Die Aratos-Übersetzung,
also das griechische Lehrgedicht über die Sternbilder, ist wieder
ein wenig vorgerückt, wie der Sternhimmel selbst, und zeigt nun auch
die Partien, die den jetzigen Abendhimmel erhellen. Nun ja, hier in Görlitz
ist die ganze Milchstraße vom Himmel herabgeflossen, Myriaden Sterne
blinken mir vom Boden entgegen, während oben des Abends nur der starke
Jupiter durch den Wolkenschleier dringt, und am Morgenhimmel dann im Januar
blendendhell Venus.
Ein fleißiges, fruchtbares
und erfahrungsreiches neues Jahr wünsche ich Euch,
grusz,
hansz
2.
Rundbrief 2011: Rudolf Steiner hat heute 150. Geburtstag
27.Februar
2011
Liebe Freunde,
heute hat einer meiner
Meister (und zwar nicht der geringste) seinen 150. Geburtstag, und das
ist ein schöner Anlaß, zu Ehren von "Doktor Steiner" (wie Anthroposophen
früherer Generationen ihn zu nennen pflegten) meinen alten Rundbrief
vom September 2007 hier hineinzukopieren. Die Quelle meines Selbstplagiats
ist damit genannt. Ich zitiere mich selbst:
Die Gründe, Rudolf
Steiner hochzuschätzen, überwiegen in meiner gedanklichen Selbstauseinandersetzung
und Selbstübereinstimmung bei weitem die Gründe, ihn aufgrund
einiger theosophischer Mottenfraßschäden historisierend einzukapseln.
Zum einen unterscheide ich,
wie es ja auch sachlich geboten ist, zwischen den wenigen Schriften
dieses "Meisters"
(ja, das ist der zutreffendste Titel, so daß er mit den unbekannt-bescheidenen
großen Zen-Äbten und Künstlern einerseits, mit neuplatonischen
Philosophen wie Plotin und Proklos,
mit den oft verketzerten und von der Orthodoxie hingerichteten Sufi-Dichtern
und den christlich meditierenden Mönchen des Mittelalters andererseits
zusammengesehen wird, d.h. mit all denen, auf die das
Lied in Jesaja 50 zutrifft) und den zahllosen Vorträgen,
die nicht umsonst allesamt mit dem Spruch eingeleitet werden, daß
sie bloße Vorlesungs-Mitschriften seien, in denen sich "Fehlerhaftes"
finden könne (!).
Zum andern sind mir eben
jene "wirklichen" Schriften unendlich wertvoll.
Die ersten von ihnen, die
sich mit Erkenntnistheorie befassen, bieten einen Grundgedanken, der, wenn
er einmal eingeleuchtet hat, kaum noch verdämmert: nämlich den,
daß das Denken eine besondere Erfahrungsart ist, die im Unterschied
zu den sinnlich kanalisierten Erfahrungen, die erst durch eben das Denken
aufgeschlüsselt werden, sich selbst erklärt, durch sich selbst
einleuchtet, im inneren Selbstüberprüfen des Sich-Befragens und
Vergleichens, des inneren Beweisens, Widerlegens und des Ausmessens logischer
Konsequenzen unmittelbar einleuchtet. Wir sind substanziell geistige Wesen,
die noch trotz allen Sündenfall-Exils unserer sinnlichen Raumverlorenheit
im Binnenraum der geistigen Welt unverlierbar zuhause sind. Wir denken,
also sind wir Sterne, Gedankenlicht-Quellen, Erkenntnis-Sonnenaufgänge.
Das brauche ich jetzt nicht bei Steiner abzuschreiben, ich formuliere hier
frei, "hansisch". Und er selbst hat es auch nicht bei Hegel abgeschrieben
(dann klänge es wohl auch etwas anders), obwohl gerade Hegel der Hauptvertreter
dieses eigentlich schlichten Gedankens der Unmittelbarkeit absoluter Vermittlung
(= Vermittlung absoluter Unmittelbarkeit) ist. Ach Gott, ich erlebe einen
Haß auf Hegel bei meinem einzigen Philosophiekollegen an der Schule,
und so dürfte es auch sonst oft der Fall sein; das tut mir mehr weh
als all die Mißverständnisse, die Rudolf Steiner gegenüber
üblich sind.
Am höchsten schätze
ich "Wie erlangt man
Erkenntnisse der höheren Welten". Ich brauche das hier nicht auszuführen,
das mit dieser Praxis- und Übungs-Frage betitelte Werkchen kann
ja jeder Leser unmittelbar selbst einsehen und mit anderen Anleitungen
dieser Art vergleichen, etwa mit den Schriften der Theresa von Avila, mit
Fichtes "Anweisung zum seligen Leben" oder (leider besonders übersetzungs-schwellig)
mit Patanjalis Yoga-Sutra.
