1.
Rundbrief 2005: Novalis: Astralis
3.1.2005
Liebe Freunde!
So
beginnt der nur als kurzes Bruchstück überlieferte zweite Teil
des Heinrich von Ofterdingen, des letzten Romanfragments Friedrich von
Hardenbergs (Novalis).
Und
sieh da: Geburt des Aiôn, des Zeitenkreises, wie in Vergils vierter
Ekloge und wie im Johannesevangelium
13,3: ein Bewußtsein, das in eben dasselbe Unendliche hingebungsvoll
und frageoffen hinausschwingt, aus dem seine Inspiration und Erfahrungssättigung
immer heranweht:
hier
zugleich als Selbstempfängnis, Reflexion, Geburt und glühend-beflissene
Selbstaufopferung des Ich im Sinne der "Tathandlung" Fichtes: "Das Ich
setzt sich selbst"; zugleich auch blumenhaft-organisch aufblühend,
und zugleich seelisch-"astralisch", wie der Name dieses Wesens ja auch
besagt: als Gefühlstranszendenz einer per se unerfüllbaren Sehnsucht.
Und
zugleich als Vollzug der im älteren philosophischen Romanfragment,
den "Lehrlingen zu
Sais", beschriebenen Meditationsübung, die Weltwerdung innerlich
konzentriert aus streng kontrollierter Einbildungskraft zu (re-)produzieren,
aus der reinen In-sich-Bewegung des in die Schöpfungsquelle versenkten
Bewußtseins, des tätigkeitssubstanziell hingegebenen In-sich-Aufwachens.
Zum Vergleich des Unendlichkeits-Kreisschlusses des Aiôn auch Johannesevangelium
13,3:
http://12koerbe.de/euangeleion/ioan-13.htm#3
Ach,
und noch etwas ganz anderes, Wundervolles, findet sich nun auch unter den
von mir ins Netz gestellten antiken Werken, nämlich das große
Alexanderschlacht-Mosaik aus Pompeji (jetzt im Nationalmuseum in Neapel):
http://12koerbe.de/mosaiken/alexand.htm
grusz,
hansz
2.
Rundbrief 2005: Verpuppung
Liebe Freunde!
Gleich einem Insekt, das
sich mit Chitin umpanzert, um winterlich-still seine Binnenstruktur und
Gliederfüßerkammerung zu wandeln, habe ich einen kalten Monat
lang nichts mehr von mir hören lassen und nichts eigentlich Neues
hervorgebracht, sondern vor allem die Namen und Verlinkungen der zwölf
Körbe geändert und durchsäubert, wie die folgende
Liste zeigt. Diese Liste
steht bekanntlich immer aktualisiert oben als erstes auf der Seite mit
den aktuellen Rundbriefen:
Inhaltlich neu ist nur ein
geometrisierendes mandalaartiges Bild auf der jüngsten
Astralis-Seite ganz unten (http://12koerbe.de/phosphoros/astralis.htm)
und auf der Vergilseite mit der vierten
Ekloge (http://12koerbe.de/pan/ekloga4.htm)
oben, dort schlicht grauschwarz.
Was
ist es? Nun, ich habe dort in meiner dilettantischen Art, nur eben, weil
es sich mir innerlich als Vorstellungs-Aufgabe aufgedrängt hat, versucht,
eine geometrische oder eher stereometrische, nämlich räumliche,
Reihe bzw. Figur zu entwickeln, bei der ein Element das Ganze umfaßt
oder enthält oder selbst ist. Der Gedanke ist ja in seiner
Generalisierbarkeit, in seiner Übertragbarkeit auf alle möglichen
Entwicklungsreihen, eine fruchtbare Aufgabenstellung: Entwicklungen zu
finden, die von ihrem Entwicklungshöhepunkt umfaßt werden, die
also ihrem höchsten Entfaltungsstadium immanent sind, so daß
das Ganze der Entwicklungsreihe als eingeordneter, untergeordneter Teil
eines einzigen Elementes, eines besonderen Stadiums der Entwicklung erscheint.
Man denke etwa an fruchtende Pflanzen, an die imagines auch der
tierischen Metamorphosen oder an verpuppte Seitenvernetzer...
Reizvoll
ist die Übertragung dieses "Selbst-Enthältnisses" auch auf Kants
Antinomien der reinen
Vernunft, die unendlichen Bedingungsreihen zum aktuellen Bedingten:
wenn etwa das Ganze der bewußtseinsimmanenten Erscheinungswelt seine
unendlichen Bedingungen, Ursachen und Entwicklungsvorstufen auf diese infinitesimale
Weise aus sich, durch sich und in sich findet. Hen kai pan: das Eine trägt
das Entwicklungsganze, dessen Ziel und Erfüllung es ist, in sich.
Hier
also suchte ich eine kontinuierlich anwachsende Reihe von Kugeln, die von
einem Punkt der Oberfläche einer gegebenen Kugel aus ansetzen, die
periphere Kugel berührend, aber nicht überschreitend, nun also
allmählich anwachsen, sich vergrößern, bis ein Element
der Reihe die gesamte Kugel ausfüllt, und auf der symmetrisch entsprechenden
Gegenseite wieder sich verkleinert, an der peripheren Kugel entlangschrumpft
und in das Nullvolumen des Ausgangspunktes zurückkehrt. Das geht natürlich
einfacher auch zweidimensional, also mit einer Kreisreihe innerhalb eines
peripher umhüllenden Kreises.
Die
Mittelpunkte der gesamten Reihe bilden dabei selbst einen eigenen Kreis,
der exakt den halben Durchmesser der peripheren Kreishülle hat, durch
deren Mittelpunkt läuft und sie im Reihen-Ansatzpunkt berührt.
Die Radiuslänge der jeweiligen Kreise ergibt sich dadurch, daß
die Radien des umhüllenden Kreises jenen inneren Kreis der Mittelpunkte
schneiden, der Zirkel also in diesen Schnittstellen eingestochen werden
kann und der am Restradius abgenommene Elementarkreis die umhüllende
Peripherie weder unter- noch überschreiten kann. Natürlich muß
oder kann man sich die Elementarkreise der Reihe aus dem Entwicklungskontinuum
auswählen.
Ach,
anschauen ist einfacher als umständlich erklären. Innerlich vorstellen
ist aber noch viel erfüllender, zumal es schwierig ist, in kontinuierlicher
Lückenlosigkeit, ohne unvermittelte Sprünge, mitzuvollziehen,
wie die größten der Elementarkreise, wo sie sich dem gesamtumfassenden
annähern, den Trompetenschlauch der kleineren über deren Scheitel
hinüber zurückstülpen – –
–
Ich
habe gewiß das Rad neu erfunden. Wie nennen die Mathematiker diese
Figur?
Nun
also die aktualisierte Liste der zwölf Körbe,
grusz,
hansz
3.
Rundbrief 2005: Dialog der Religionen
Liebe Freunde!
