Er
zog drei große Spiralbögen über die ganze Fläche des
Papiers, in gleichem Abstand, gleicher Windung auf die Mitte zustrebend.
Nein, die Verteilung schien ungleichmäßig, schon durch das Rechtecksformat
des Blattes, er holte ein anderes, größeres, schnitt es auf
ein Quadrat zurecht und zog nach sorgfältiger Prüfung die Linien
mit einem Bleistift neu. In der Mitte mußte er radieren, da sich
nun neue Probleme zeigten, nämlich, wie schnell die Krümmung
im Zentrum anwachsen durfte, um gleiche Verhältnisse für alle
sich dort treffenden Linien zu wahren. Er nahm sich ein weiteres Blatt
für eine Skizze hinzu und versuchte nun erst, seine eigentliche Grundidee
zu klären. Die
Idee war ihm gekommen, als er in einem Lexikon die Darstellung der Farbaddition
und Subtraktion entdeckt hatte, das Schema mit den drei sich überlappenden
Feldern. Nicht die Farben waren ihm aber das eigentliche Erlebnis gewesen,
sondern die Überschneidung der drei Kreise, von denen jeder an den
Flächen der beiden anderen teilnahm, die Harmonie dieser vielfach
symmetrischen, einfachen Form. Wie nun, dachte er, wenn man die vom Mittelpunkt
wegstehende Rundung der Kreise in gotische Fensterwinkel verwandelte und
so die Linien, die sich dort vorher im Kreis eingeschlossen zu den Nachbarn
zurückbewegten, befreite, im stumpfen Winkel nach außen aufbrach
und die nun aufeinandertreffenden, sich nun kreuzenden Linien weiterführte?
Mit Freude sah er seine Erwartung bestätigt: Die gegenläufigen
Spiralarme trafen bald die gleicherweise befreiten Linien der Nachbarn,
und die dreiblättrige Blüte wuchs zu einer größeren,
gleichfalls dreiblättrigen Keimzelle einer noch größeren,
immer weiter fort, wie das Papier und über das Blatt hinaus die Vorstellung
reichen wollte. Das
Ganze sah aus wie ein flächiger Knoten, so locker geknüpft, daß
die Struktur durchschaubar war; denn jeweils zwei der sechs Spiraläste,
die vorher einen Kreis gebildet hatten, zeigten ihre alte Verwandtschaft
noch in der gemeinsamen Schleife um den Mittelpunkt herum. Hier war das
Prinzip noch nicht ins Unendliche geführt, hier suchte er einen Ansatz.
Denn es sollte keine letzte Blüte in dieser Einschachtelung und Verwebung
der Blumenentwicklung geben. So ging er zum großen Blatt, das die
Ausführung des Plans bringen sollte, zurück und führte alles
nach dem gleichen Muster aus, in dem ihm die Idee gekommen war. Er
mußte lächeln über den ganzen Aufwand. Hätte nicht
jeder von diesen Computern, die so sterilsaubere Graphiken produzieren
konnten, die Lösung ohne großes Probieren gefunden? Was ihn
packte, war aber die Idee, und die Wirkung der Ausführung gab ihm
recht. Was er aus freier Hand nicht geschafft hatte, die Spiralen in regelmäßige
Abstände und Einfaltung zu bringen, war nun recht gelungen: Keine
Linie beherrschte zu sehr die anderen, und der einzige Halt, den der Betrachter
finden konnte, lag in den Kreuzungen der drei gegen die drei, in der einfachen
Symmetrie des Musters, in dem Blüte in Blüte geknüpft stand
und sich immer weiter nach außen wie nach innen dasselbe Prinzip
erneuerte. Leicht ließ sich auch noch die Mitte korrigieren, nachdem
er schon die Ursprungs-»Kreise« möglichst klein gewählt
hatte. Er konnte sich nicht mehr losreißen von dem einfachen Bild,
und er ging ins Badezimmer, ließ das Wasser ein, ging zurück,
um das Bild nachzuholen, hängte es über der Badewanne an die
grüne Wand, so daß er bequem in der Wärme liegend in die
Betrachtung versinken konnte, zog sich aus, ließ kaltes Wasser nach,
stieg hinein in das noch heiße Bad unter der rauschenden Schaumdecke,
stellte das Wasser ab und legte sich ganz zurück, ganz hinein in die
wohlige Wärme. Ah, wie er das genoß. Es war nicht schwer für
ihn, nun weiter das Bild zu betrachten, und ohne jede Anstrengung ließ
er seine Gedanken kommen und gehen und merkte, daß das Bild eine
Mühle für seine Empfindung war, die keine Regung ungemahlen durchließ.
Es liefen alle seine Gedanken durch das Netz der Windungen, durch den unendlich
offenen Knoten immer nach innen zu, bis sie die feinsten Wahrnehmungen
grade überschritten, und dann kamen neue Ordnungen hinterher, das
ganze Ding bewegte sich, suchte Stabilität und Allgegenwart, wollte
in allen Beziehungen und Verknüpfungen erkannt werden. Was war das
eigentlich, was da hing? Es war geradezu unbegreiflich. Allein die Spiralen
in gleich Verteilung hätten ihn in ihrer Bewegung nach innen-außen
verwirrt, wie sie sich suchten und nie fanden – sich erst in Unendlichkeit
in eine nicht auszumachende Beziehung begaben. Was geschah dort, im Mittelpunkt?
Verschmolzen sie oder verschmolzen ihre Zwischenräume? Verschmolzen
sie mit ihren Zwischenräumen? Das ganze Bild war Frage, dichte visuelle
Frage voll von gewaltiger Gefühlskraft, die alle Gedanken in ihrem
Erlebenswert packte: Alles Denken war Erleben, wie alles Erleben nicht
bewußtlos war. So kreiste das Bildprinzip durch seine Empfindungen,
und seine körperlichen Gefühle kreisten im offenen Bild, fragend
und erfüllt im Streben zugleich. Denn das Überlogische, der Mittelpunkt
der unendlich sich suchenden Unterscheidungen, hier war er akut, gegenwärtig
in diesem Bild, das sich als Bild überstieg, das alle Begrenzungen
von Bild überwand in seinem Drang nach Erklärung, in seinem ständigen
Was bin ich: Sicher, schien es zu sagen, ich bin ein verkammertes Dreieck,
in mich hinein verbogen, doch welches Dreieck? Das außen, das innen,
das mit der Spitze oder das mit der Basis unten? Von allen Seiten verschieden
und von drei Seiten gleich. Ich bin eine Blume, die sich öffnet, nein,
nie findest du eine offene Stelle in dieser Blatt-über-Blatt-Entwicklung.
Und wie weit öffne ich mich, in alle Räume, und nie wird meine
Mitte offenbar. So
intensiv befaßte sich sein Geist damit, nein, sein ganzes Wesen wollte
es sich zeigen, daß der Knoten sich selbst löste, wenn er die
quellende Mitte in sich selbst fand, wenn er all sein Erleben in solchen
alles um- und eingreifenden Bahnen sich öffnen ließ, und alle
Sinne strömten ineinander, das Wasser floß sanft in seinen Rinnen,
der Badeschaum und die Wanne, die Wände um ihn, die Straßen
draußen waren nur Fortsetzungen seiner Kammerung, alles mit einbeziehend. Das
Bild sprach so in ihm, er antwortete, nein, Bild und Antwort waren eins.
Er sah seine Frage im Bild in die Einheit allen Lebens auslaufen, die weitgewundenen
Skalen entlang hinein in das Hier und Jetzt Sein. So fragte er zuletzt,
ob etwas zugleich und vom gleichen Standpunkt aus sein und nicht sein könne
und erlebte die Antwort: Sei alle Standpunkte umfassend, sei weit, sei
alle Zeiten, sei bereit, alles zu sein, sei jetzt hier! Der
Schaum platzte in seinen Ohren, das Wasser war temperaturlos, wenn er sich
bewegte, auf einmal warm, ein einlullendes angenehmes Gefühl. Die
Lippe war irgendwo trocken, auch auf dem Knie zog sich die Haut, und dieser
leicht seifige Geschmack, dieses kribblige Ziehen im Rachen, wenn er schluckte.
Er schaute auf den Wecker, den er sich zur Orientierung auf die Waschmaschine
gestellt hatte und lachte, weil er sich an vier Uhr nicht orientieren konnte.