In diesem Punkt darf und muß man unendlich anspruchsvoll sein und
den ganzen exoterischen Seim des exoterisch-exotischen Echsenschleims unserer
Jahrzehnte ausscheiden. Dazu dient der kritische Menschenverstand; und
allen "Schulungen", die den Verstand ausschalten wollen, würde ich
die von ihnen gewählte Blödheit gönnen, wenn es nicht so
viel Schmerz verursachen würde; denn in der Tat quält selbstgewählte
Blödheit, Ignoranz und Verachtung des Verstandes nicht nur den Selbstblender,
sondern auch seine Mitmenschen. Erstaunlich, wie wenige spirituelle Schulungswege
den Verstand NICHT ausschalten!
Am wichtigsten im Gesamtwerk
Rudolf Steiners finde ich seine Christozentrik. Wie bei Jakob
Böhme, Novalis
und (wovon ich überzeugt bin) Hegel, wie (in musikalischer Inspiration)
bei Bruckner und Messiaen, wie bei den "katholischen Ketzern" Teilhard
de Chardin (Evolutionsbiologe und Anthropologe) und Friedrich von Spee
(der außer seinen vielen Liedern ein bedeutendes juristisches Werk
gegen die Hexenverfolgung geschrieben hat) ist bei ihm alles auf Christus
ausgerichtet, in Christus zentriert, durch Christus heilsam erfrischt
und neubelebt; das ist der wesentliche Punkt, in dem er die alte, staubige,
gammelige englisch-indische Theosophie überwunden hat. Da ist er in
die Drachenhaut geschlüpft und hat einen Schmetterling aus dem alten
Wurm hervorgezaubert. Sowenig es einen Paulus-Personenkult braucht, um
"den Christus anzuziehen", sowenig braucht es einen Steiner-Personenkult,
um
in Christus die "Weisheit vom Menschen" konzentriert zu finden.
Daß es mit unendlichen
Schwierigkeiten behaftet ist, heutzutage sein Leben in Christus zu zentrieren,
gibt der Aufgabe erst recht den besonderen Reiz: auch ohne die ausgehöhlten
Begriffe der christlichen Dogmatik den Sachverhalt der Neugeburt aus dem
Selbstopfer, in dem alles Leben besteht und sich fortplanzt, in tausend
"anderen" Mittelpunkten des unendlichen Umkreises verwirklicht zu sehen.
Jakob Böhme z.B. beschrieb die allschöpferische Geburt des SOHNES
an einem Grashalm, der Physiologus mit dem Phoenix-Motiv,
Wolfram von Eschenbach (ganz Jesaja-prophetisch)
als "Wunsch
vom Paradeis, beides: Wurzel und Reis", Hegel in der sich selbst vermittelnden
Gedankenbewegung des Logos ("Wissenschaft der Logik"), Bruckner durch endlos
aufsteigende, Blüte aus Blüte hervortreibende Modulationswendeltreppen,
der Expressionist Jawlensky konzentriert in dem all-einigen Fensterkreuz-Gesicht
seiner letzten Jahre; so unendlich viele aber beschrieben
den "Weg" mit ihrem eigenen Leben und Sterben, nicht zu reden von all
der namenlosen Mühe und Arbeit -- so wunderbar viele, ja viele (!)
Wahrheiten, immer neu sich öffnende Wege,
die sich zu immer neueren Wegen immer weiter öffnen --
soweit, so kurz
grusz,
hansz
Soweit der damalige Nachklapp-Rundbrief,
und ich würde es heute kaum anders gewichten und formulieren: den
Ansatz bei der Erkenntnistheorie, in der Rudolf Steiner sich, vergleichbar
der Diskussion und "Ding an sich"-Kritik der deutschen Idealisten (Reinhold,
"Aenesidemus", Fichte, Schelling, Hegel) an Kant "abgearbeitet" hat; und
in der "Verarbeitung" der imaginativ verwucherten Theosophie: die Christozentrik
der Anthroposophie.