Arbeit über die Pflicht
hinaus (Kür) macht Freude, insbesondere, wenn sie sich ins Verborgene
verdichtet. Über das völlig vom Fach Latein besetzte Stundenkontingent
meines Görlitzer Lehrerdaseins hinaus gebe ich bzw. nehme den Schülern
und deren wertvoller Freizeit drei Doppelstunden Griechisch gemäß
den verschiedenen Niveaus der wenigen Unbeirrten, und eine Doppelstunde
Hebräisch, und in einer fünften Doppelstunde erarbeiten wir uns
ausgewählte Basistexte der Weltreligionen, und zwar so originalsprachlich
wie möglich. Zuletzt ging es um "Christus im Qur'ân".
Die Schüler des hiesigen
Schülerbibelkreises, in dem ich anderthalb Jahre mitgebetet und brav
den Moralpredigten gelauscht habe (aber nach einem Jahr durfte ich tatsächlich
auch mal was Exegetisches sagen!) und die Kader der evangelischen Gemeindejugend
bleiben solchen Arbeitsgemeinschaften grundsätzlich fern, wie früher
schon meiner Jakob-Böhme-AG
und dem Philosophiekurs
(Platon,
Neuplatonismus,
Kant), so verdichtet
sich unsere Arbeit seit jeher in der heimlichen Freude des Wohlverborgenen.
Ich kann hier in aller Stille
darüber schmunzeln, weil jene künftigen Theologen
natürlich diesen Rundbrief
nicht lesen, obwohl sie alle im letzten Sommer eine frischgebrannte CD
mit den "zwölf Körben" geschenkt bekamen und
sich dann gleich enttäuscht darüber zeigten, daß die Silberscheiben
im CD-Player nichts plärrten noch playten. Daß
von zehn geheilten Aussätzigen einer zurückgekommen sei, um sich
zu bedanken, halte ich für eine fromme Legende, denn der wirkliche
Spaß liegt in der glückseligen Vergessenheit des tiefen Schlafs
und im daraus auftauchenden unbekümmerten Aufwachen am Morgen, in
der Frische des neuen Lebensabschnitts nach der Schulzeit, im befreiten
Aufatmen. So freue ich mich mit diesen Vergessern. Wir wissen doch, daß
Lernen durchs Vergessen hindurchgeht wie die Nahrung durch die Verdauung
oder die Metamorphose des Schmetterlings durch die Verpuppung. So ist es,
so muß es sein, und so ist es bestens.
Den Dialog
der Religionen führen nicht irgendwelche Vereinsvertreter, sondern
eher z.B. Muslim, die im Alten Testament stöbern, oder Juden, die
den Ich-bin-der-ich-bin in den Veden aufspüren. In diesem Sinne suchten
wir "Christus im Qur'ân", orientiert am arabischen
Text:
Jesus ist (z.B. in Sure
3) Wort Gottes, auf Maria ausgegossener Geist, und so wurzelhaft mit Gottes
Wortschaffen verbunden, daß hier auch die essentielle Satzformulierung
des schaffenden Sprechens zitiert wird (und das heißt: das Grundgewebe
des Gott-Zitierens zeigt sich, denn "Qur'ân"
heißt "Zitieren", Lesung, Vortrag des worthaft Offenbarten); und
für etwas Geringeres will ich diesen Satz nicht halten, der im Zusammenhang
von Jesu Geburt (3,47 gegen Ende des Verses) als von Gott selbst zitiertes
Gotteswort über den, der "SEIN
Wort" sei, gesagt wird:
"fa-innamâ
yaqûlu lahu: KUN fa-YAKÛNU" -
- "Denn spricht er
nur: es SEI, so IST's"
In dieser Ursprünglichkeit
ist Jesus so gottunmittelbar wie Adam (3,59, mit dem gleichen radikalen
Schöpfungswort-Zitat). Soweit zu Jesus. Der perspektivische Fluchtpunkt
oder Horizont unserer Suche allerdings war: die Verbindung zwischen Gott
und Schöpfung, die Christen als den SOHN, als Christus eben, zu bezeichnen
pflegen, das
in Gott immer neu geborene Leben der Schöpfung, das aus ihm hervorbrechende
Licht ihres Bewußtseins.
Und: Gott als permanent sich vollziehendes Opfer seiner selbst, statt als
bloßer Herrscher; Aufopferung der Allmacht statt Überwältigung.
Kurz: Wie geht gemäß dem Qur'ân die Schöpfung aus
dem allein Seienden hervor? Als Wort, Sprache, Weisheit? In der Unmittelbarkeit
des "kun", das das Gottzitat (der Qur'ân) als Gottzitat (Schöpfungswort,
schaffende Rede) zitiert?
Oder in der Ergebung (Islam)
der Frommen in Gottes allverwirklichenden Willen?
Religion selbst ist ja dem
neuzeitlichen Menschen, der sich als punktuelles Ich geworfen in einen
unendlichen Raum erfährt, ein Rätsel: Dem ins Gebet Vertieften
spannt sich das Bewußtsein ins umfassende Unendliche, dem die Welt
immanent ist; die Unendlichkeit des Ganzen aber zentriert sich zum persönlich
Verehrten, verdichtet sich zum Ich inmitten des Umspannten, bewußt
Umhegten, Umsorgten, wie eine Perle
in der Muschel. In
den Religionen ist die Welt geradezu umgestülpt, oder anders:
Das neuzeitliche individuelle Ich hat die ganze Welt in seiner Erfahrungsart
umgestülpt, umgekehrt, gewendet. Der Wechsel zwischen beiden Bewußtseinsarten,
vergleichbar dem Einschlafen und dem Aufwachen, erfordert eine ganz besondere
Flexibilität oder Aufmerksamkeit für das Verhältnis von
Punkt und Unendlichkeit. Also für Geometrie –?
–-
Was ist neu in den zwölf
Körben?
Fast nichts, nur noch ein
Bild, nämlich das Mosaik in Korinth, wo Dionysos Zentrum einer Spiralenblüte
ist, deren einander überkreuzende Bögen selbst ein Gesamtkreuz
bilden, siehe:
http://12koerbe.de/mosaiken/dionysic.htm
Und vor allem ist der arabische
Text der zweisprachig dargebotenen Qur'ân-Suren gründlich überarbeitet
worden, der von Fehlern nur so gestrotzt hatte, aber jetzt dürfte
es etwas besser geworden sein:
http://12koerbe.de/bienengold/islam.htm
Und der Bericht von der
Indienfahrt des letzten Sommers ist nun wiederhergestellt, nachdem ich
mit Entsetzen festgestellt hatte, daß er nach der großen Umstellung
auf die neue Domain gar nicht mehr im Netz präsent war:
http://12koerbe.de/hanumans/indien.htm
Und der novellenartige Bericht
meiner Frau, Titel: "Die indische Hochzeit", ist um etwa 20 Bilder eben
von jener Hochzeit ihrer Nichte Rashmi erweitert worden:
http://12koerbe.de/hanumans/hochzeit.htm
Und sonst?