War das früh oder spät? War die Badewanne hier, das Zimmer, sein
Körper groß oder klein? Ein winziges Bläschen, vernachlässigbar
im Schaum des Seins. Er lag in einem riesigen See, Gebirge von Knien ragten
daraus hervor, luftige Inseln von Schaum, in ungeheuren Entfernungen trieben
sie dahin. Draußen spielten die Kinder Rollschuh, er spürte
sie über seinen Rücken rauschen. Alles Wasser war sein Wasser,
alles Spiel war sein Spiel, denn es war seine Liebe und Sehnsucht, dieses
krrrch krrr auf dem Asphalt zu fühlen, den Drang, weit die Straße
hinauf zu rollschuhn und dann ein zwei verzögert-letzte Krrchs und
wieder straßab, so hin und her unter all dem Gelärm und Gespreche
der Kinder, die alles mit ihrer Wichtigkeit nahmen, und es war der Nachdruck,
den er allem beilegte, und ihr Lachen war sein Lachen über diese Situation,
zwei lachten: Seine satte Befriedigung, angeregt in all dem Geräusch
um ihn, und etwas Spöttisches, über ihn, der jetzt so ein kleines
Kind im Rollschuhalter war. Oder ein noch kleineres Kind. Er spürte
etwas Angst. Wenn nun sein Schwager zurückkäme oder seine Schwester,
die auch in diesem Haus wohnten. Was nun, wenn seine Freundin nun käme,
er wußte, sie würde irgendwann bald kommen. Wann? War es früh
oder spät? Die Suche nach Orientierung, nach Halt, war fürchterlich,
denn immer lief es auf Ablehnung seiner Person hinaus: Er durfte nicht
zeigen, wie empfindsam, wie ungedeckt offen er jetzt war, er, der immer
als Spinner galt, und er sah sich als überspielten Nichtsnutz, der
an der Zufriedenheit anderer Leute schmarotzte, an dem Spiel der Kinder
auf der Straße, an der Fürsorge der jungen Mutter da draußen,
die ihren Jungen hereinrief, er kam sich vor wie ein Voyeur an der festen
Stimme der Frau, und er merkte, was ihm »Frau« bedeutete, dachte
an seine Freundin, die er über alles liebte und die seit einigen Wochen
dabei war, ihm klarzumachen, daß sie sich trennen müßten.
Er hatte sie nicht verstanden. Und nun, in dieser Situation, in der halben
Fruchtblase Badewanne, im Seifengeruch und mitten in all diesen kreisenden
Wellen von Liebe und Angst, da verschlang ihn all das geradezu, er wäre
am liebsten sofort entschlafen, hätte nie existiert; Schande, daß
da noch immer Erinnerungen wären, ein weiterlaufendes Kreisen von
Liebe und Angst, alles durch das Wasser des Seins, der reinen Selbsterhaltung,
des flüssigen Befriedigungs-Ausgleichs, von dem dies Badewasser ein
umhüllender Ausdruck war. So wie er es spüren mußte, wenn
er sich bewegte, die Wärme und auch die lau gewordenen Temperaturen
um ihn, so mußte sich alles Sein bewegen bei seinem Versuch, sich
in Nichts aufzulösen, wenn es doch nur ginge! Und doch nicht, nein,
was will ich denn? dachte er, bin ich denn wahnsinnig geworden? Was ist
normal? Normal ist, die Dinge für das zu nehmen, was sie für
andere sind, denn an sich sind sie nichts als dieses reine volle satte
übersatte Sein, das Ewige im Spiel der Kinder, im Brummen der Flugzeuge,
im Hereinrufen der Mütter, im Glucksen des Wassers, in den zitternden
Kreiswellen auf dem Badewasser, die blanke Energie in Atome aufgewallt,
in all diesem Gewoge, Gerausche, in diesen Wellen Wellen Wellen das nicht
faßbare Was? Oh, was bist du, wo bist du, letzter Halt, Übereinstimmung,
wo bist du? Er
dachte an seine Freundin, das war sein Halt, nein, war sein Halt nicht
mehr, oh – nun kam ihm erst zu Bewußtsein, warum er so ins Suchen
geraten war. Himmel und Erde waren in seine Suche gebunden, all dieses
Kinderspiel, auch die lockenden Vögel da draußen, und all diese
furchtbar konkreten Gedanken, alles war in seine Frage verstrickt: Warum?
Er wollte fragen: Was ist denn überhaupt los? Meine Liebe, warum gehst
du? Wer bist du – mein Gott, was war ich nur blind, unverschämt blind,
wer bist du? Oh, und wer du auch immer bist, was kann ich für dich
tun? Wärst du nur hier, unbefangen und gegenwärtig wie früher,
was kann ich für dich tun? Nein, das eine, was du willst, das will
ich nicht: Keine Trennung, kein Vergessen, wie kann ich dich je vergessen,
warum weinst du? Er sah sie richtig, nicht wie ein Foto, aber er spürte
ihre Gegenwart. Er sprach richtig mit ihr, und die Antworten kamen schneller
als die Frage Zeit zur Formulierung gehabt hätte. Es war alles in
seinem Bewußtsein, im Verhandeln seines Ich mit seiner Selbstübereinstimmung.
Und das war dieser Kampf, daß sein Selbst, sein kostbares Leben,
so ausgerichtet war, so in sie versenkt, daß er diese Trennung wie
einen zerreißenden Wahnsinn erfuhr. Die Macht der Liebe, so in selbstvergessene
Bewegung versetzt, daß die Welle den ganzen Ozean seines Seins hätte
aufs Land werfen mögen, um dort zu zerbrechen und verlaufen ohne ihre
Basis. Er wollte sich nicht besinnen, und doch sah er ihr Bild, in allen
wechselnden Bewegungen und Gesten, die sie an sich hatte. Er sah ihre Feinheiten,
die er immer bewundert, gesucht und nie erfüllt hatte. Ihre Einzigartigkeit.
Sie lächelte ihn an: Es gibt doch so viele andere Frauen – nein, Mädchen
– was war sie, Frau oder Mädchen? er konnte die Lücke nicht füllen,
sie war beides in einem, es gibt so viele, die sind doch bestimmt nicht
weniger wert als ich? Nein, nein, ich will dich, klagte er, niemand sonst
ist so wie du, so verständnisvoll und weltoffen, so klug und erfindungsreich,
so unabhängig und unbeschreiblich in deiner permanenten Veränderlichkeit,
ich liebe dich und liebe dich noch mehr, weil du weg willst. Wo willst
du hin? Du wirst doch immer in der Nähe sein. Wenn ich dich nur öfters
sehen könnte! Siehst du, antwortete sie, schon gehst du wieder los
mit deinen Wünschen Ich will weg, ganz weit weg von dir, ich will
jetzt nicht weiter mit dir reden – schau, es gibt noch die und die und
die, alle Ausdruck derselben Weiblichkeit in anderen Formen, alles meine
Offenbarungen als göttliche Mutter und Vielgeliebte, als Erfüllung
aller Wünsche der Liebe, und es war schon nicht mehr seine Freundin,
es waren alle möglichen Frauengestalten und Gesten, die er je gesehen
hatte, ein ganzes ineinandergeschachteltes Spektrum von Weiblichkeit, Persönlichkeit,
von einer einzigen ewigen Seligkeit in tausend Formen, von denen ihm nur
zufällig einige wenige bekannt waren, und es gab doch alle. Siehst
du, sprach sie, ich bin hier, überall, ich bin in allen gegenwärtig,
nie werde ich dich verlassen, nie kannst du dich mir entziehen, auch wenn
du mich übersiehst, bin ich in allem, was du wünschst und was
dir gut ist: nimm was ich dir gebe, schien sie zu sagen, sie sprach durch
ihr bloßes Gegenwärtigsein. Er spürte einen gewissen Trost,
obwohl um tausend Jahre gealtert. Bang
beng begann die Glocke der nahen Kirche zu läuten, eine einfache,
moderne Kirche, und so einfach auch und eindringlich war diese Glocke,
mit ihrem vollen, breiten Ton. Und dieser eine sich weitertreibende Ton
sang ein Lied, das ihm von Kind her vertraut war, das er viele Jahre eigener
Entwicklungssuche nicht mitgesungen hatte, und das ihn nun im Herzen bewegte
mit einer Fröhlichkeit, die ihm ganz Ausdruck einer lebendig sich
erneuernden Tradition war; er sah den Priester weiß um den Altar
gehen, er roch im Ton der Glocke etwas Weihrauch, sauber und klar, und
das Lied ihrer reifen, hellen Stimme, die in ihre eigenen Silben immer
einfiel mit neuen Lobpreisungen, Herr, Herr, war voller Andacht und Liebe
zu Gott, war Schwingung seiner Güte, Einklang auf Einklang, das Herz
so zufrieden und satt machend mit dem Brot des Lebens, der Reinheit des
Einklangs mit dem Herrn: Hier ist dein Diener, nimm mich ganz auf, betete