Diesem christozentrischen
Prinzip hätte ich in früheren Jahren den Goetheanismus, den Sinnen-
und Erfahrungs-Bezug der Anthroposophie entgegengestellt, aber zur Zeit
sehe ich es anders:
Christentum ist durch die
Anthroposophie zunächst wohl überaus kompliziert geworden, denn
die alten Probleme der Frage, was und wer "Christus" überhaupt ist,
brechen allzumal wieder auf:
Die Göttlichkeit im
Verhältnis zur Menschlichkeit (d.h. der antike Riß zwischen
Gnostikern und Exoterikern, dann zwischen europäischen Monophysiten
und asiatischen Nestorianern, schließlich zwischen orthodoxen Römern
und arianischen Germanen), die Schichtung in physische, lebensstrukturelle,
empfindungsbunte und selbstbewußte Welten, in die weitere, höhere,
weisere Mächte hineinwirken, -- all das wird in der von der Theosophie
ererbten Sprache und Systematik der Anthroposophie wieder formulierbar,
wird Thema und Achse einer großen Frage: Wie ist der Ozean des All-Ein-Seienden
im Tropfen eines einzelnen Menschen konkret geworden? Wie sind Passion
und Auferstehung zu verstehen?
Verständlich ist zunächst
bestenfalls, daß der Ozean ausnahmslos in allen Tropfen
vergegenwärtigt wird ("Monaden"),
wo die äußere Unendlichkeit in der inneren und die innere in
der äußeren gespiegelt wird.
Eine phantastische Frage,
zu deren Beantwortung das bisherige Christentum (und das ist keine Kritik!)
bestenfalls den Problemaufwurf bietet, und die durch Meditationen, in denen
der sich Vertiefende, der Betende, sich hingebungsvoll mit dem All-Ein-Seienden
vereint, nicht schon beantwortet werden, man suche etwa bei Meister Eckhart
oder anderen Neuplatonikern nach einem deutenden Verstehen der Passion
(!); vielmehr braucht es (zusätzlich?) eine Gegenwendung, eine Konzentration
auf die Konkretisierung (statt bloß der Abstraktion in die unendlichen
Tiefen des Ozeans hinein), einen Materie-Durchgang, die Hinwendung auf
den Mitmenschen, also auf Handlung und Kommunikation. Dann wird das konkrete
Leben, das Sich-Mitteilen durch die Sinnenwelt hindurch, zum "Brot" des
Lebens, zum Austeilen des Brotes.
Statt daß das Sein
der Dingwelt das Erkennen und Erkennen die Mitteilbarkeit ermöglicht,
wäre Mitteilung dann wohl die Ermöglichung des Erkennens und
Erkennen die Ermöglichung des Daseins unserer Welt? Welt = ein großes
binnenkommunikatives Individuum, durch Kommunikation in Myriaden Individuen
sich vervielfachend? Darüber denke ich nach, das frage ich mich und
Euch, liebe Freunde,
grusz, hansz
(beim Einsammeln der
Brocken)
3.
Rundbrief 2011: Menetekel
Liebe Freunde,
vom Mond aus sähe man
jetzt wohl die Erde als rötlichen Ring, und den Mond von der Erde
aus mit dem Widerschein der rötlichen Erdleuchte, wenn nicht die Wolkenschicht
jetzt, zur Dämmerungszeit, das ohnehin nur schwache Glimmen des verschatteten
Mondes verschleierte.
Daniel,
Kapitel 5 (http://12koerbe.de/apokalypse/daniel-5.htm), ist
die berühmte aramäische Erzählung von der "Schrift an der
Wand", die keiner außer dem Propheten Daniel lesen und deuten kann:
"Mne mne tqel u-parsin". Zunächst klingt das wie ein Preisschild mit
den üblichen Gewichtsangaben des Zahlungsmetalls Silber: "Eine Mine,
eine Mine, ein Schekel (aramäisch tqel) und eine Halbmine". Daniels
Deutung läßt für "parsin" noch die "Perser" anklingen,
als diejenigen nämlich, denen das babylonische Reich übergeben
werden soll.
Die Übersetzung ging
nur schwerfällig voran, da jedes Wort im Aramäisch-Anhang des
Gesenius (hebräisches Wörterbuch) nachgeschlagen werden mußte,
obwohl das meiste so etwas wie eine Dialekt-Variante des Hebräischen
zu sein scheint; und schon die hebräische Schreibweise des Aramäischen
ist eigenartig, mit merkwürdigen Vokalisationen, Vokalisationslücken
und Buchstabenverdoppelungen; ich übertrage ja alles ungeglättet,
analog, mit allen Ungereimtheiten dieser hebräischen Schreibungen
des Aramäischen.
Aber am meisten müssen
vor gut zweitausendzweihundert Jahren die "72 Übersetzer" der "Septuaginta"
(der Übersetzung des Alten Testaments ins Griechische) gelitten haben,
die einfach alles, was sie nicht verstanden, ausließen, neu erzählten
oder ein wenig umbogen, -- es sei denn, sie hatten einen anderen Text,
der uns nun mal eben verloren gegangen ist.