"Zwischen Jedermanns- und
Niemandsland und ewigem Schnee" (Rio Reiser, "Blinder Passagier"),
grusz,
hansz
4.
Rundbrief 2005: Johannespassion
Liebe Freunde!
Bachs Johannespassion in
Görlitz, heute (Gründonnerstag) abend 19.30 Uhr in der evangelischen
Kreuzkirche.
Seit Jahren habe ich mich
über die impressionistisch-weichen Rotationsbewegungen in den Streichern
und Koloraturen des Anfangs-Chors in Bachs Johannespassion gewundert ("Herr,
unser Herrscher"): Warum diese Wasserwellen? Ich dachte an die Lebens-
und Geist-Elemente im Johannesevangelium: Wasser und Luft, aber diese finden
sich eher in den ersten Kapiteln des Evangeliums:
Die Taufe des Johannes
mit Wasser und pneuma (=Luft =Geist), dann die Verwandlung
des Wassers der Reinigungskrüge (Hochzeit zu Kana), die Geburt
aus Luft (=Geist, pneuma) und Wasser (hydor) im Nikodemusgespräch.
Aber was da gesungen wird,
ist ein Psalm-Anfang, nämlich Psalm
8. Dort geht es um das Wunderwerk der Himmel, in denen sich die Herrlichkeit
des Namens Gottes erweist, und von dort ausgehend um den Menschen: "Was
ist der Mensch, daß du sein gedenkst und des Menschen Sohn, daß
du dich seiner annimmst?"
(http://12koerbe.de/phosphoros/ps-8.htm)
Die Rotationsbewegungen,
so kam mir die Idee (und leuchtete mir ein, aber nicht jeder würde
das so mit-meinen), bilden die kreisenden Bewegungen eben der von der Herrlichkeit
Gottes erfüllten Himmel ab, zumal Himmel vom Psalmsänger bis
zu Beethovens Schillervertonung
in der Neunten, ja noch bis zu Isoldes
Liebestod, vom All, vom Firmament, dem "Sternenzelt", nicht unterschieden
sind. Und da kreist alles, seien es die Planetensphären, seien es
die Sterne, sei es
die Erde selbst im Verhältnis
zum Ring der verwirbelten Milchstraßen-Ströme des Raumes.
Und über diese weichen
Rotationsbewegungen der Streicher legt Bach die Kreuzzeichen der Holzbläser,
wie Platons Timaios das
kosmische X (das ist der griechische Buchstabe Chi) über den Himmel
zieht: Planetenbahnen schräg zum
Himmelskreis der Fixsterne.
Ob Bach das noch so gut gekannt hat, wie die mittelalterliche Tradition
und die Renaissance-Platonisten, z.B. Raffael in seiner "Philosophenschule"?
Ich lasse es gerne offen:
kosmische Rotationen mit übergelagertem X (Chi) nach Platon, – oder
verinnerlicht-christlich: das "Wasser" (=Leben, zusammen mit dem "pneuma"
=Luft =Geist der Taufe und des Nikodemusgesprächs) mit dem
übergelagerten Kreuzzeichen
der Passion, ich denke auch an die Lebensbaum-Darstellungen in den frühchristlichen
Kirchen, wo spiralige Ranken, grün auf Goldgrund, das Kreuz in der
Mitte der Apsis umkreisen; vielleicht entspricht es auch dem Kreisen des
Blutes in unseren Leibern, wie später in Wagners Parsifal die gleißende
Rotationsbewegung der Streicher zur Wandlung der Abendmahls-Substanzen?
Desweiteren: Die flammende
Dramatik der Auseinandersetzungen zwischen Pilatus und Volksmenge in den
"Turba-Chören", die expressiv überdehnte Spannung, die ins Bodenlose,
Grenzenlose gezogene harmonische Chromatik der Fugen-Flechtbänder
durch die entfalteten Sätze und interpretierend ausgeloteten Wörter
hindurch – "wäre dieser nicht ein Übeltä-ä-ä-ä-ääääter,
ein Übeltääter" und "kro-ooo-ooo-ooo-oo-euzige, kro-ooo-oo-o-euzige
ihn!", weitgespannte Bögen, selbst von den abgehackten Rufen schroff
durchkreuzt; – und die fliegende, mitempfindend-schmerzselige Ekstase der
nachfolgenden Seele ("Ich folge dir gleichfalls mit freudigen Schritten",
die Flammen des "Wohin, wohin?"), die glühenden Farben des Isenheimer
Altars.
Und: Die lutherisch-protestantische
Theologie, mit der ich seit Jahren ringe: Ja, wie der Blitz durch einen
Blitzableiter in die Erde hinabzuckt, so flammt die Geburt des Sohnes durch
die Schmerzen der Passion hinab, hinein in die Erde, in die Menschen. Leidet
und stirbt er für uns und nimmt uns Schmerz und Tod ab? Aber wir leiden
und sterben doch auch, und der SOHN opfert sich eher in uns hinein, um
aus uns hervor geboren zu werden? Für uns oder mit uns? Beides wird
in den Arien und Chorälen der Johannespassion durchdacht und betrachtet;
und die Synthese, die beide Auffassungen wahr sein läßt, mag
darin liegen, daß wir selbst auch das Leiden und Sterben des Gottes
mittragen: nicht nur er für uns und durch uns hindurch, sondern auch
wir mit ihm.
Das ist die Mitleids-Seite
der Johannespassion. "Weint mit den Weinenden" und "Ein jeder trage des
anderen Last", darin lebt der alles Leiden tragende Mut des passionsbereiten
Sohnes, so lebt er gerade in den Kranken, Schmerzüberwältigten,
Erschöpften um uns, denen Gesundung ein unabgeschlossen-offener, immer
neuer Kampf um Lebensbejahung bleibt. Mag der Gekreuzigte das Selbstopfer
der Menschen auf sich nehmen, so nehmen diese Menschen ihn in sich auf,
indem sie sein Opfer auf sich nehmen. Er trägt uns, indem wir ihn
mutig, geduldig, mitempfindend durchtragen, austragen.
Aber das ist erst der Anfang des "Erwäge...!", und ein Ende der Erwägung
ist nicht absehbar.
grusz,
hansz
5.
Rundbrief 2005: der Stein
Liebe Freunde!
Vor einer Woche noch war
der Server dieses Rundbriefs, newsletterboy.de, so kaputt, daß ich
die 567 Adressen, die sich bisher angesammelt haben, für verloren
hielt und befürchtete, ich könnte mein Verstummen nicht einmal
mitteilen (wo ich doch nichts Schlimmeres kenne, als den Gesprächsabbruch
von seiten geliebter Menschen); solch
eine Katastrophe ist ja bereits vor drei Jahren mit meinem damaligen Anbieter
(newsletterz.de) passiert; auch damals war ein halbes Tausend von Adressen
unwiederbringlich verloren und ich mußte alles wieder von vorne anfangen.