der Priester, und er selbst war Priester mit seinem Geiste, schreitend
um den Altar seines Herzens. Noch
saß er in der Badewanne. Er tauchte unter das Wasser, schmeckte die
fade Lauge und wusch sich die Haare, das Shampoo juckte den Rücken,
er tauchte wieder unter, wollte sich jetzt beeilen, fühlte eine Stärke
in sich aufsteigen, eine Lust in den Muskeln, die grünen Onyxströme
des Wassers waren noch übernetzt von wabernden Blasengittern, tausend
Sternpunkte wie Augen, bei seinen Füßen noch zu funkelnden Schneegebirgen
aufgetürmt, über seine Arme fleckenweise gewebt in komplizierten
Spitzen. Die dünnen Schaumkontinente ließen das dunkle Wasser
in kleinen Punkten durchblicken, als sei ein weißes Universum von
schwarzen Sternen durchsät, buntblasige Sonnen darin dicht an dicht,
unzählige Atomsterne verstäubt in den weiß verschmolzenen
Zwischenwelten. Ein menschengestaltiger Marmorgott lag er darin, grenzenlos
zufrieden und überwach, mit glitschiger Haut, mit halbtrockenen juckenden
Stellen, wo er aus dem Teich herausragte, und eine ganze Weltansicht bestand
aus diesem Komplex von Marmorfleisch und Onyxwasser, gewirbelt von seinen
Händen, und sein Knieberg versank in den juwelenbedeckten Fluten und
ward nicht mehr gesehen, er aber war erhaben über das Getöse
und die Katastrophe für all die Wesen, die auf der Insel gewohnt haben
mochten, ließ nun auch das Wasser ab, gjchjuh schlürfte das
Rohr es gierig ein, er stieg hinaus, trocknete sich ab und kam sich, seiferiechend
und alle Nässe – wie natürlich war das Naßsein – beseitigend,
etwas eitel vor. Nur flüchtig abgetrocknet zog er sich neu an, beeilte
sich, wollte hinunter in den Keller, wo er wohnte, und sofort Klavier spielen. Er
lief, sprang, stürzte übermütig die Treppe hinab in seinen
kleinen Kellerraum, wo er wohnte, zog die Gardinen des Fensters zur Straße
auf, so daß die Atmosphäre des späten Sommernachmittags,
blauer Himmel und Wärme, sein Zimmer füllte, klappte das augentiefschwarzglänzende
Instrument auf und machte sich über die Tasten her, sich selbst bespielend
und forttreibend in brutalmächtigen Dissonanzen. Er durchbog die Akkorde,
zerbrach sie, zerklimperte sie, und aus den Nebenbemerkungen, den Verzierungen
ließ er Themen und Melodien wachsen, schwellte sie an und machte
sie zu mächtigen Herren über das wüste Land, die alles in
ihren Bann zogen und in breiten Schlachtenreihen über das freie Feld
seiner Zeithingabe hinwegdonnerten, bis sie selbst in alle Richtungen auseinanderbrachen,
ein Trupp in wildem Galopp sich wendete und mit wirbelnden Rhythmen den
fragend verharrenden Harmonien Geltung verschaffte, ihrer Spannung Ausdruck
verlieh, ihre Aussage über die ganze Fläche ausbreitete, bis
nur noch vereinzelte Boten abgerissene Meldungen durch den brausenden,
langsam sich drehenden Nachklang stotterten, da alles nun der unaussprechlichen
Allmächtigen zu Füßen gelegt war, der unspielbaren Idee
des Schönen. Er schloß die Augen und begann zu schweben, zu
reiten auf den Klangtrümmern, sie in Klastern zu sammeln und sie zu
opfern, zu verbrennen in krachendberstenden Anschlägen, denen eine
ganze Streicherpalette, Orgeln, Mundharmonikastreifen in reibenden Frequenzströmen
nachfolgten. Da wuchs eine herbe Klage heraus, er spielte sie, ihre Trennung
von ihm, er spielte sich als einen jungen Indianer, durch die Nacht laufend,
oder über loderndes Gras reitend, zäh sogen die windgetragenen
Töne ihn fort, Brahms in Dylans schräger blues-harp, zog seine
Seele in die Länge, in einen langen, langen dünnen Faden, den
nahm seine Mutter und webte einen bunten Wandbehang daraus, rot, weiß,
orange und solche leuchtenden warmen Farben, in jahrtausendealter Webetechnik,
und er spielte dieses Gewebe auf dem Klavier, er strickte ein harmoniereich
verschränktes Thema durch alle Tonarten entfaltend, immer weiter das
gleiche, die Akkorde dieser ewig erneuerten Strophenarchitektur in immer
krummeren Rhythmen biegend, die ewige Gesetzlichkeit der Komposition brechend,
alle zehn Finger einsetzend und zerspielend, in wütendem Gedonnere
ließ er das Lied versinken und lauschte mit gedrücktem Pedal
noch lange in den singenden Ozean des Nachklangs hinein, da surrten silbrige
Mondwolken durch das schwarze Holz, da schlossen sterbende Chöre ihre
Kehlen, heimliche Blicke glänzten auf und verschwanden, platzende
Saiten sprangen auf, brummten nach, ssss, mmmm, und als er den Fuß
vom Pedal nahm, tönte es weiter, oben fuhr ein Auto, hörte er
Stimmen auf der Straße, Zwitschern, weiter weg einen Rasenmäher;
er setzte sich in den Sessel neben dem Klavier, schloß die Augen
und nahm nun wahr, wie all die Geräusche, das Ticken des Weckers,
ein Flugzeug draußen, und all dieses in eins verschmolzene Etwas,
die Welt, sein Bewußtsein, alles in spiraligen Bögen in die
ewige Stille einmündete, dort, wo alles Verschiedene miteinander identisch
wird, Einheit. Es
war unbeschreiblich schön. So satt und erfüllt, alles hörte
auf, alles begann hier, in der Mitte. Ein Brummen und Surren, bis in die
höchsten Frequenzen aufsteigend, zeigte ihm, daß hier der Weltflughafen
der Gedanken war. Es war ein ständiges Kommen und Gehen, aus aller
Herren Länder, kleine und große Maschinen mit Düsen und
Propellern, sie quirlten das weiße Luftmeer in allen Farben, glitten
in aller Sinnesrichtungen davon, brausten in die unendlichen Weiten auf
die Sonne zu, verkündeten den ewigen Tag, die unverbrüchliche
Einheit, die alles treibende Allmacht der Liebe, ihr Treibstoff war die
Seligkeit aus der Erkenntnis des absoluten Seins, den sie hier im Sonnenflughafen
tankten. Eine
große Düsenmaschine stand gerade auf dem Startfeld, und vor
sich sah er seine Freundin, abschiedwinkend, und erregt lief er auf sie
zu, schenkte ihr einen Strauß Blumen, sie lächelte ihn ernst
an, so gütig, und mußte gehen, ihn verlassen, ihn vergessen,
und er starb tausend Tode, als die Maschine abhob, begleitet von stolpernden
Trommelschlägen, die sich zu einem Wirbel verdichteten, rrrr, zu einem
aufsteigenden Ton, und immer neue Rhythmen kamen nach, beschleunigten sich
und rissen ihn hinein in ihr tödliches Trommelfeuer wieder und wieder,
trapp trapp taddapp taddaddapp taptap tatata t t ttttttrrrrrrr, und drehten
Spiralen um den Pol des absoluten Seins. So
viele Gefühle nebeneinander, durcheinander, dieser gemischte Zustand
aus Freiheit und Verzweiflung, er seufzte und lachte. Zwar hatte er die
Augen wieder auf, doch hielt ihn noch Nachdenklichkeit fest. Rational war
ihm klar, daß er seine Freiheit zu leben hatte, und nichts band ihn
wirklich, war er ja jetzt ungebundener als zuvor. Aber etwas Gefühltes,
Unbefriedigtes in ihm zog ihn immer zurück, und die Spannung war verstärkt
dadurch, daß sie es war, die den rationalen Anspruch vertrat, der
seine Selbstbestimmung hätte ausdrücken müssen. Sie aber
zwang ihn in die Freiheit, ihn, der sich lieber für sie geopfert hätte,
als weiter irgendwelche Dinge zu beginnen, neu zu leben. Doch kam ihm jetzt
das erste Mal die Ahnung, daß er frei war und nur noch er selbst
sich band, wenn er auch diesen Gedanken argwöhnisch beiseite schob. Oben
schellte es. Aufgeregt lief er hoch. Der gelbe Fleck durchs trübe
Türglas, das war ihr Anorak, das war sie. Er spürte etwas Angst
mit Freude gemischt; erregt öffnete er die Türe und sah sie an,
so ewig vertraut war sie, und auch etwas fremd. Er hätte sie umarmt,
unschuldig und vertrauensvoll, aber er tat es nicht spontan, und sie schaute
ihn, da er nur »Tach« sagte, erstaunt, dann prüfend an.