Lakonisch brillant ist außer
dem märchenhaften und dicht-knapp erzählten Anfang besonders
der Schluß, gleich nach Deutung und Ehrung des prophetischen Deuters
der letzte, knappe, schlichte Satz:
In ebendieser Nacht ward getötet Belschazar, der König
der Chaldäer.
Diese aramäisch-griechisch-lateinisch-deutsche
Tessarapla war das eine, was ich letzten Monat fertiggebracht habe; anderes
bleibt noch unvollendet liegen, so vor allem "Peri Isidos kai Osiridos",
"Über Isis und Osiris" von Plutarch.
Was ich aber nun herausgegeben
habe aus dem Verborgenen ins Öffentliche, sind meine Gedichte der
frühen Jahre, der wilden Siebziger, meiner Hippie-, Schul- und Studienzeit.
Habe ich mich vielleicht allzusehr geschämt, das früher zu veröffentlichen?
Eher noch war es die dreißigjährige Sperre der deutschen Verlage,
Lyrik drucken und anbieten zu lassen. Zuviel Angebot, Überfütterung
mit betroffenheitsbesoffener Flatterrandprosa. Ich kanns verstehn, Deutschland
war eine ganze Generation lang (meine Generation) ein schwarzes Liederloch,
dichtungsfrei, werklos, antipoetisch, ein Nichts an neuer Lyrik, einfach
weil es eigentlich viel zu viel davon gab ... wer wollte das alles lesen?
-- aber ich seufze dennoch tief tief auf.
Eine kleine Probe? Zum Beispiel
der Beginn des letzten dieser 86 Gedichte (am Ende von Sechsstern):
Heraus schwelle
Wellenkeim
in sanftem Bogen
quill hervor
Im leisen Lied der Mondenfrau
im weißen Schlaf
verbirgt die Nacht dein
Herz
...
oder das (komplette) Lied
Nr. 6 im vierten Zyklus (Vierstern):
Der Schutzwärmespender
verkrümelt die Nachtluft
in braunschwarze Brocken
aus feuchtem Gummi
Dein Schritt verschmiert
die
Rosetten-Lehmsterne in
den
Schottergrund platzt das
Steinkratzen
unter deinen Stiefelsohlen
zerfetzen scharfe Flötendissonanzen
alle harten Konsonanten
ins regenweiße Rauschen
oder -- ach, da gibt es
genug Ohrwürmer, Schlager, blowing in the wind, verloren und hier
-- kaum wiedergefunden, kaum gerettet, kaum neugesungen.
Bitte bitte bitte habt Nachsicht
mit mir, ihr Lieben!,
grusz, hansz
hansz
- die unreife, klangmalende, wildverwucherte, unveröffentlichte
Lyrik der Siebziger Jahre:
4.
Rundbrief 2011: Plutarch, Koran und Daniel
Liebe Freunde,
die
ersten 20 Kapitel von Plutarchs
Schrift Über Isis und Osiris sind nun seit einiger
Zeit schon im Netz, im griechischen Original und in eigener Übersetzung
auf deutsch: der Teil also, der den Mythos vom Tod des Osiris und von der
Demeter-ähnlichen Wanderung der Isis enthält. Diese Schrift war
bis zur Entzifferung der Hieroglyphen die Standardquelle für ägyptische
Mythologie, Ursprung der abendländischen Rezeption, die in die Freimaurerei
und in die Zauberflöte und deren Symbolismus hineinführt.
In
dieser Plutarch-Schrift findet sich auch das Motiv von der verschleierten
Isis zu Sais, das
Schiller in einer Ballade ausgeführt hat und Novalis in "Die
Lehrlinge zu Sais" (gegen Ende von Teil 1) zitiert; bei Plutarch lauten
die beiden Hexameter:
In
den Materialien zu den "Lehrlingen" (Mai 1798) findet sich folgender Doppelvers
des Novalis:
Zum
Ramadan habe ich diesmal aus dem Koran den häufig zitierten "Thronvers"
aus der zweiten Sure und den thematischen Abschluß der fünften
Sure: "Der
Tisch" in Rückerts Übersetzung netzediert. Es geht
darin um das von den Aposteln erbetene Abendmahl, das durch Jesus wie der
Gral vom Himmel hinabsteigt; leider fehlt bei Rückert ein interessantes
Stück vor diesem "Tisch"-Abschnitt, ich mußte es also eigenhändig
übersetzen: wo es um Mohammeds Würdigung der christlichen Mönche
und Priester geht, die dort von ihm mit dem Spruch "innâ
nasârâ"
- "Wir sind Nasoräer"
zitiert werden. Im Koran wird diese Bezeichnung der Christen (nasara) als
"Helfer" gedeutet, vgl. die Imran-Sure (3) Vers 45/52: nahnu
ansâru 'llâhi -
wir (sind) Helfer Gottes.