Welch eine Freude, als dann
nach Ostern die Newsletterboy-Seite gegen alle Erwartung doch wieder erschien!
Ich machte ein Freudentänzchen und exportierte gleich als erstes alle
Adressen auf meinen Rechner, um bei einem eventuellen Zusammenbruch zu
einem anderen Anbieter wechseln zu können. Sogar jetzt noch hüpft
mir das Herz, liebe Freunde, weil das Gespräch, die Traditionskeimbahn
und die Schriftenexegese nicht abgewürgt sind, sondern ins immerfort
Neue weiterwachsen können!
Allerdings befindet sich
der newsletterboy in Totenstarre: Weder Ab- noch Anmeldungen sind möglich,
dieser Brief hier, geschrieben am 10. April, gelangte, obwohl ich ihn "abschickte",
weder an eben dem Sonntag noch an einem späteren Tag der folgenden
Woche zu den Rundbriefempängern. Ich mußte mich auf die Suche
nach einem neuen newsletter-Anbieter machen.
So kommt mein Ostergruß
nicht gleich zum Festbeginn, aber die entsprechende Festzeit dauert ohnehin
bis Christi Himmelfahrt.
Jedes Jahr neu bemühe
ich mich um ein Verständnis des österlichen
Ereignisses, der Weltumstülpung,
der Todüberwindung,
aber eigentlich denke ich jeden Tag eine festumrissene Zeit lang darüber
nach: wie Offenheit, Originalität und Freiheit des Handelns die materielle
Bedingtheit durchbrechen, aufbrechen, aufschließen. Gott ist unsichtbar,
unwahrnehmbar, aber wie das Licht an einem klaren Juwel konzentriert, verdichtet
und bricht sich seine Allhingegebenheit am menschlichen Hier und Jetzt,
an der menschlichen Passion und dem Tod, an der materiellen Bedingtheit;
aber in deren Durchdringung und Verwandlung wird der Allseiende konkret,
wird zur eigentlichen Wirklichkeit, erweist sich als härter, bestimmter,
verdichteter, konturenschärfer als der Sinnenstoff und seine Gegenständlichkeit,
Widerständigkeit, die uns sonst immer zu bestimmen droht. Die Güte
Gottes verliert sich nicht in irgendeiner Allgemeinheit, wenngleich nichts
allgemeiner ist als ihre All-Einheit; sie individualisiert sich, konkretisiert
sich, wird geboren im Guten der jeweiligen Situation, in der sich das konkrete
Individuum befindet, in dem, was dem Einzelnen allein zu tun ist, um dem
weiteren Handeln, Verstehen und Austausch die Entwicklungswege zu öffnen
und originelle, lebendige Güte in diesen Acker hineinzupflanzen. Jeder
geht dabei auch eigene Opferwege, die anderen nicht einsichtig sind.
Ein kleines bißchen
österlich – Leben eröffnend, Farben trinkend, die Schönheit
wachstümlicher Formen verehrend, wie ich sie im braungoldenen Gestrüpp
der Sträucher und den Schuppenlinien der Knospenhüllen wiederfinde
– sind wohl auch die
34 Aquarelle, die ich heute auf sieben Seiten sortiert habe; diesmal
kein gebundenes Buch, sondern Einzelblätter, aber doch eine ganze
Serie, etwa 15 Jahre alt:
Und: Schon diesen Sechsjährigen
gesehen...?!-:
grusz,
hansz
6.
Rundbrief 2005: Anselm von Canterbury: Monologion
Liebe Freunde!
Bislang hat sich (erst)
ein Drittel der alten Rundbriefempfänger per Mausklick-Bestätigung
der newsletter-planet-Anfrage neuangemeldet; deshalb sende ich diesen kleinen
Rundbrief gleichzeitig über beide Dienste, so daß ein Drittel
der Empfänger wieder einmal die doppelte Botschaft erhält.
Bitte, ihr lieben Nichtneuangemeldeten,
bitte, bitte! meldet Euch bald an: einfach durch Mausklick auf die in der
newsletter-planet-Bestätigungs-Email angegebene URL; bitte nicht verwechseln
mit der Abmeldungs-URL in dem gleichen Brief.
Es geht weiter, es gibt
Neues, Altes, Mittelaltes:
http://12koerbe.de/pan/monolog1.htm
Anselm von Canterbury (Anselmus
Cantuariensis) faßte seinen berühmten, aber auch des Fehlschlusses
verdächtigten ontologischen Gottesbeweis – zum Begriff des "Wesens,
über dem nichts Höheres gedacht werden kann" gehöre es,
zu existieren, denn wenn es nicht existierte, wäre ein Höheres
denkbar, das eben existierte, und so wird die Existenz Gottes aus dessen
begrifflichen Konzept abgeleitet – in eine Schrift namens "Proslogion";
dieser Text ist auffindbar und verfügbar, auch im Internet. Anders
steht es mit dem früheren Monologion
(=Selbstgespräch) Anselms, das gleichfalls eine rein-philosophische
Begründung der Theologie, vor allem des trinitarischen Selbst-, Welt-
und Menschen-Verhältnisses Gottes, versucht.
Ich stelle also das Monologion
in kleingliedriger syntaktischer Untergliederung ins Netz, sehe eine
etwas überdimensionierte Übersetzungsaufgabe auf mich zukommen
... ... und will nicht zu schnell aufgeben.
Der Text ist es auf alle
Fälle wert, – wie auch der Gedanke (in der anderen genannten Schrift,
im Proslogion) von dem Wesen, dessen Existenz aus seinem Begriff (erst)
folgt, bedenkenswert ist.
Verwirklichung von Kunstwerken,
Entfaltungen in der Natur (zumindest dann, wenn man sie als ästhetische
Wirkungen betrachtet), vor allem aber die vernunftbestimmten Handlungen
des Menschen, Erfüllungen des kategorischen Imperativs, dann auch
die Originalität der moralischen Phantasie, konkret verdichtet in
den einsamen Entscheidungen und Selbstüberwindungen des Individuums
– in allem schöpferischen Tun folgt die Verwirklichung dem Konzept,
ist zugleich aber auch der tote Baumkronenrand der Entfaltungen. Die Schrift
folgt der Formulierung, diese folgt dem Gedanken. Aber die im Denken gesuchte
Wahrheit geht nicht in Formulierungsblüte und Schriftfrucht auf. Verwirklichung
ist in der Offenheit des allkommunikativ-lebendigen Geistes etwas anderes
als im dinglich ausgereiften Produkt, auch wenn dieses ein gestalteter
Ausdruck jenes, des all-einigen Seins alles Seienden, ist. Verwirklichung
als Handlungskraft ist das eine, Verwirklichung als erhandeltes Ergebnis
da andere.
