simile est regnum caelorum grano sinapis quod accipiens homo seminavit in agro suo quod minimum quidem est omnibus seminibus cum autem creverit maius est omnibus holeribus et fit arbor ita ut volucres caeli veniant et habitent
in ramis eius
Ein
anderes Gleichnis legte er ihnen vor und sagte:
Gleich
ist das Königreich der Himmel einem Senfkorn, das
ein Mensch nahm und
säte es in seinen Acker -
dies
ist zwar das kleinste von allen Samen, wenn
es aber gewachsen ist, ist es größer als alle Kräuter und
wird ein Baum, so
daß die Vögel des Himmels kommen und wohnen in seinen Zweigen.
1.
Das Senfkorn ist die unendlich auslegungsfähige Schrift
Heilige
Schriften, heilige Texte eines jeden Kulturraums sind die Basisschriften,
Basistexte, auf denen und aus denen sich die sprachlichen
Selbstvermittlungen des Bewußtseins und dann auch ganze
Literaturen nähren und entfalten, indem sie jene Basisschriften
deuten, vielfach, in allen Ebenen, unter immer neuen Aspekten. Heilige
Schriften konzentrieren sich zunächst senfkornartig in didaktischen
Formeln, Formulierungen, Sprüchen, Versen (wie eben diesen hier),
dann sprießen sie in ihren Deutungen auf neuer Ebene aus, zweigen
reich aus zu Erkenntnisbäumen, selbstvermittelten Lebensbäumen,
so groß, daß die himmlischen Verwirklichungen, Erfüllungen
und Erkenntnisse darin Frucht bilden und auch die Flattergedanken des Verstandes,
die solche Früchte ansonsten schon auf dem
Wege zu verzehren drohen, in ihren Zweigen und Schattennischen wohnen
können - so ist diese spruchphörmig kleine Parabel wie
auch die anderen Kurzgleichnisse in Matthäus 13
("Gleichnisse am See") durchaus eine Selbstabbildung aller heiligen
Schrift in sich selbst, ein Senfkorn, kleinster Same, dichteste Konzentration
in die Grundchiffre, also zugleich "Korn des Korns", Kern der Kerne, logos
spermatikos. Einen
Erkenntnisbaum innerhalb dieses gesamtliterarischen
Lebensbaumes bildet die typologische Exegese, die Motiv-Metamorphose, die
Entfaltung sinnhaltiger Imaginationen und die Deutung dieser ausgefalteten
Bilder auf ihr keimartiges Grundmotiv hin; die entsprechende Wandlung und
Weitergestaltung der archetypischen Keime durch ihre Ausprägungen,
die "Ektypen", ist vergleichbar den lebendigen Metamorphosen der Blätter
in der Pflanze oder der Artgestaltungen in der Evolution, vergleichbar
auch den Organabkapselungen in der Differenzierung der embrpsonalen Keimanlagen
bei Tieren und Menschen: Die in den Basisschriften der Kultur angelegten
Grundmotive werden in den darauf aufbauenden Reflexionen zu Ektypen ausgefaltet
und ausgestaltet – oder die früheren, archaischen Metamorphosen des
Motivs werden als Ektypen eines verborgeneren Archetypos gedeutet, der
erst durch Passion und Auferstehung substanziell, sinnlich-konkret und
ausführlich-tätig aufgeht: Dieser autohermeneutische Auslegungsprozeß
bildet die eigentliche Keimbahn des geistigen Lebens der Kultur, des erkenntnisorientierten
Gesprächswechsels, der Entfaltung, Gestaltung, Konkretisierung des
Heiligen:
Nun:
Diese Gesamtauseinandersetzung und die ihr immanente Metamorphose der typologischen
Aus-Legung, Ex-Egese – in die knappe Laut-Buchstaben-Kombination der sieben
Zeilen gepackt, Leben verschlossen in die Schale des toten, objektiven,
optisch gefrorenen Textes – "Buchstaben?