Ist was los? fragte sie nach kurzer Begrüßung. Ach nichts, sagte
er – was hätte er sagen sollen? Wie weit ging ihre Vertrautheit noch?
Als er sie umarmen wollte, gab sie ihm nur einen kurzen Kuß auf den
Mund und erzählte ihm im Weitergehen, daß ihre Freundin Vera
auch kommen wolle. Ich bin heute abend beim Fuss auf eine Fete eingeladen,
gehen wir zusammen hin? fragte er. Was, du willst auf eine Fete? sagte
sie, und sie kannte ihn zu gut, um nicht zu sehen, daß er heute irgendwie
verändert war. Du mußt es ja wissen. Meinst du, Vera kann da
mitkommen? Warum nicht, natürlich, meinte er. Sie sagte noch etwas,
das er nicht ganz aufnahm, als sie zum Telefon ging, um mit ihrer Freundin
zu telefonieren. Er war mit den Gedanken bei der Fete. Wollte er wirklich
dahin, jetzt? Es war noch Zeit, der Abend war lang, und er fühlte
sich unbestimmt erregt. Wenn sie sowieso diesen Abend nicht allein waren,
er hätte so viel ihr zu sagen gehabt, wollte er die Cliqueneinsamkeit
erleben. Es waren seine Klassenkameraden, Musiker zum Teil wie er, grell
und ausgelassen. Sie telefonierte. Hallo, Vera? Du kannst, wenn du willst,
auf eine Fete mitgehen und so weiter. Schon wieder hatte er das Gefühl,
sich in fremde Gespräche einzunisten, so also unterhalten sich zwei
Freundinnen, dachte er neugierig. Sie schien Vera irgendwie zu besänftigen
oder zu verführen, etwas dazwischen. Er ging in die Küche, setzte
Wasser auf, für Tee, spülte zwei Tassen aus, blickte den Tag
zurück, blickte den Abend voraus. Als sie dann nachkam, setzte sie
sich ihm gegenüber, rauchte, wippte mit dem Stuhl und blies den Rauch
über ihrer großen zerfurchten Unterlippe wieder aus. In ihrem
Gesicht sah er auf einmal die spiraligen Bögen wieder, die er heute
gemalt hatte, in der starken Wölbung der Augenbrauen, in den Falten
seitlich der Oberlippe, aber vor allem sah er die geschmeidigen Linien
in ihren Bewegungen, ja, hörte sie in ihrem Sprechen. Moment, unterbrach
er sie, lief hinauf in das Badezimmer und holte das Bild dort, um es ihr
zu zeigen. Schau
her, sagte er, und er liebte ihr stets interessiertes Gesicht, in dem die
Augenbrauen schon von Natur aus hochgezogen waren, reichte es ihr und stellte
sich hinter sie. Ein Mandala? fragte sie. Ja, das ist mein Mandala, das,
was mich am meisten reizt. Das Entscheidende ist immer das Verhältnis
des Mittelpunktes zur Peripherie. Für einen Erleuchteten vereinigen
sich die beiden. Er dachte, du bist meine Peripherie, all meine wunschgebogenen
Spiralgedanken wehen dir zu. Er erläuterte: Denn all das hier außen,
und er machte eine einladende Bewegung mit seinem Arm, ist dem Erleuchteten
innen, und die ganze Vielfalt ist Ausdruck des einen Absoluten. Sie wehrte
ab: Ich will mich nicht auf deine Einheit beschränken, ich finde das
Leben so schon Aufgabe genug, reichlich bunt; ja, als ich klein war, da
habe ich auch lauter solche Spiele erfunden, ich würde es magische
Umweltbewältigung nennen. Ich habe mir etwa vorgestellt, überall
bei fünf Metern über dem Boden würde ein roter Strich durch
die Häuserwände, Bäume und Berge und so weiter laufen, wie
eine durchbrochene Schicht. Oder ich wollte mit meinen Füßen
nie auf die Ritzen zwischen den Platten auf dem Fußgängerweg
treten. Das ist so eine Form, Zusammenhänge zu suchen, bevor man die
wirklichen Zusammenhänge findet. Ja, schon, meinte er. Aber deshalb
sage ich ja gerade, daß das einzige wirkliche Mandala das hier alles
in seiner Wirklichkeit ist, denn solange wir das alles so auf relative
Zentren zuordnen, wie jetzt, haben wir die große Zuordnung nicht,
die auf das Absolute. Sie lachte: Ach Quatsch, über den Kram haben
wir doch schon oft genug gesprochen. Das bringt nichts. Es
schellte. Sie öffnete Vera die Tür, und beide kamen in die Küche.
Er begrüßte sie, und seine Freundin spöttelte, erzähl
doch Vera was von deiner Erleuchtung. Du, ich mach noch was zu essen, bevor
wir weggehen, he, sollen wir Pfannkuchen machen? Das war in gewisser Weise
sein Lieblingsessen. Er verstand es aber mehr so, als hätte sie Hunger
darauf, und nickte. Ihm
war, als wäre er mit seinen Gedanken etwas weg gewesen, als er merkte,
daß sie ihrer Freundin gerade etwas über Schlafen oder Träumen
erzählt hatte, und er wachte gerade an der Stelle auf, an der sie
von ihrem Aufwachen sprach. Merkwürdig, dachte er, wie jedes Wort
so eine starke Wirkung hervorruft. Sie rührte den flüssigen Teig
in einer Schüssel, und er merkte, daß er eigentlich kaum Appetit
hatte; die ganze Rührerei kam ihm etwas überflüssig hausmütterlich
vor, als solle er einen naiven Wunsch erfüllt bekommen. Und als der
erste Pfannkuchen fertig war, bekam er ihn natürlich. Gäste zuerst,
meinte er, aber Vera bekam die Erklärung, Erleuchtete seien nun mal
wie Könige zu behandeln, sie hätten es gern, wenn man ihnen ihre
Wünsche erfülle. Er wehrte lachend ab: Es ist wohl eher umgekehrt,
sie können sich ihre Wünsche jederzeit aus sich heraus erfüllen,
weil die Erfüllung schon vor dem Wunsch kommt. Er wandte sich an Vera.
Das Denken geht dann schneller als das Wahrnehmen. Zum Beispiel, er schaute
auf seinen Teller, wenn man »Blatt« denkt, sieht man alle Arten
von Blättern, praktisch alles, was mit Blatt zu tun hat, hier aufgeprägt,
in einem Vorgang, der so schnell abläuft, daß man all das in
dem kurzen Klang »Blatt« hört oder sieht. Wie, bist du
etwa erleuchtet, lachten sie, und wußten nicht, daß er nur
seine Erfahrung schilderte, wenn er auch noch weit entfernt war von dem
beschriebenen Zustand der Erfüllung aller Wünsche vor ihrer Entstehung.
Da saß sie, die sein größter Wunsch war, und war nur noch
da, um ihm ihre Abwendung vor Augen zu führen, sich seinen Wünschen
ganz zu entziehen. Sie saß da und strich sich Apfelmus auf ein trockenes
Brot. Oh, dieses geschmackvolle und erfrischende Essen, was war sein dumpfer
Eierkuchen dagegen! Er liebte ihren Einfallsreichtum in solch kleinen Dingen,
ihre bunte Anspruchslosigkeit. Sie kleidete sich auch oft an der Grenze
der Unauffälligkeit, oder in halbe Lumpen, so wie ihr gelber Anorak
ganz verschlissen war. Alles an ihr, vor allem ihr Gesicht, war stark ausgeprägt,
ein intensiv konzentrierter Empfänger und Sender seiner feiner Schwingungen.