Ich bin gespannt, wie sich
Anselms Gedanken, Ideen und Erkenntnisse im Monologion sprachlich formuliert,
umgesetzt und verwirklicht finden; zunächst steht da alles (nur) auf
Latein.
grusz,
hansz
7.
Rundbrief 2005: Novalis: Klingsohrs Märchen von Fabel und Eros
Liebe Freunde!
Das Astralis-Geburtsgedicht
mit seiner Zeit-Kreisläufigkeit,
das ich zu Jahresanfang
ins Netz gestellt habe, leitet den zweiten Teil des Heinrich von Ofterdingen
ein; Ende des ersten Teils, also der Text unmittelbar vor jenem erstaunlichen
Lied, bildet das große Märchen, das der Goethe-Repräsentant
in diesem fragmentarischen Roman erzählt, der künftige Schwiegervater
des werdenden Dichters in Augsburg mit dem sprechenden Namen Klingsohr.
Dieses Märchen übertrifft
an Komplexität und innigst miteinander verknüpften Handlungs-
und Verwandlungssträngen noch das
komplizierte Märchen Goethes von der Schlange und der schönen
Lilie bei weitem; es ist dabei sogar geschmeidiger, feinsinniger, von
einer berauschenderen Fülle der symbolischen Anspielungen, Rätselspiele
und Bedeutungen, immer in Bildern konsequent durchgeführt. Um ein
Beispiel zu geben: Die Welt des Unterbewußten hat eine schwarze Sonne,
die Finsternis ausstrahlt, und statt eines dunklen Schattens werfen die
Dinge dort einen Lichtschein. Oder die verführerische Gestalt der
Phantasie, die im Märchen Ginnistan heißt; das G ist als Dsch
zu lesen, denn es ist persisch-arabisch: das Geisterland, Land der Dschinne,
das in dieser allzu schönen Tochter des Mondes personifiziert ist.
Eros ist der geflügelte Jüngling aus dem alten Vorbild des Goetheschen
wie auch des Novalisschen Märchens: nämlich aus Amor
und Psyche, dem Ammenmärchen in der Mitte des antiken Esels-Romans
des Apuleius.
Goethe in der Rolle des
Klingsohr, oder Klingsohr mit dem Charakter Goethes trägt also dieses
überströmende Geniestück vor. Klingsôr aus Ungerlant,
so heißt der Helfer des Heinrich von Ofterdingen in der mittelalterlichen
Dichtung vom Wartburgkrieg, und Novalis hätte gerade diesen alten
Sängerwettstreit zu einem Kernstück seines Romans machen wollen,
aber er starb früh und hinterließ nur den ersten von sieben
Teilen, dessen Ende ja eben dieses Märchen ist, und den Anfang des
zweiten. Gegenspieler Klingsôrs ist in jener Dichtung aus dem 13.Jahrhundert
kein geringerer als Wolfram von Eschenbach; sie singen einander Rätsel
um die Wette, um den Kopf, um ihr Leben: ein Geisteskampf, in dem der ungarische
Astrologe und Magier, der den zuvor unterlegenen Ofterdingen vertritt,
den Dichter des Parzival nicht überwinden kann.
Ich möchte den Wartburgkrieg
in Simrocks Fassung demnächst ins Netz stellen, muß aber sowohl
den mittelhochdeutschen Text als auch Simrocks reimend versifizierte Übertragung
Strophe für Strophe aus meinen dunkelgrauen Kopien abschreiben; das
braucht seine Zeit. Immerhin wird dies das
kleine unscheinbare Schlußsteinchen sein, das die Mitte mancher
rosettenförmig geordneter Traditionen-Reihen und Themen-Schleifen
bildet und alle miteinander vereint: Wagners Tannhäuser,
der die Rolle des Ofterdingen im Sängerkrieg auf der Wartburg einnehmen
muß, und der Heinrich jenseits der Dinge (Afterdingen hieß
der junge Dichter ursprünglich) bei Novalis zweigen gleichermaßen
vom Wartburgkrieg aus; und der reale Wolfram
von Eschenbach mit seiner Gralsdichtung ist gewissermaßen die
Wurzel dieses Baumes, denn Schastel marveile, das Zauberschloß, in
dem Gawan seine Prüfungen besteht und die dort gefangenen Frauen befreit,
ist Machtbereich und Werk eines Schwarzmagiers namens Clinschor. Nicht
zu vergessen der Parsifal
Wagners, dessen zweiter
Akt in Klingsors Schloß spielt, wo zuerst
die Blumenmädchen und dann die
Dschinnistan Kundry den törichten
Parsifal zu küssen
versuchen.
Wie Vergil den Dichter Dante
durch die innerirdischen Sphären, durch die Schalenzwiebel der Erde,
hindurchführen muß, da jener, eben Vergil, einst den Aeneas
durch das Totenreich, durch Fegefeuer und Gefilde der Seligen, hat steigen
lassen, so muß im Wartburgkrieg Wolfram die Keimkraft des Christentums
gegen den klugen Wissenschaftler Klingsôr entfalten. Was für
Wechsel der Rollenspiele in Spannung gegen die Namen und Identifizierung
der Personen unter den Namen!
Dies ist die eine Arbeit
dieser Wochen; eine andere ist Anselms
Monologion, das ich nun langsam übersetzen möchte:
Wie herrlich die Apfelbäume
jetzt blühen! Die Zweige überschüttet von Weiß mit
einem Hauch von Rosa. Erkenntnisbäume?
grusz,
hansz
Nachklapp
zum 7. Rundbrief 2005: Novalis: Zur Aufschlüsselung von Klingsohrs
Märchen
Liebe Freunde!
Innerhalb der sorgfältig
und genau ausdifferenzierten und komplizierten Bilderschrift von Klingsohrs
Märchen fällt die zweite Anfangsszene durch ihre klare Schlüsselhaftigkeit
(auch für die Deutung der anderen symbolischen Bezüge) besonders
auf: Sie personifiziert in schlichter Deutlichkeit die Gemütskräfte
im Innern des Menschen, z.B. den Verstand als "Schreiber" des Kurzzeitgedächtnisses,
die Phantasie als "Ginnistan" (Dschinnistan, Geisterland), die kindlich-muntere
poetische Inspirationsquelle als Ginnistans Töchterchen namens "Fabel",
das Wachbewußtseins-Ich, das immer durch die Sinne aus- und eingeht,
als "Vater", und schließlich die innerseelische Weisheit unter ihrem
griechischen Namen "Sophia" (dies ist auch der Name der frühverstorbenen
kindlich-jungen Geliebten Friedrichs von Hardenberg) als Priesterin am
Altar dieses Seelenraums.
Rätsel bzw. offene
Frage: Wer oder was ist bzw. bedeutet die "Mutter" des Eros in dieser Szenerie?
grusz,
hansz
8.