Nächte in den Tag geprägt, damit die Tage ihren Sinn erblicken!" Das
kleine Ding, "kleine Form" – dieses unscheinbare Textkorn hier – ist allerdings
kein totes Steinchen; es mag sich im Rezeptions-Feld verlieren, es mag
in einem Vergessenheitsdurchgang, in historischem Schlaf, Verkennungs-Trance
oder Mißachtungs-Tod verloren gehen – ein hartes Steinchen bloßer
Buchstaben-Objektivität ist und bleibt es jedoch nicht: es lebt, trägt
den Keim in sich, den schöpferisch-inspirativen: Erwartungsoffenheit
und informative Mitteilung greifen ineinander, Sprecher und Hörer,
voraussetzungsvolle Frage und Voraussetzungen aufschließende Fragevertiefung,
denn der Keim offenbart die Kräfte des Ackers und der Acker gibt sich
der Ausformung des sprießenden Gewächses hin, als seien beide,
die offene Aufmerksamkeit des Hörers und die Sinnorientierung des
Sich-Mitteilenden, ineinander gesät: Keimbahn des Sinns im Gesprächswechsel,
Keimbahn des Staunens im lebendigen Lernen, Erkennen, das seine Formulierung
suchende Sich-Mitteilen, in dessen Zweigen die Verstandeserkenntnisse nisten,
die fruchtfressenden, flatterigen "Vögel des Himmels" in den Wort-Nestern:
Gewiß ist dies "kurzer Worte langer Sinn".
2.
Das Senfkorn ist Ein-und-Alles, zum Punkt konzentriert
Heilige
Schriften sind somit Texte von unendlicher Bedeutungstiefe: Sie formulieren
in konzentriertester Dichtung letztendlich ALLES, das unbegrenzbare Ganze,
das "All" – nein, nicht nur das räumliche, sondern auch das Umgreifende
der unräumlichen Ursachen, der seelischen und geistigen Kräfte,
Willensregungen und Entwicklungen, in die die räumlich-geschichtliche
Erscheinungswelt eingebettet ist wie eine Luftblase ins Wasser, solange
sie noch in dem dichteren Medium aufperlt. Die Substanz schöpferischer
Verwirklichung ist in sich dichter als der nach Vollendung, Verwirklichung,
Erfüllung hungernde Hohlraum der sinnlich empfundenen Objektwelt. "Königreich
der Himmel" ist die weltumgreifende Welt, wo der allschöpferische
Wille "ist", sich erfüllt, verwirklicht findet und in Fülle und
Überfülle dann auch überströmt, in die Welt der offenen
Möglichkeiten Schicht um Schicht hinab, hinein, hindurchdrängt,
hart an die Grenze des Unmöglichen anbrandet, – denn
Größer
als der unendliche Raum sind die Himmel, die von sich seiender Hingabe
und sich
wissender Erkenntnis erfüllten; größer als die Weltenblase
der Erscheinungen und der Erinnerungsrahmen der Erfahrung ist schon das
sie umgreifende Bewußtsein, das den Empfindungen Raum gibt, sie datiert,
in Beziehung setzt, begreift. Und nun: Dieses allumgreifende All ist gleich
einem Senfkorn, konzentriert in das Kleinste, in einen Punkt.
"Mein
Erbteil wie herrlich, weit und breit! Die
Zeit ist mein Besitz, mein Acker ist die Zeit."
Johann
Wolfgang von Goethe, West-Östlicher Divan, Hikmet Nameh (Buch der
Sprüche), Nr.12
Ins
Offene der Freiheit, der Verfügungsgewalt über die Zeit, in die
Zukunft sät der Mensch sich ein, sät die zur Persönlichkeit
konzentrierte Welt, sät das Königreich der zum Senfkorn punktualisierten
Himmelsphären in seinen Acker. Da geht es in seiner Handlung auf,
in der sich auswirkenden Veränderungskraft, im Feld des sich verwirklichenden
Willens, der in seinen Wirkungsverzweigungen immer neue Welten treibt und
neue Früchte.