Sie schien beauftragt, Dinge ins rechte Lot zu rücken, von dem Standpunkt
aus gestaltend zu wirken, der die Dinge etwas verschob, um ihre Einmaligkeit
zu beweisen, und mit der Kraft der neugemachten Dinge auch ihre Kraft zu
entfalten. Diesen geheimnisvollen Ansatzpunkt suchte er, erstaunt und begeistert,
und sie war sein eigentliches Mandala, aber nicht der unendlich äußerste
Kreis, sondern die Mitte, auf die hin und durch die hindurch all sein Wollen
verfeinert und zermahlen wurde, sie war, sich in Gesten und Gesprächen
drehend, für ihn eine Mühle seiner Entwicklung. Er war in seinen
Empfindungen und Wünschen noch ganz an sie, oder sein Bild von ihr,
ausgeliefert, und er wehrte sich immer wieder gegen die Aufopferung dieses
Bildes, dieser Bindung; und durch große Worte und Selbstüberzeugtheit
versuchte er sich gegen diese Mühle zu sperren. Vielleicht
lag es daran, daß sie zu zweit waren, daß er sich von ihnen
geradezu leiten ließ, als sie aufbrachen. Nein, es lag mehr daran,
daß er spürte, daß sie ihn als großsprecherischen
Sonderling etwas beiseite schoben und ihre Privatgespräche verfolgten,
und auch das war wieder nicht ganz richtig, denn er war so sperrig, unfähig,
sich in ihre Unterhaltung einzugliedern, seine Thematik zu vergessen und
die angemessene höfliche Neugier zu zeigen. Denn er hätte sich
an sie gehalten, sie aber war zu Vera gewandt, mit der sie über Schulprobleme
und Pläne zum Studium oder sonst was danach sprach. Der
Tag ging zu Ende, und der Sommerhimmel wurde dunkler, schattiger, durchzogen
von Dunststreifen und verzitterten Wolken. Der Abendstern blinkte herüber,
und es war schon ruhig geworden in der Gartenstadt. Ein Einheitstyp von
Reihenhäusern mit hübsch vollgewachsenen Vorgärten, mit
größeren Gärten hinter den kleinen Zäunen, an der
Durchgangsstraße die alten Backsteinhäuser, dahinter die Geschäfteecke
und die Straßenbahnhaltestelle. Dort bogen sie in Richtung auf den
älteren Ortsteil ab, durch den sie hindurch mußten, dahinter
lag der Vorort, in dem der Fuss wohnte, und sie hatten so einen größeren
Spaziergang durch den Abend zu machen. Langsam begann die Dämmerung,
der Himmel wurde plastisch und tief, färbte sich türkis, in den
Häusern leuchteten die Fenster gelb, und weiß sprühten
die Straßenlichter. Sie waren spät aufgebrochen, man hörte
das Gerassel von Rolläden, irgendwo Gelächter, und das andauernde
weiche Summen der Autobahn in der Ferne wurde durchbrochen und gespalten
von den elektrischen Entladungen im roten Gummizwitschern der Amseln hier.
Überall schlossen sich Verbindungen im Kommunikationsgewebe der Stadt,
begegneten sich die Überbringer kleiner Botschaften, die Menschen,
trennten sich bereichert, stiegen in informativere Bereiche empor, machten
alles miteinander bekannt. Die ganze Stadt war eine Rosette solcher Bewußtseinskanäle,
über die immer weiter Ideen und Moden flossen, Ansichten und praktische
Auskünfte. Verkehr und Telefon beschleunigten den Austausch, Rundfunk
und Fernsehen und die ganze Musikexplosion übertrafen ihn, schufen
einen lebendigen, fast zu lebendig wuchernden Organismus, der in wilden
Träumen pulsierte, kurz vorm Aufwachen. Die Aufgewachten verließen
ihn, opferten sich dem Mittelpunkt, der unfaßlichen Quelle reiner
kreativer Intelligenz, sie wurden gierig gefressen von den Schlafenden,
und ihr süßes Blut floß durch die Röhren des Ideenverarbeitungssystems,
des gemeinschaftlichen Bewußtseins. Alles berauschte sich so am Saft
aus der quellenden Mitte, der Abend berauschte sich am Licht des ewigen
Tags, der dem Abend folgt, alle Gedanken berauschten sich am reinen Bewußtsein,
aller Umkreis am Hier und Jetzt. Vera,
sagte er, meine Freunde sind zum Teil Rockmusiker. Das heißt, die
machen totale Schau, machen voll show! Es hallte in der Straße mit
den alten Häusern und der neugotischen Kirche wider, so laut lachte
er – denen darfst du nichts glauben. Als sie ankamen in dem Vorort mit
seinen Einfamilienhäusern und ihr Haus durch den Fetenlärm sofort
gefunden hatten, öffnete sich die Türe und drei seiner Freunde
standen mit Einladearm und maskiert im Flur hintereinander und begrüßten
ihn, alle drei gleichzeitig. Ah, Kosmik Zzziuschi . . . irgend etwas Blödes,
er lachte, hing seinen Parka auf und war schon ganz Spiegel der Musik,
laut und wild. Er kümmerte sich zuerst nicht um seine beiden Mitbringsel,
sprach seine Freunde an, sah, daß der Fuss, der wie er selbst Organist
in einer Gruppe war, die aus seinen Freunden bestand, seinen Klassenkameraden,
schon ziemlich besoffen in der Gegend stand, mit seinen roten Haaren bis
zum Hintern, und lallend jammerte, daß er eine Frau zum Bumsen brauche.
Der Pulk war über das ganze Erdgeschoß verteilt, drei Räume
und den Flur, aber meistens strömte alles in einem Raum zusammen.
Er holte sich ein Glas Cola, fragte nach der Musik, die ihn total begeisterte,
und von Jürgen hörte er, daß es Roxy war, und der gewaltige
Schmutz wurde durch blecherne Röhren geblasen, in Stufen gezackt und
spuckte sich wieder von vorne aus, Franz, Gitarrist der Leute, zeigte ihm
die Bühnenshow des Stücks, rutschte mit aneinandergelegten Beinen
tanzend über den Boden und quirlte mit Fingern und Schnute das imaginäre
Saxophon, das Stück endete, nein, da lief es weiter, und unten vor
der vorzustellenden Bühne ging dieselbe Treppentanzmelodiestrophe
wieder zurück. Er lachte und begann auch zu tanzen, durch die Fetenshowbühne,
stolperte über die Beine von Uli, der ihn freundlich angrinste, schaute
Stuffel zu, wie der seinen Hut suchte, wohl zehn Minuten lang, wo ist mein
Hut, alles umdrehte, die Matratze, auf der er gesessen hatte, hochklappend,
seinem Nachbarn auf den Kopf, der legte sie zurück, auf Stuffel drauf,
kippte noch seine hinterher, warf sich noch dazu, johlend stürzten
sich noch andere auf ihn, wälzten sich lachend auf dem Gewimmelberg,
und unten schrie Stuffel, wo ist mein Hut, wo ist mein Hut. Der Fuss schaute
nur noch so gerade unter seinen Lidern hervor, machte maulend eine Sektflasche
auf, und schoß den Korken durch den Raum, während die Musik
Kaugummi kaute. Zwei Leute rissen im Badezimmer das Waschbecken herunter.
Oh, nein! Er sah Conni trocken durch die Gegend staksen, den vernünftigen,
sagte ihm, das alles ist wie ein auseinanderbrechendes Düsenflugzeug,
sang mit der jetzt wieder mächtigen Rockmusik, durch sie hindurch
laut dsssssjjjjchchchschschschhhhhh und drehte sich in einem langsamen
Kreis, weit ausgestreckt und schief die Arme, drehte die Arme gestikulierend
und bewegte ganz die Musik mit seinem Körper, wild lostanzend, alles
an sich reißend, alles ausdrückend, alles verschenkend. Seht,
ich bin Macht, seht ich bin ich bin ich bin der Augenblick, ich bin die
Zeit ich bin die Welt ich bin euch alle alle alles hier vereinend hier
vereinend hier vereint, mit mir vereint, mit dir vereint, mit dir mein
Gott mein Gott ganz Liebe dich! und drückte sich nur noch aus, der
Tanz des Absoluten ging durch ihn hindurch, wenn er die Schultern drehte,
wenn er sein Gesicht öffnete, die Arme ausbreitete und zusammengleiten
ließ, wenn eine leichte Wellenbewegung von seinen Beinen durch seinen
Rücken aufstieg und nach oben auseinanderblühte, wenn er die
Kraft des kleinsten Schrittes spürte, der doch alles anrührte,
wie der eine Gitarrenton die Rhythmusspannung in Melodie verwandelte, und
mit den breiten Lavaströmen des Rocks gab er alle Macht fort, »furchtlos
wie Liebe, so wie die Achse alles kennt«, wie der erwachte Hendrix
verkündet hatte, und er war ein Spieler, der seinen ganzen Einsatz
verspielte, ein Joker, der die Welt zerplatzte, ein maßlos arroganter
Rockstar, an dem nichts mehr echt war, haltloser Trug und Schein. Alles
brannte lichterloh, löste sich in Selbstgefälligkeit auf, und
Angie schminkte Gerd, Vera tanzte verloren alleine vor sich hin, seine
Freundin war von Stuffel begeistert, und er bewegte das Universum von diesem
überlichteten Film aus, ließ die Rhythmen stolpern, die Schlagzeuge
alles zertrümmern, die Bläser alles ausspucken, die Gitarren
alles verschleimen, die Orgeln alles verflüssigen und fortspülen.