Rundbrief 2005: Apuleius: Märchen von Cupido (Amor) und Psyche
Liebe Freunde!
Wenn ich schon das im Ofterdingen-Roman
eingeschlossene Märchen von Fabel und Eros (Amor) darbiete, dann nötige
ich Altphilologe mich ja gewissermaßen selbst dazu, das antike Vorbild
aller Kunstmärchen ins Netz zu stellen, für die Novalis-Fabel
bedeutsam vor allem wegen der hier wie dort zentralen Amor-Gestalt.
Das ist also das Pfingst-Pfund
dieses Jahres: Das im Roman vom Goldenen Esel eingeschlossene Märchen
von Psyche und Cupido (Amor), in asianischem Stil, d.h. in einem maßlos
impressionistisch flirrenden, barock überbordenden poetischen Sprachfluß,
einem höchst kunstvollen, musikalischen, klangspielerischen Latein
mit hohem Wortschatz entwickelt von Apuleius aus Madaura (in der römischen
Provinz Africa, wie später Tertullian und Augustinus) im 2. Jahrhundert
n.Chr.
Das einzige lateinische
Märchen der Antike in dem einzigen vollständig erhaltenen Roman
der Antike (außer den Fragmenten des Satyricons von Petronius).
Text lateinisch und deutsch,
wobei erst der erste Teil bereits eigene Übersetzung ist, das andere
lehnt sich vorläufig noch an Brandt/Ehlers (München 1957) an.
Es bleibt aber noch ein ziemliches Stück Arbeit, eben ein wuchtiges
Pfingstpfund:
Bei Novalis ist es Amor
bzw. Eros selbst, der eine Art pubertären Sündenfall durchmacht,
verführt von der Phantasie, Ginnistan. Bei Apuleius ist es die Seele,
Psyche, die eine Verführung durch böse neidische Schwestern und
dann geradezu eine Passion durchmachen muß: Die Mutter des Cupido
bzw. Amor, nämlich Venus, läßt sie aus Eifersucht auf die
Schönheit ihrer Konkurrentin maßlos leiden, indem sie ihr harte,
eigentlich unbewältigbare, tödliche Prüfungen auferlegt.
Der letzten Prüfung und Versuchung erliegt die Seele zwar, wird aber
noch durch den geflügelten Amor gerettet.
Frohe Pfingstwochen!
grusz,
hansz
9.
Rundbrief 2005: Anselms Monologion nun auch auf Deutsch; Erzählung
aus Sa'dis Rosengarten
Liebe Freunde!
I. "Es stürzt der Fels
und über ihn die Flut" (Mignon in Goethes Wilhelm Meister) – in der
Tat: Berge von Klausuren auf meinem Schreibtisch brechen über das
noch überarbeitungsbedürftige Apuleius-Ammenmärchen herein
und ergießen sich in die große Anselm-Baugrube, an deren Rändern
zwar eine deutsche Übersetzung bereitsteht, die aber noch durch-,
über- und hineingearbeitet werden müßte zwischen die bereits
gegliederten Abschnitte des lateinischen Textes. Wenn es dereinst soweit
kommen sollte, würde ich auch inhaltlich noch einmal auf die Gottesbeweise
des Monologion eingehen wollen, vielleicht auch deren parallel-unabhängige
Entsprechung zum zehnten
Kapitel der Bhagavadgîtâ und die Kritik Immanuel Kants
untersuchen.
Auf die Spannkraft des Gedankens,
auf den durch die Natur und die Entwicklung der Wesen hindurchgeführten
Selbstbeweis der sich in ihnen auslebenden, auswirkenden, zu begreifen
suchenden Intelligenz, auf eben diesen spannungskräftigen Bogen lassen
sich manche Frage-Pfeile auflegen, so auch die Frage: inwiefern die Konzentration
des Kostbarsten in der Weisheit der Schöpfung sich in einer Person,
einer Geburt, einem Ich zentrieren kann? Doch dazu später, in einigen
Wochen wohl.
II. Meine nächtliche
Einschlaflektüre ist zur Zeit eine berühmte persische Gedankensammlung,
nämlich der Rosengarten (persisch "Gulistan") des
Muslih ad-Dîn Sa'dî. Den folgenden Fund habe ich nun
auf der Taj-Mahal-Seite eingerückt, als eine Art Korrektiv, Ergänzung
oder Gegenimpuls zum steinbunten Prunk jenes Grabmals.
grusz,
hansz
10.
Rundbrief 2005: Geburtstag
Liebe Freunde!
Die "Betrachtungen
zum Tag der Geburt" (de die natali) von Censorinus, 238 n.Chr., sind
nun lateinisch und deutsch vollständig im Netz,
pünktlich zum heutigen
Geburtstag derjenigen, auf die in ganz besonderem Maße das Astralislied
von Novalis paßt:
An
einem Sommermorgen ward ich jung ...
Der spätantike Autor
versteht in seiner gelehrten Schrift, die Medizinisches zu Zeugung und
Embryonalbildung, Pythagoräisches zu Zahlenverhältnissen, Entwicklungsrhythmik
des werdenden und heranwachsenden Menschen, zu Planetenumschwüngen
und Sphärenharmonie, Saitenteilung und Intervallen, also Musiktheorie
und Astronomie im exemplarischen Beispiel des Geburtstages miteinander
verbindet bzw. ineinandergreifend verknüpft sieht und einander erläutern
läßt, die Geburt des Menschen als ein musikalisch-kosmisches
Ereignis, in dem eine ganze Himmelspartitur gewissermaßen zur biologisch
konkreten Aufführung kommt.
Die medizinische und biologische
Wissenschaft des Censorinus ist gerade durch diese weit ausgreifenden Analogien
natürlich sehr alt, archaisch, entspricht aristotelischen Elemente-
und Säftelehren, d.h. der antiken Syzygien-Lehre, wie sie noch für
das gesamte Mittelalter bestimmend ist und erst bei Paracelsus allmählich
ausklingt. Heutigen Ärzten dürfte das alles skurril vorkommen,
zumal moderne medizinische Konzepte kürzere Verfallsdaten haben als
solche zweitausendjährigen Aristotelismen. Ähnlich fremd ist
uns die musikalische Astronomie des Censorinus, aber er schildert nur die
pythagoräische Grundlage des antiken und des gesamten mittelalterlichen
Weltbildes, wie es sonst aus Ciceros
Somnium Scipionis bekannt ist.
Immerhin führt er alle
ihm verfügbaren medizinischen Theorien jeweils knapp an, gibt seine
Lehrstücke trotz des allbekannten Standards nicht vergleichslos-dogmatisch
vor.
Und genauso enzyklopädisch
gelehrt wie bei den medizinisch-biologischen zeigt er sich bei den astronomischen
und musiktheoretischen Aspekten seines Betrachtungsthemas, wenn es um die
Abstände und damit um die Intervalle der tönenden Sphären
geht oder um die besonders kontroverse, aber neugierig durchforschte Berechnung
des großen Weltjahres.
