeichen
zu geben;
schließlich in Selbstüberwindung es
knallend gibt;
neben dem Pferde mit offenem Munde einherläuft;
die Sprünge der Reiterin scharfen Blickes
verfolgt;
ihre Kunstfertigkeit kaum begreifen kann;
mit englischen Ausrufen zu warnen versucht;
die reifenhaltenden Reitknechte
wütend zu peinlichster Achtsamkeit ermahnt;
vor dem großen Saltomortale
das Orchester mit aufgehobenen Händen beschwört,
schließlich die Kleine vom zitternden Pferde
hebt,
auf beide Backen küßt
und keine Huldigung des Publikums für genügend
erachtet;
während sie selbst,
von ihm gestützt,
hoch auf den Fußspitzen,
vom Staub umweht,
mit ausgebreiteten Armen,
zurückgelehntem Köpfchen
ihr Glück mit dem ganzen Zirkus teilen will
– da dies so ist,
legt der Galeriebesucher das Gesicht auf die
Brüstung
und, im Schlußmarsch wie in einem schweren
Traum versinkend,
weint er, ohne es zu wissen.
geschrieben wohl vor Februar 1917 (gemäß Titelliste des 1.Oktavhefts),
veröffentlicht in "Ein Landarzt", München/ Leipzig 1919
Vor
dem Gesetz
Vor dem Gesetz steht ein Türhüter.
Zu diesem Türhüter kommt ein Mann vom
Lande und bittet um Eintritt in das Gesetz.
Aber der Türhüter sagt, daß er
ihm jetzt den Eintritt nicht gewähren könne.
Der Mann überlegt und fragt dann,
ob er also später werde eintreten dürfen.
»Es ist möglich,« sagt der Türhüter,
Da das Tor zum Gesetz offensteht wie immer und der
Türhüter beiseite tritt,
bückt sich der Mann, um durch das Tor in
das Innere zu sehn.
Als der Türhüter das merkt, lacht er und
sagt:
»Wenn es dich so lockt, versuche es doch,
trotz meines Verbotes hineinzugehn.
Merke aber: Ich bin mächtig.
Und ich bin nur der unterste Türhüter.
Von Saal zu Saal stehn aber Türhüter,
einer mächtiger als der andere.
Schon den Anblick des dritten kann nicht einmal
ich mehr ertragen.«
Solche Schwierigkeiten hat der Mann vom Lande nicht
erwartet;
das Gesetz soll doch jedem und immer zugänglich
sein, denkt er,
aber als er jetzt den Türhüter in seinem
Pelzmantel genauer ansieht,
seine große Spitznase, den langen, dünnen,
schwarzen tatarischen Bart,
entschließt er sich, doch lieber zu warten,
bis er die Erlaubnis zum Eintritt bekommt.
Der Türhüter gibt ihm einen Schemel
und läßt ihn seitwärts von der Tür sich niedersetzen.
Dort sitzt er Tage und Jahre.
Er macht viele Versuche, eingelassen zu werden,
und ermüdet den Türhüter durch
seine Bitten.
Der Türhüter stellt öfters kleine
Verhöre mit ihm an,
fragt ihn über seine Heimat aus und nach
vielem andern,
es sind aber teilnahmslose Fragen, wie sie große
Herren stellen,
und zum Schlusse sagt er ihm immer wieder, daß
er ihn noch nicht einlassen könne.
Der Mann, der sich für seine Reise mit vielem
ausgerüstet hat,
verwendet alles, und sei es noch so wertvoll,
um den Türhüter zu bestechen.
Dieser nimmt zwar alles an, aber sagt dabei:
»Ich nehme es nur an, damit du nicht glaubst,
etwas versäumt zu haben.«
Während der vielen Jahre beobachtet der Mann
den Türhüter fast ununterbrochen.
Er vergißt die andern Türhüter
und dieser erste scheint ihm das einzige Hindernis
für den Eintritt in das Gesetz.
Er verflucht den unglücklichen Zufall, in den
ersten Jahren rücksichtslos und laut,
später, als er alt wird, brummt er nur noch
vor sich hin.
Er wird kindisch,
und, da er in dem jahrelangen Studium des Türhüters
auch die Flöhe in seinem Pelzkragen erkannt hat,
bittet er auch die Flöhe, ihm zu helfen
und den Türhüter umzustimmen.