Er gab alles auf, alles endete, alles hörte auf, und von dort, wo
er zu jeder Verwandlung bereit war, im Hier-und-Jetzt-Sein, begann eine
fürchterliche Explosion, alles brach auseinander und trudelte in die
Leere, Galaxienscheiben und Stemwolken quollen hinaus, glitzerten und verrauschten,
mit sanfter Geste schoß er Kometen hinterher, platzende Feuerwerke,
Flugzeuge, Vögel, Steine, Sandstaub, Atome, Neutrinos, Gedanken, und
alles faltete sich auseinander in der Schöpfungsblüte des vollkommenen
Musikausdrucks, mit sanfter Gewalt verwandelte sich Gott in das Weltchaos
und wieder zurück, der unerhörteste Spieler. Brutale Freude drehte
sich zwecklos, unsinnig, frei, um sich darzustellen, zu zeigen, zu verschwenden
in grellen Tumult, show show show, und wirklich war nur, was nicht zu übertreffen
war. Noch
war er ganz in sich gekehrt, in seine Großartigkeit, die Bühne
seiner Selbstdarstellung wie verhängt, da schaute jemand durch den
Vorhangspalt. Er sah Stuffel und seine Freundin an der Seite sitzen und
sich über ihn amüsiert unterhalten, fühlte sich ertappt
und hörte verlegen lachend zu tanzen auf, beugte sich zu den beiden
herab, verstand sie nicht in dem Lärm, versuchte wieder zu tanzen,
hörte wieder auf, und fühlte sich erhitzt, aufgedreht. Seine
Gedanken kreisten immer um das eine Wort »Show«, und er unterhielt
sich mit Conni darüber, was das sei. Was
ist wirklich? Und da nichts wirklich war, was war das größte
Kunststück, unübertreffbar? Das, was den größten Ernst
vorspiegelte, erzeugte das, was der unbegreiflichste Vorgang war, der gordische
Knoten, der Ernst des Lebens. Gab es das? Er hatte es selbst ja gerade
versucht, und mit seinen Fragen und Meinungen setzte er es fort, das Wirklichkeit-Spielen.
Das Spiel lautete: Ich bin Gott, aber der Teufel, der es spielte, war übertroffen
von dem, der es ganz zu Ende gespielt hatte. Wer
konnte das nachvollziehen, das mitspielen, wer konnte das erreichen? Alle
festgestrickte Wirklichkeit war brutal zerrissen, alle Vernunft vom Wahnsinn
zerschlagen, alle Gerechtigkeit und Logik durch den grellen Witz geblendet,
daß der bunte Schein hier die ewige Wirklichkeit in eine vernichtende
Flutwelle schlug, deren Schrecken durch die Jahrtausende rollte. Dieses
knallharte Spiel, wer konnte das begreifen, das die göttliche Seligkeit
sich zur Krönung ihres Welttheaters den Purpurmantel des wilden Schmerzes
umlegte? Wer konnte begreifen, daß der ewig mit sich Vereinte ein
vollkommen Gespaltener wurde, wer konnte seine letzte Frage beantworten,
die Lebensfrage, die nur der verstand, dem Seligkeit und Schmerz, dem Ernst
und Spiel, Einheit und Trennung dasselbe waren? Gerd
legte seine Stones auf, imitierte Mick Jagger, während im Flur Leute
um Stuffel und Franz geschart waren, die das Stück mit der Gitarre
mitspielten und mitsangen, unter den losen Kölsch-Kommentaren von
Stuffel. Der tat so, als sei es an eine heruntergekommene Hure gerichtet,
schob immer seine dreckigen Bemerkungen zwischen die Zeilen, es wurde ein
ganz neues Lied. Das alles ließ er auf sich einwirken, mit seinen
Grübeleien zusammenlaufen, und mit den anderen lachte er über
das Überzogene der Schnulze, auf deren hingebreiteten Gefühlen
der trockene Stuffel-Kommentar zappelte. Alles war um die beiden gedrängt,
er schaute vom Wohnzimmer aus zu, lag da halb auf einer Matratze und grübelte.
All das war ihm eine Darstellung seiner eigenen Situation, Bühne seines
Innern. Wenn Mick Jagger hier die Fäden zog, an denen Gerd seine Imitation
anknüpfte, so war er es, der als Wirklichkeit noch hinter diesem Schauspiel
stand. Und da war auch diese Spaltung in das Selbstmitleid der Musik und
den Spottkommentar seiner Freunde, deren Front durch ihn hindurchlief.
Und gleichzeitig war er so weit entfernt vom Fetenspektakel, da er versuchte,
ein mythisches Paradox zu erjagen, das allerdings hier in dieser Szene
gut abgebildet war. Wieder
suchte er die grundlegende Einheit, vollständige Gewißheit,
Erklärung und Verstehen aller Rollen hier. Und wieder war im Grunde
sie es, die er suchte, die er nicht verstand, er, der bereit war, das Größtmögliche
einzusetzen, die ungeheure Macht des »Ich bin Gott«-Spiels,
und er fühlte, daß er damit auch der Gekreuzigte war, spürte
mit allen Fasern, daß es Liebe war, in der sich Seligkeit und Schmerz,
Ernst und Spiel, Göttlichkeit und Wahnsinn vereinigten zur unlösbar
paradoxen Lebensfrage. Laut
schrie er in sich hinein: Warum muß Gott sich kreuzigen lassen? Wäre
er selbst etwa der Teufel, der alles Leid verursacht hat? Es war der Intellekt,
der wußte, das alles ist Schau, und Schau ist das Unmögliche,
wirklich ist nur der Spieler hinter der Maske, der ja sich selbst nicht
spielt; er selbst ist nie zu kreuzigen, an den sinnlichen Schein festzunageln,
auf sein Trugbild zu verpflichten; das ist das Unmögliche, die göttliche
Freude, die unbegrenzbare ewige Glückseligkeit in Raum, Zeit, Kausalität
einzuschließen, den Ozean in einen Tropfen zu verlieren. Aber
der Spieler vergaß sich in seiner Show, spaltete sich in viele Situationen
und Personen, verspielte seinen Besitz, seine Überlegenheit, Unbegrenztheit
an das Gefängnis der Sinnen-Scheinwelt; er nahm die Maske für
sein wahres Gesicht. Er klagte, wie kannst du sagen, wir seien zufrieden?
Ohne Geld in unsren Kleidern, ohne Liebe in unsren Seelen, kannst du da
sagen, wir seien befriedigt? Es
war ein loser Witz, was Mick Jagger da sang, er schüttelte gerührt
den Kopf. Da sangen die erfolgreichen Stars, with no money in our dothes,
und was machte sie arm? Verlorene Spieler, die sich selbst beschrieben,
hinter aller Show des Geldes und des Ruhms, die den entdeckten, der ohne
Geld ist und ohne Kleider, den nackten Menschen, den Diogenes mit seiner
Lampe suchte: Da war er, frei von Geld, egal, was da an Schein für
ernst genommen werden wollte, aber das alles erst am Ende des Spiels –
und aller Einsatz war verloren, die Liebe zum Schein war aufgebraucht,
die Begeisterung vom Wind der Erfahrung ausgetrocknet, und das überstieg
sich nun noch im größten Widerspruch, in letzter Show, da der
verwüstete Star alle Liebe aufsog, in sich strömen ließ,
in Zittern und Wellen bewegte, in schluchzendes Mitleid, das Letzte in
sich darbietend, den nackten Spieler, und er schloß die ausgeraubte
Schatzkammer seines Herzens auf, das ganz und gar leere Innen, with no
lovin' in our souls, und alle Leute mit ihrer Liebe wurden über den
Gefühlssog seiner Schnulze hineingezogen in seine Frage, can you say
we're satisfied? und die Tränen waren ausgetrocknet von der Trockenheit
dieser leeren Wüste im weiten, unendlich weiten Herzen des Spielers,
wo Freiheitswind all die blinde Liebe fortgeblasen hatte, die Ursache von
so viel Leid. Da war Erfahrungstrockenheit, die rechnete Liebe hier und
Enttäuschung da auf und der Ausgerechnete schüttelte den Kopf
und zeigte die Bilanz: nein, nein, wo hat noch Unschuld und Hingabe Platz
bei solcher Berechnung? Was vermag die weite Wüste noch zu füllen?