Dann ist diese Schrift auch
eine ausgezeichnete Quelle zur Herausbildung des julianischen Kalenders
inmitten einer Fülle anderer Jahreslängen und der Differenzierung
der verschiedenen Tagesberechnungen, wie sie uns hier in Görlitz durch
die Sonnenuhr, das Solarium
über der Ratsapotheke am Untermarkt bekannt sind. Also auch hier
Modelle, die bis ins 16. Jahrhundert hinein nebeneinander galten, bevor
unsere neuzeitliche Uhren den römischen "Tag" mit 24 Stunden von Mitternacht
bis Mitternacht durchsetzten.
grusz,
hansz
11.
Rundbrief 2005: Kunst aus dem Venusberg
Liebe Freunde!
In der Zeit der Beatles
("I'd
love to turn you on"), der Stones ("She comes in colours") und der
drei Cream-Gewaltigen ("Strange
brew"), in der Generation von Bob Dylan ("Mr. Tambourin Man"), Jim
Morrison ("Riders on the storm") und James Marshall Hendrix ("Hurray, I
awake from yesterday") rief der heimliche Herr Tannhäuser
in vielerlei Gestalt laut dazu auf, in den Venusberg einzuziehen: "Naht
euch dem Lande, naht euch dem Strande!" lockten die süßen Sirenengesänge
die Schiffer auf die Klippen, um die Nußschale
des principium individuationis zu zerbrechen (allerdings waren unsere
Ohren damals mit Wachs verstopft), Orpheus
wurde von rasenden Mainaden zerrissen, Dionysos
brach frisch durch die apollinischen
Bewältigungs-Oberflächen hindurch, und das nun mit Apollos
ureigenstem, nun aber in Rückkopplungen elektrisch flutenden, flötenden
Saiteninstrument! – Kurz: Musik, Dichtung und Kunst nährten sich,
ach, sie strömten reich über aus den verbotenen
Quellen, die im Tannhäuserdrama
drastisch-direkt "der
Hölle Glut" heißen, heute mit medizinischen Diagnosen, juristischen
Warnungen und moralischem Abscheu umkapselt, abgeurteilt und abgetan sind,
und zu Recht einem nicht geringeren Tabu unterliegen als irgendwelche andere
Verführungsversuche.
Nicht alle dieser alten
Venusberg-Lüstlinge sind ihrerzeit jugendlich-unvollendet gestorben;
und ihre Werke wären auch dann noch längst nicht urheberrechtsfrei.
Ich verlinke die sieben Gemälde (einige davon sind berühmt, "Ikonen")
und die sieben Federzeichnungen, die ich hier gewissermaßen privat,
suchmaschinenfremd, gesondert mitteile, deshalb nicht mit den anderen "klasmata"
(den Brot-"Brocken") der 12 Körbe, – sie sind eher von
den "Fischen", wohl verborgen.
Aber toll sind sie schon,
diese Tannhäusereien, in allen Bedeutungen des Wortes, und vorenthalten
will ich sie Eurem kritischen oder neugierigen, unschuldig offenen oder
listig blinzelnden Blick nun nicht. Aber bitte setzt dieses Mal keine links
auf Eure Internetseiten, die den Zugang zu diesen privatissima ins Unendliche
des Netzes aufreißen könnten.
Eigentlich wollte ich nur
den ersten der sieben Farben- und Formenkosmen einigen Freunden schicken
(und nun sind's halt ein paar mehr), weil mich dieses Bild schon immer
besonders fasziniert hat: Isaac Abrams gab ihm einen Titel, der die Dynamik,
den Schwung der schwarzen Schnitte und Schattenbögen betont, aber
das lenkt kaum ab von dem hellblauen Sternenrosettenhimmel, der so sanft
aufgeht und den Betrachter so schlafenssüß mit sich nimmt, in
sich hineinzieht, ins unendliche Meer von Myriaden lieber Engelaugen entführt.
Zauberhaft!
Und nun ist da auch das
Paradies von "All things are part of one thing", an dem ich die grüne,
flächigere Stelle am rechten Rand besonders liebe, mit den tunnelartigen
Löchern bzw. Durchblicken. Alles eine organisch in sich gegliederte
Gesamtsubstanz, "Fleisch von meinem Fleisch" für den Betrachter. Und
da ist auch das berühmte Santana-Plattencover von Mati Klarwein, ein
in sich selbst-enthaltend wieder-gespiegeltes großes Welt-Mandala,
ein von Gesichtern und Gebäuden erfüllter konkaver Planet bzw.
Kugelbinnenraum, etwas zu grell und plakativ, wie ein überfüllter
Strand: Tumult, Reiselust, Ferienstimmung, die sich in eben dem filmbunten,
eitlen Perlenspiegel des einen planetaren "Sandkorns" wiederfindet:
Ferienstimmung, Reiselust,
dulce est desipere.
Ach, fast hätte ich's
vergessen: Es gibt da vier
Photos von mir: vom Februar (wie ich im Garten des Gulbenkian-Museums
in Lissabon sitze) und vom Juni dieses Jahres (Arbeitszimmer); auch diese
Photos werden mit den anderen Seiten nicht verlinkt und bald wieder aus
dem Netz genommen; nur für Euch, liebe Freunde.
grusz,
hansz
12.
Rundbrief 2005: And the Web is a Female in embrio
Liebe Freunde!
Kaum hatte ich die
eine Generation alten Visionen der von Hofmanns Elixieren trunkenen "Venusberggäste"
dargeboten und den letzten Rundbrief geschrieben (das war vor einer Woche),
da ging ich schon auf die Suche nach einem gewissermaßen Wolframschen
oder Elisabethschen Heilmittel für die bloßgestellten Künste
und Kunstgenüsse, in denen sich die "verbotene
Lust" des Hörselbergs so tannhausend-genial austobt. (Man sieht,
ich steuere langsam auf Wagners
Tannhäuser zu, so bezogen auf den mittelalterlichen
Wartburgkrieg, den ich bald abschreiben will, wie seinerzeit der Parsifal
auf den mittelalterlichen Parzival
zu beziehen war.)
Elisabethsche Heilmittel
sind am ehesten diejenigen, die den "Sohn", das an der Jetzt-Front der
Zeit immer neu hervorlebende Wesen, die Freiwilligkeit des glühend-tätigen
Opfers in aller Handlungsenergie, konkretisieren; Wolframsche Hilfen spiegeln
geisthaft jenes Aufkeimen, jenen Sternenaufgang, in reflektierender Schau,
vermitteln das schamhaft verborgene elisabethsche Opfer, rufen es dem Erlöungsbedürftigen
ins Bewußtsein – so jedenfalls in Wagners Frühwerk vom Krieg
der Sänger um die wahre Quelle der künstlerischen Inspiration
und der Schönheit: Entspringt sie erotischem Reiz und dionysischem
Rausch (so das gesetzbrechende "Genie" Tannhäuser)? oder einer stillen
Heiligkeit und reinheitsorientierten Selbstmäßigung (so der
allseits verkannte Freund und Tröster des verkaterten, verschuldeten,
verlorenen Romheimkehrers am Ende)?