3. Das Senfkorn ist das
"Es werde"
Platons
Timaios gibt uns das Grundmuster, dem gemäß alle Schöpfung
die ektypische Ausfaltung göttlicher Archetypen darstellt. Im Johannesevangelium
ist der Sohn selbst diese "Ausprägung", Aus-Legung
des väterlichen Tuns: eben nicht bloß als handwerklich die
Urideen ausarbeitender Demiourgos, sondern als organisch-tätige Entfaltung
des Sinns durch die ausführlichen sieben
"Zeichen" und die sieben ICH-BIN-Worte,
schließlich durch die "Bio-Graphie", die Lebens-Schrift des Erstgeborenen
von den Toten. Hier gehen die Ektypen zeitlich voraus: Der Archetypos,
der Logos des Schöpfungskeims, erscheint erst in der Auferstehung
- so auch die Synoptiker: "am
ersten Tage, da die Sonne aufging". Das Schöpfungswort,
der LOGOS,
durch den alles hervorgekommen ist aus
der Archetypik
des Vaters, das jehij
der 'älohijm,
siebentagig entfaltet aus dem Jetzt, zusammengezogen zum Leib Christi und
in die Erde gesät, dann wieder neugeboren in der Oster-Erfahrung der
Schüler, pfingstlich wachsend und auszweigend in der Geist-Inspiration
der Angehauchten, der beseelten, begeisterten,
in Flammenzungen redenden Gesandten - das kontinuierlich konzentrierte,
aufkeimende und sich in Handlungen entfaltende Schöpfungswort verwirklicht
sich am Ende aller Zeit, an dem einen, einzigen Ende der Zeit – im Hier
und Jetzt – gemäß dem logos
spermatikos:
Soweit
also der Extremansatz: Demnach ist das allumgreifende Ganze in einen Punkt
konzentriert, in den ewigen Keimpunkt des Jetzt, gesät in die Verfügungsgewalt
über die Zeit, in das Offene der Zukunft, in die Willensfreiheit des
Handelnden. Die Substanz der aufgehenden Saat ist Handlung, sich umsetzender
Wille, Verwirklichung "wie im Himmel so auf Erden". Mit
anderen Worten: Das Senfkorn ist Individualisierung des allumfassenden
himmlischen Bewußtseins im einzelnen Menschen, der zur individuellen
Persönlichkeit zusammengezogene – ursprünglich weltumspannende
– Himmel, der – als Wachbewußtsein noch immer allumspannende – Punkt
des ICH eines jeden in permanenter Jetzt-Geburt. In Christus ist es allumgreifend
und vergegenwärtigt den ganzen Vater ganz, die gesamte Ewigkeit im
Jetzt; unser körperverschlossenes Wachbewußtsein ist in seiner
biographischen Vergangenheitsperspektive eher noch dämmerhaft:
charissimi
- nunc filii Dei sumus - et nondum
apparuit quid erimus
Geliebte
- nun sind wir Söhne Gottes -
und es ist noch nicht erschienen was wir sein werden".
1. Johannesbrief
3,2
Der
ins Unendliche ausgreifenden Spannung dieses Ansatz eingelagert sind alle
Konzentrationen des "himmlischen" umgreifenden Ganzen, die das Senfkorn
nicht so koordinatenhaft zum bloßen ausdehnungslosen "origo"-Punkt
im Scheitel der Parabeln oder zur Y-Achse (senkrecht zum Zeitenstrahl)
zwischen den Hyperbeln einer vergangenen Erscheinungswelt und einer zukunftorientierten
Handlungswelt abstrahieren, sondern zu einem in sich bestimmteren Strukturschlüssel
– z.B. Sprache und Schrift – oder einem qualitativ bestimmten Inhalt –
wie die Gefühlsfarben der Frömmigkeit und die Schönheit
des Schöpferischen – verdichtet sehen.
4.
Das Senfkorn ist Sprache und Schrift
Friedrich
von Hardenberg (Novalis),
Blüthenstaub, Aphorismus Nr. 2
Das
durch Tod und Eucharistie in den Menschen gesäte Schöpferwort,
das österlich in den liebevollen Handlungen der von ihm Begeisterten
aufgeht. Immer
verwandelt sich die von uns aufgenommene Nahrung in unsere Leiblichkeit
hinein und in die Energie unserer Lebensprozesse und Handlungen, in allen
Schlaf-, Traum-, Wachheits-Schichten von Bewußtsein und Eigenaktivität. Der
Nahrungsspender und eben derjenige, der sich selbst uns in Brot, Fisch
und Wein zur geistigen, seelischen und auferstehungsleiblichen Nahrung
gegeben hat, dem opfern wir wiederum unsere Leiber, Lebensprozesse und
Gemütsregungen in fortwährender Tat-Handlung: So schließen
sich die Kreise der Kreise.