Nein, nein, alles ist ausverkauft. Laut lachte es in ihm, ausverkauft,
verloren, vergiß es, vergiß es, vergiß es! Er wälzte
sich auf der Matratze, stand auf, lief ins Badezimmer, holte einen nassen
Waschlappen, suchte sie, seine Verlorene, fand sie, und wischte ihr überraschend
den kalten Lappen ins Gesicht und den Nacken. Sie schrie: Was soll das?
Er lachte und wollte sie küssen. Sie wehrte sich, und er wurde wieder
traurig über ihre ärgerliche Ernsthaftigkeit, denn er hatte ihr
nur gebracht, was er gern gehabt hätte: Kühlung in dieser aufgeputschten
Luft, in dieser wüsten Hitze, und überall in seinen Gliedern
schmerzte ein geheimer Kampf. Wo gab es nur Ruhe? Wo war nur Ruhe zu finden?
Er wischte sich die Stirn mit dem feuchten Lappen und legte sich auf eine
Matratze, stand wieder auf, ging zu ihr und sagte ihr, ich liebe dich so,
streichelte ihre Haare und setzte sich neben sie. Dort
saß er eine Zeitlang und war einfach nur dankbar für ihre Gegenwart,
ohne sich groß mit ihr zu unterhalten. Was hätte er ihr sagen
können? Er griff eine herumliegende Tabakpackung und drehte ihr eine
Zigarette. Hätte sie doch wenigstens einen Wunsch gehabt, den er hätte
erfüllen können, hätte sie ihm doch wenigstens seine Fehler
genannt, er hätte sich geändert, er wäre gewachsen, er würde
ihre Realität atmen. Er gab ihr die Zigarette. Sie nimmt dich nicht
ernst, dachte er, weil du dich zu ernst, zu wichtig nimmst, du dumpfer
Klotz wie ein Preisboxer, wieso soll sie ausgerechnet mit dir zusammensein?
Meintest du etwa, deine Spinnereien seien eine besondere Auszeichnung?
Sogar hier auf der Fete hast du nichts im Kopf als deine kosmischen Höhenflüge.
Dabei bist du doch ein armseliges Geschöpf, mit deiner Abhängigkeit
von ihr. Das war ihr Wort für seine Liebe, sie nannte es Abhängigkeit.
Und er hatte dieses Wort übernommen, denn vielleicht war es realistisch,
und nun bohrte es in ihm und wollte ihn zerfressen, ihn in Widerstreit
mit sich selbst bringen, ein zweites Ich in ihm wollte kühl und überlegen
seine Situation abkanzeln, und er hörte in sich ihre Stimme dieses
Wort zu ihm sprechen: »Abhängigkeit«. Es wühlte in
ihm, und dann lachte er doch: Junge, wenn du sie liebst, nimm sie doch
wie sie ist, mit ihren Zielen, mit ihren Wegen, ihrer Freiheit. Liebst
du sie nicht so, wie sie ist? Sie
wendete sich ihm zu. Du, schau doch mal nach der Vera. Die tanzt schon
die ganze Zeit in dem einen Raum da alleine vor sich hin. Die kennt doch
keinen hier. Na gut, meinte er, ging hinüber, sah Vera da so unsinnig
alleine vor sich hintanzen und wußte nicht, was er tun sollte. Da
war nichts, was ihn gereizt hätte, mit ihr in Kontakt zu treten, sie
war so uninteressant für ihn. Ihn störte dieses geschminkte Puppengesicht,
ihre Art, sich alt zu machen, um als Frau zu erscheinen, dieser widerliche
Anstrich von amerikanischer Filmfrau. Ratlos ging er wieder, nachdem er
ihr gesagt hatte, komm doch rüber zu den anderen, ohne daß sie
reagierte. Im Flur flachste er noch mit Toni rum, ging in die Küche
und aß dort etwas Reissalat, und blieb gleich da, um dem Gequatsche
des besoffenen Bassisten zuzuhören, der andauernd mit Angies Freundin
das Gesprächsseil hin und her zog, warum sie denn nicht mit ihm schlafen
wolle, und sie nannte ihn immer lachend einen widerlichen Schleimscheißer.
Gerd schlakste wie ein langbeiniger Neger zur Tür hinein und sang
Why don't we sing this song all together. Als
er wieder in den größeren Raum zurückging, sah er seine
Freundin in einen langen Kuß mit Uli versunken. Er fühlte sich
plötzlich schwindelig und setzte sich verzweifelt zu ihr und umschlang
ihre Hüften, sowie sie vor ihm kniete, mit seinen Armen, noch während
sich die zwei küßten, und sie fuhr ihn an: Was fällt dir
eigentlich ein? Sofort ließ er sie erschrocken los, stand auf und
ging in den Nebenraum, legte sich auf eine Matratze und versteckte weinend
sein Gesicht unter seinen Armen. Er fiel nicht weiter auf, denn schon mancher
hatte sich trotz des Lärms müde hingelegt, Stuffel schlief mitten
im Trubel akrobatisch zusammengerollt in einem Sessel, Gerd und Angie lagen
knutschend an der Seite, andere dösten so in die Musik hinein oder
unterhielten sich, manche waren auch wieder wach geworden und sorgten dafür,
daß die Welt nicht unterging mit ihrem blöden Gelache. Sein
Weinen war mit einem leisen Lachen gemischt, es schüttelte ihn durch
und durch. Je mehr er sie liebte, um so mehr verließ sie ihn, und
je weiter sie sich entfernte von ihm, um so mehr gewann sie an Bedeutung
für ihn. Er wollte sich nicht einfach abfinden mit dem, was sie tat,
er wollte es bejahen und kämpfte in sich darum, seiner Liebe einen
Weg durch solch ein blindes Ja zu allem zu bahnen. Er sah, was alles Liebe
war! Tausend
Selbstverständlichkeiten des Lebens, durchdrungen und getragen von
Selbstlosigkeit, von dieser sanftesten Gewalt. Was war es, das mitten in
der starrenden Kälte und Not der Unwissenheit und des Egoismus noch
alles zu verbinden und zu erwärmen vermochte, das dem Leben einen
Sinn suchte, indem es das Leben nach außen kehrte, von der Einsamkeit
der Ichs befreite und in die Gemeinsamkeit wendete? Oh, daß er diese
Liebe gehabt hätte! Sie war jetzt hinübergegangen zu ihrer Freundin,
kam mit ihr zusammen zurück und besänftigte sie irgendwie, streichelte
ihr über die Haare, während vorne der Fuss und Toni eng umschlungen
und laut für alle die Schwulen spielten, sich küßten und
stöhnend zwischen die Beine griffen. Vera verstand das alles nicht.
Sie schrie, ihr seid doch alles geile Schweine, und erntete großes
Trara, jeder wollte es bestätigen. Vergeblich
hatte er versucht zu schlafen. Er ging zu Gerd und redete mit ihm rum,
sie legten Citadell auf. Ein gigantischer Scherbenhaufen klirrte durch
das grelle Licht der Gitarren. Dieses Stück war der ganze Abend, so
wie er ihn erlebt hatte. Er tanzte ein letztes Mal hier: Candy and Cathy,
hope you both are weIl, please come see me, here in the citadell, oh well!