In diesem Heilungssinne,
als gesundendes Gegenmittel zum horror
vacui, den ästhetischen Grenzüberschreitungen und den grellen
Maßlosigkeiten der dargebotenen Sechziger-Jahre-Räusche
hier nun – sieben
Zauberwerke von Meister Klee.
*
Once upon a time, in frühen
Jugendjahren, träumte ich davon, meine Gedichte
oder metaphysischen
Philosopheme in illustrierter Fassung oder meine Bilder
mit Texten und Liedern durchschrieben eines Tages selbst zu drucken,
hätte mir beinahe auch eine ausrangierte Druckmaschine gekauft, aber
ich beherrschte das entsprechende Handwerk nicht und hatte genug drängende
Pflichten um die Ohren. William Blake kannte ich damals noch nicht, aber
wer kennt ihn denn wirklich, den Rätselmagier der großen Werkzyklen?
Im Netz finden sich aber leicht 1. The
book of Urizen mit den anhängenden books of Ahania und of Los,
und 2. The book of Thel.
Kostprobe: The
Book of Urizen, Plate 23 (Chap: VIII, 7-9):
7. Till a Web dark &
cold, throughout all
The tormented element stretch'd
From the sorrows of Urizens
soul
And the Web is a Female
in embrio.
None could break the Web,
no wings of fire.
8. So twisted the cords,
& so knotted
The meshes: twisted like
to the human brain
9. And all calld it, The
Net of Religion.
Tieffromm, freiheitsliebend,
sohnhaft frisch aufsprießend lehnt sich Blake immer neu gegen das
traditionelle Gottesbild vom gesetzgebenden "Herrn" auf, unter dessen depressiver
Gewalt die Kraft, die
in der Johannesapokalypse "die erste Liebe" heißt, zur Sünde
hinabgedrückt wird. In sophienhaft
ursprünglicher Reinheit erscheint sie in der Hauptgestalt des
book of Thel,
eben als Thel selbst, und verlassen, leidend in der "Ahania"
des Urizen-Anhangs.
Und erst in diesem Rückwärtslesen,
vom apokalyptisch-prophetischen Jerusalem-Ende der Blake-Werke zu seinen
lyrischen Anfängen hin, kam mir die Ahnung, daß seine Anfangswerke,
die spielerischen Hirtenlieder der Songs
of Innocence and of Experience, keineswegs Kindereien eines dummen
Dilettanten sind, sondern die hohe Kunst pflegen, fast Unsagbares an der
Grenze aller Vernunft in kindlicher Naivität zu konzentrieren. Erst
lachte ich über Blakes Tyger
und seine Fliege,
die gewissermaßen ein Mensch wie du und ich ist, aber inzwischen
bin ich eher erschüttert über die Kindlichkeit dieser weisen
Verse. Da zeigt sich ein Apokalyptiker, der in den Klängen phantastischer
Namen zu lesen versteht, ein Imaginateur, ein Seelenkräfte-Personifizierer
und Mythen-Schauer wie später Wagner
in der Ring-Tetralogie.
Er ist ein Gnostiker, der
inmitten der materiellen und gesellschaftlichen Gesetzesfesseln doch schlicht
auf Jesus vertraut: auf das Lamm,
auf das Kind,
auf das gerade in Religion und Kirche als Sünde diffamierte Heilige,
auf die Süße der ursprünglichen
schöpferischen Freiheit der Kinder Gottes, auf die
erste Liebe.
grusz,
hansz
13.
Rundbrief 2005: daß hât mich ie gegen Indiâ gewîset
Liebe Freunde!
Ich überreiche überreiche Fruchtkörbe, und so brechen die
ersten drei Erntewellen dieses Sommers über meine lieben Leser herein,
nämlich
I. Indien-Bilder, II. Wartburgkrieg, III. noch mehr Blake
I. Von der Indienreise im Monsun des vorigen Jahres (2004) stammen die
vielleicht 200 Photos, die ich nun großformatig ins Netz gestellt
habe; man klickt wie üblich jeweils ein Bild an, um so zum jeweils
nächsten zu gelangen, usw.:
http://12koerbe.de/hanumans/indien/1-mumbai.htm
Viel Taj Mahal, viel Udaipur – ich empfehle besonders die Deckenmalereien
des Palastes:
http://12koerbe.de/hanumans/indien/9-udai-b.htm
II. Klingsôrs Indien-Spruch oben im Betreff (Titel dieses Rundbriefs)
entstammt dem mittelhochdeutschen Liederzyklus vom Wartburgkrieg, der,
wie
es bereits im 7.Rundbrief (zu Klingsohrs Märchen von Fabel und Eros)
entknotet und
neugeflochten
wurde, sowohl für den "Heinrich
von Ofterdingen" des Dichterphilosophen Novalis als auch für Wagners
Tannhäuser
die literarische Urquelle darstellt:
http://12koerbe.de/lapsitexillis/wartb-2.htm
III. Mit Staunen habe ich zufällig herausgefunden, daß das berühmte
große Mandala
von Mati Klarwein mit seinem Titel eine Zeile aus einem Blake-Gedicht
zitiert, das mit folgender Strophe beginnt:
To see a World in a Grain of Sand
And a Heaven in a Wild Flower
Hold Infinity in the palm of your hand
And Eternity in an hour
Und nun auch noch mehr, noch viel viel mehr von William Blake:
1. The Marriage
of Heaven and Hell
Auf plate 14 dieses frühen Werkes, voll von ungestümem Nietzscheanismus
mehr als zwei Generationen vor Nietzsche selbst, findet sich die bemerkenswerte
Sentenz:
If the doors of perception were cleansed every thing would appear
to man as it is, infinite.
For man has closed himself up, till he sees all things thro' narrow chinks
of his cavern.
2. Aus "Jerusalem",
dem gigantischen Schlußwerk aus 100 großformatigen Platten,
hier nun 30
besonders eindrücklich illustrierte Beispiele seiner ausgereiften
Meisterschaft.
3. Und last but not least das (von Blake selbst allerdings wohl ausgeschiedene)
Vorwort (plate 1) des Blakeschen Milton-Werks, das dem Jerusalem-Zyklus
vorangegangen ist.
Es enthält, nach einigen heftig-pathetischen antiklassischen Einleitungsworten,
das wohl berühmteste Gedicht dieses Flammengeistes, in dessen rhetorischen
Fragen, anaphorischen Imperativen und Selbst-Opfer-Feuern nun auch dieser
Rundbrief melodisch aufbrennt und verlodert: Jerusalem
grusz, hansz