6. Das Senfkorn ist das
Leben selbst
Wie jedes Samenkorn
– und jedes Samenkorn-Gleichnis – findet der Lebensprozeß
eine Selbstabbildung im gesäten, keimenden, wachsenden, vom Kleinsten
ins Große entfalteten Senfkorn, indem jeder Organismus
eine Selbstabbildung des gesamten Lebens darstellt und in seinen Teilen
diese Selbstabbildung fortsetzt: Die Entfaltung des irdischen Lebens
in der Evolution ist darin ebenso abgebildet wie die Konzentration der
gesamten Evolution in der Frucht, im kleinen, hier im "kleinsten" Korn.
Von diesem konzentriertesten Zustand aus entfaltet es sich wieder neu ins
Ganze.
7. Das Senfkorn ist das
heilende Wort
Vor allem in der Situation,
in die das Lukas-Evangeliumdieses
Gleichnis hineinstellt – Sabbat-Heilung der
in ihrer Verkrümmung erstarrten Frau – verdeutlicht sich das Lebenskonzentrat
und die Lebensmitteilung seiner Heilkraft. Die einzelnen Heilungen tragen
den Gesamt-Lebensheilungs-Prozeß von Passion und Auferstehung in
einzelne Motive, Situationen, Charaktere und Individualitäten hinein.
Die stärkste Konzentration des heilenden Wortes ist die des Todesdurchgangs,
der Tod-Überwindung, die in jeder einzelnen Heilung mit enthalten
ist. Die Erstarrung und Verkrümmung der Frau, die schon seit 18 Jahren
andauert, wird inmitten des Sabbats geheilt, sie lebt aus der Verhärtung
wieder auf, richtet sich auf. In eben denselben Zusammenhang
stellt Lukas auch das folgende Gleichnis, das Gleichnis von der Veränderungskraft
des Lebens, das "die Frau" in der Nahrung "verbirgt", in der Brotzubereitung.
13:33allhn parabolhn [elalhsen autoiV]
omoia estin h basileia
twn ouranwn zumhi hn labousa gunh enekruyen
eiV aleurou sata tria ewV ou ezumwqh olon
aliam parabolam locutus est eis simile est regnum caelorum fermento quod acceptum mulier abscondit in farinae
satis tribus donec fermentatum est totum
Ein
weiteres Gleichnis sagte er ihnen: Gleich
ist das Königreich der Himmel einem Sauerteig, den
eine Frau nahm und in drei Maß Mehl barg, bis
daß durchsäuert war das Ganze.
Indirekt
ist zwar auch hier das Wachstum, das Aufleben und Aufgehen zu Größerem
mit angesprochen, aber mit der Fermentierung des Mehls liegt die Betonung
eher auf der Veränderung, der Verwandlung, dem "Aufschließen"
des Mehls durch die Säuerung. Die
inneren Wandlungen des persönlichen Bewußtseins, des Gefühls-
und Willenslebens sind damit hier eher angesprochen als die quantitativen
Extreme der Gesamtsituation wie oben.
13:44omoia estin h basileia twn ouranwn qhsaurwi
kekrummenwi en twi agrwi
on eurwn anqrwpoV ekruyen kai apo thV caraV autou
upagei kai pwlei [panta] osa ecei kai agorazei ton agron
ekeinon
simile est regnum caelorum Thesauro abscondito
in agro quem qui invenit homo abscondit et prae gaudio illius vadit et vendit universa
quae habet et emit agrum illum
Gleich
ist das Königreich der Himmel einem Schatz, verborgen in einem Acker, den
ein Mensch, der ihn fand, verbarg; und
vor lauter Freude dessen geht er und verkauft alles, was er hat, und
kauft jenen Acker.
13:45palin omoia estin h basileia twn ouranwn
[anqrwpwi] emporwi
zhtounti kalouV margaritaV
13:46 eurwn de ena polutimon
margarithn
apelqwn pepraken panta
osa eicen kai hgorasen auton
iterum simile est regnum caelorum homini negotiatori quaerenti bonas margaritas inventa autem una pretiosa margarita abiit et vendidit omnia quae habuit et emit eam
Wiederum
gleich ist das Königreich der Himmel einem Kaufmann, der
schöne Perlen suchte; als
er aber eine kostbare Perle fand, ging
er hin und verkaufte alles, was er hatte, und
kaufte sie.