In der langen Pause beschrieb er einen großen Bogen mit seinem Arm,
ging in die Knie, aber die Gitarrenakkorde setzten noch eine Ewigkeit nicht
ein, als er wieder oben war und die Musik in seiner Geste auffangen wollte,
und als er es nicht vermutete, da kam sie, brach ein, rhythmisch unmöglich,
übertrumpfte ihn, und der Ansatz zum Solo am Schluß drehte sich
mit Macht aus der Achse heraus. Von diesen wenigen Tönen ging Verwandlung,
ein anschwellendes Erwachen aus, das immer weiter seine Kreise zog und
so den ersten feinen Ansatz bestätigte und ausführte, bis alle
Klangstoffe, die grellen Schmerztöne, die zudringlichen Jammerorgeleien,
die spitzen Splitter und die breiten Scharen überflüssiger Effekte
in dieser Bewegung mitgezogen wurden und sich ihm in die Ferne entzogen. Es
war alles anders als vorher, als er das Absolute getanzt hatte. Und war
es jetzt nicht auch so, daß das Ewige ihn bewegte? Nein, alles war
anders als vorher, es war nicht mehr der Zustand der Unschuld, der jugendliche
Übermut der überquellenden Kraft, zumindest nicht das allein;
jetzt war es mehr das ewige Wissen von dem unermeßlichen, Gedankenscherben
klirrenden, Erfahrungsregenbogen verstäubten Ozean des Lebens, des
reichverzweigten, inhaltsschweren Lebens, durchschaut bis auf den leeren
Grund, das innerste äußerste schmerzlichste Liebevollste, durchdrungen
bis auf den Tod. Dieses All, in dem sich die Lebensfunken verloren, dieses
Vakuum, in dem sich die Energiepartikel verstreuten, diese unausfüllbare
Leere zwischen den Menschen, diese allestrennende Fremdheit, sie war doch
Anlaß, Hintergrund und Spannungsfeld der Wachstumspunkte des Lebens,
und die erwartungsgefüllte Nacht wurde so zärtlich durchblüht
von konkreten Empfindungen, hellroten und purpurnen Gefühlen, und
an der Grenze dieser sublimen Feuer trafen sich Liebe und Verlorenheit,
dort, wo die Hingabe in Schmerz überging. Es war eine wilde flackernde
Grenze, es war das Hin und Her des Lebens selbst, und so taumelte man von
der großen Selbstverständlichkeit des Tages mit seinem Miteinander,
seinem Freudenaustausch in die Schwierigkeiten dieser Leere, man riß
Gewohnheiten und liebe Gedanken in die Nacht, wo man ganz sich selbst überlassen
war, wo man mit aufgerissenem Mund in das Nichts starrte, oder aber man
schlug die dünne Haut des Lebens, die das Vertrauen in die gefühlten
Gemeinsamkeiten schützte, in Wellen, riß Blasen von Fremdheit
hinein in die familiäre Suppe, Blasen mit Nacht gefüllt, deren
Haut spöttisch glänzte. Dann war das Erleben gewürzt mit
Erfahrung, war die Erfahrung von Wünschen durchzogen, zeichnete sich
eine feine Spur von Schmerz durch die wunschgeborenen Erfahrungshüllen
des erlebten Tages. Oh, dieses mächtige Gefühl in seinem Innern!
Freude und Ernst, gute Tage und schlechte Tage, Lachen und Weinen, es ging
durch ihn hindurch, zwei Seiten eines einzigen großen starken Gefühls,
das sich ihm nicht verbarg. Der Tag dämmerte langsam, und als es fast
hell geworden war, sah er, daß sie ihren Mantel nahm, und fragte
sie, ob er mitgehen könne, und sie brachen zusammen auf, gingen den
Weg durch den grünen Stadtgürtel, dahin, wo sie wohnte. Zwischen
zwei Polen, wie Plus und Minus, Tag und Nacht strömte so viel an Gedanken
und Gefühlen zwischen ihnen, viel mehr, als sie einander sagen wollten
oder konnten, und sie sprachen nicht viel. Oh, diese unermeßliche
Entfernung zwischen ihnen! Und so sehr er sie aufnahm in sein Bewußtsein,
daß sie ihn ganz und gar auffüllte, es blieb noch immer dieser
unschätzbare Rest, ihre Bedingungslosigkeit, ihre Freiheit, ihre sich
stets erneuernd durchgestaltende Schönheit. Wie hätte er noch
ihrer beider komplizierte Gedanken-Verzweigungen zur Deckung bringen können?
Ihre Interessen und Werte gingen so auseinander, daß sie nicht mehr,
sich gegenseitig antreibend, ineinandergreifen konnten. So sehr er ganz
fortgegeben war an sie, seine Liebe schien sie nicht zu erreichen. Sie
entglitt ihm, sie beschäftigte sich mit anderen Menschen. Reichte
es nicht, daß er es war, dem gegenüber sie ihre Gedanken äußerte,
wenn sie über Vera, über seine Freunde, über ihre Eltern
sprach? Sprach sie nicht mit ihm? Ja, sie war da, ganz da, und unerreichbar
fern. Er erzählte ihr, und er wandte sich damit an das Göttliche
in ihr, das er durch sie hindurch sah, daß er die kosmische Vielgeliebte,
die Mutter allen Lebens, geahnt hatte, gestern nachmittag, in der Badewanne.
Und sie sprach mit deiner Stimme, lachte er sie ernsthaft an. Du warst
richtig da, ganz gegenwärtig, so wie jetzt. Er überlegte. Wo
war sie, wenn er sagte, sie sei »da«-gewesen? War sie nicht
allgegenwärtig, oder war sie in seinen Gedanken, ein Bild von ihr
wie ein Brief ihres Bewußtseins? Er war mit seinen Gedanken immer
bei ihr, sandte ihr dauernd Botschaften, verschickte sie mit seinen Wunschvögeln.
Die Sonne ging auf, als sie an der Mauer unten vor ihrem Elternhaus standen.
Sie hörte ihn noch an, bevor sie hinaufging. Und weißt du, was
du warst? fragte er sie, und in ihr sah er die göttliche Mutter, die
ewig Vertraute, die ewig Fremde, die, deren größte Liebe darin
bestand, ihre Geschöpfe von sich zu befreien, um sich in ihnen ganz
fortzugeben, aufzulösen, sie, die ihre Göttlichkeit an die zahllosen
Lebewesen weitergab, und sich ihnen entzog, damit sie sich selbst fanden.
Wenn sie sich fanden, dann fanden sie sie, die große Erzieherin,
die Natur selbst, in der eigenen Natur. Wer in ihren Schoß zurück
wollte, dem entschwand sie lächelnd, den Kopf schüttelnd. Und
wer alles nahm, wie es kam, dem gab sie heimlich die wertvollsten Schätze.
Und wer alles in sich selbst fand, der war mit ihr eins geworden, vielmehr,
der vereinte sich stets mit ihr, in endlosen Freuden, in endlosen Spielen.
Denn auch dann entzog sie sich noch dem Verstand, bis man auch das Begreifen
noch ihr opferte. Dann wurden Licht und Finsternis eins in ihr, dann verschmolzen
Schmerz und Hingabe in ihrer Liebe, Sein und Nichts wurden eins, Wahrheit
und Spiel, alle Gegensätze wurden übertroffen von ihrer Weite,
und sie wurde ein alles umfassender Schlund, dem Ausspucken und Verschlingen
der Ereignisse dasselbe waren. Sie war ein gewaltiger Seraph, dessen Spiralflügel
sanft mit unwiderstehlicher Macht um den Vereinigungspol rotierten, eine
immer aufblühende dreiblättrige Blüte, und er sah, wie sie
alles durchpflügte und ausfüllte, alles zermahlte und herausquellen,
herauswellen ließ aus ihrer Mitte. Er sah sie und sah sie nicht und
war Es, Es war das große Mandala, Es war sie in ihm, Es war das Brot
des Lebens, Es war in seinem Klavierspiel, in seinem Weltflughafen, in
ihrem Gesicht, in seinem Tellerkreis, in dieser ganzen Stadt, Es war in
der Musik, Es war im Treffpunkt der schwarzen Kreuzesbalken, im großen
Gelächter, in der Zitadelle immer das eine Hier und Jetzt, in diesem
großen Kaleidoskop das Juwel der Mitte, zu fein, um es zu greifen,
und mochte noch so sehr das Bricklebritt der Ereignisse sich darauf zu
bröckeln, sich zerbröseln, zermahlen, nie konnte es in den Mittelpunkt
rinnen, der feiner war als fein, wo sie wohnte und das Leben liebte. So
brauste die ganze Welt über ihrem Kopf zusammen, brandeten von der
Gewalt ihrer Ruhe bewegt die Taten und Ereignisse all der Lebewesen durch
den Ozean ihrer Seligkeit, und kurz wie das Platzen einer Seifenblase war
darin dieser Tag, diese Nacht, dieser Morgen, dieser Moment vor ihrer Türe,
als er sie fragte, und weißt du, was du warst? Sie antwortete ihm
schnell: Ich war das Badewasser, in dem du lagst. Erstaunt rief er: Woher
weißt du das? Und sie sagte: So, jetzt kurz und schmerzlos tschüß.
Und verschwand die Gartentreppe hinauf.
Erstveröffentlichung:
innerhalb der Anthologie "Etwas geht zu Ende", Hrsg. Dieter Wellershoff,
Köln (Kiepenheuer & Witsch) 1979, S.269-297