Schließlich wird sein Augenlicht schwach,
und er weiß nicht, ob es um ihn wirklich
dunkler wird,
oder ob ihn nur seine Augen täuschen.
Wohl aber erkennt er jetzt im Dunkel einen Glanz,
der unverlöschlich aus der Türe des
Gesetzes bricht.
Nun lebt er nicht mehr lange.
Vor seinem Tode sammeln sich in seinem Kopfe
alle Erfahrungen der ganzen Zeit zu einer Frage,
die er bisher an den Türhüter noch
nicht gestellt hat.
Er winkt ihm zu, da er seinen erstarrenden Körper
nicht mehr aufrichten kann.
Der Türhüter muß sich tief zu
ihm hinunterneigen,
denn der Größenunterschied hat sich
sehr zu ungunsten des Mannes verändert.
»Was willst du denn jetzt noch wissen?«
fragt der Türhüter,
»Alle streben doch nach dem Gesetz,«
sagt der Mann,
»wieso kommt es, daß in den vielen
Jahren niemand außer mir Einlaß verlangt hat?«
Der Türhüter erkennt, daß der Mann
schon an seinem Ende ist,
und, um sein vergehendes Gehör noch zu erreichen,
brüllt er ihn an:
»Hier konnte niemand sonst Einlaß
erhalten,
denn dieser Eingang war nur für dich bestimmt.
Ich gehe jetzt und schließe ihn.«
geschrieben wohl vor Februar 1917 (gemäß Titelliste des 1.Oktavhefts),
veröffentlicht in "Ein Landarzt", München/ Leipzig 1919
Eine
kaiserliche Botschaft
Der Kaiser
– so heißt es –
hat Dir, dem
Einzelnen, dem jämmerlichen Untertanen,
dem winzig
vor der kaiserlichen Sonne in die fernste Ferne geflüchteten Schatten,
gerade Dir
hat der Kaiser von seinem Sterbebett aus eine Botschaft gesendet.
Den Boten hat
er beim Bett niederknien lassen und ihm die Botschaft ins Ohr zugeflüstert;
so sehr war
ihm an ihr gelegen, daß er sich sie noch ins Ohr wiedersagen ließ.
Durch Kopfnicken
hat er die Richtigkeit des Gesagten bestätigt.
Und vor der ganzen
Zuschauerschaft seines Todes
– alle hindernden
Wände werden niedergebrochen
und auf den
weit und hoch sich schwingenden Freitreppen
stehen im
Ring die Großen des Reichs –
vor allen
diesen hat er den Boten abgefertigt.
Der Bote hat sich
gleich auf den Weg gemacht; ein kräftiger, ein unermüdlicher
Mann;
einmal diesen,
einmal den andern Arm vorstreckend schafft er sich Bahn durch die Menge;
findet er
Widerstand, zeigt er auf die Brust, wo das Zeichen der Sonne ist;
er kommt auch
leicht vorwärts, wie kein anderer.
Aber die Menge
ist so groß;
ihre Wohnstätten
nehmen kein Ende.
Öffnete sich
freies Feld, wie würde er fliegen
und bald wohl
hörtest Du das herrliche Schlagen seiner Fäuste an Deiner Tür.
Aber statt dessen,
wie nutzlos müht er sich ab;
immer noch
zwängt er sich durch die Gemächer des innersten Palastes;
niemals wird
er sie überwinden;
und gelänge
ihm dies, nichts wäre gewonnen;
die Treppen
hinab müßte er sich kämpfen;
und gelänge
ihm dies, nichts wäre gewonnen;
die Höfe
wären zu durchmessen;
und nach den
Höfen der zweite umschließende Palast;
und wieder
Treppen und Höfe; und wieder ein Palast;
und so weiter
durch Jahrtausende;
und stürzte
er endlich aus dem äußersten Tor
– aber niemals,
niemals kann es geschehen –
liegt erst
die Residenzstadt vor ihm,
die Mitte
der Welt,
hochgeschüttet
voll ihres Bodensatzes.
Niemand dringt
hier durch
und gar mit
der Botschaft eines Toten.
– Du aber sitzt
an Deinem Fenster
und erträumst
sie Dir, wenn der Abend kommt.
geschrieben wohl März/ April 1917 (niedergeschrieben im 6.Oktavheft),
erstveröffentlicht in "Die Selbstwehr", Prag 1919