Nicht zufällig steht jenes "Bekenntnis" der Jünger in Sure 3
im Zusammenhang mit dem kurz davor geschilderten Nasirat
der Maria im Tempel (gemäß dem Jakobus-Apokryphon),
so wie nun auch diese Stelle in der 5. Sure vor der "Tisch"-Herabkunft
auf die Askese und Frömmigkeit der Mönche bezogen ist, durch
die sie die Gottgeweihtheit
der drei großen Nasire
der Schrift (Samson,
Samuel und Johannes
der Täufer) gemäß Numeri
6,2 ff nachahmen und übernehmen. Ich habe den Eindruck, daß
hier wie auch sonst oft gerade die bildhafte Verkürzung der Darstellung
aufgeladen ist mit verborgenen Inhalten, die durch Interpretation aus dem
Konzentrat wieder zu entfalten wären. Solche Stellen sind also eher
eine auf naiv-kindliche Weise symbolisierende Poesie als historische Schilderung;
ihre Realität findet und versteht sich in der Ebene der "Zeichen".
Kindlich ist diese Bildhaftigkeit eben dadurch, daß die Traditionen
und Ableitungen der Begriffe geradezu verhüllt und verborgen zu sein
scheinen, wie besonders auch bei dem Gottestitel "rabbi" (üblicherweise
"Herr") und bei "°âlam" (üblicherweise "Welt"), z.B. in
der ersten Sure; ist der "rabbi 'l-°âlamîna" nur als
"Herr der Welten" zu verstehen, oder schwingt nicht mit, was wir von den
entsprechenden hebräischen Begriffen "rabbi" und "°ôlâm"
kennen: "Meister der Weltzeitenkreise"? Diese Vertiefung widerspräche
ja nicht der Auffassung von Gott als dem "Allwissenden, Allweisen". Vertiefungen
verfälschen nicht; es sind die Verflachungen, die verfälschen.
In den letzten Wochen habe
ich mich um Daniel
2: Nebukadnezars
Traum von der Statue bemüht, aramäisch wie
schon das Menetekel-Kapitel, das fünfte (siehe den letzten, den 3.
Rundbrief, Juni 2011). Das Motiv der vier Metalle in der absteigenden
Folge Gold-Silber-Bronze-Eisen, nun hier auch der unpassend hineingemischte
Ton, findet sich bekanntermaßen in Goethes
Märchen wieder, dort auch an Königs-Statuen; und die indisch-persisch-griechische
Weltalter-Lehre (z.B.
bei Hesiod und bei Ovid)
entspricht diesem Abstieg der Metallwerte und nutzt ihn namentlich. In
der Tradition wurden die metallenen Abstiegs-Stufen auf die folgenden Weltreiche
bezogen, wobei in orthodox-christlicher Deutung die aus Eisen und Ton gemischten
Füße der Statue die Römer meinen, während heutige
Philologen darunter eher Alexander und das von den Juden zutiefst verabscheute
Seleukidenreich verstehen.
Einen besonderen Reiz bekommt
die märchenhafte Erzählung dadurch, daß die Traumdeuter
aufgefordert werden, den Traum selbst erst einmal wiederzugeben, noch bevor
er überhaupt gedeutet werden soll, eine doppelte Verschleierung des
Geheimnisses, und somit eine doppelte Enthüllung des Verborgenen.
Ich weiß, daß
die links der Rundbriefe nach dem Versand nicht immer funktionieren; aber
ich stelle den Rundbrief auch immer ins Netz, und zwar in der Sammlung
des jeweiligen Jahres, dieser hier ist also der letzte (unterste) in der
Sammlung http://12koerbe.de/hansz/news-11.htm;
zugleich erscheint der jeweils
letzte Rundbrief immer unter dem link:
http://12koerbe.de/hansz/news.htm#letzter
Rundbrief;
in diesen beiden Präsentationen
müßten alle links problemlos funktionieren,
grusz, hansz
5.
Rundbrief 2011: Daniel: Das große Halleluja im Feuerofen
Liebe Freunde,
schon vor einigen Jahren,
zu
Ehren des damals verstorbenen Karl-Heinz Stockhausen und in Erinnerung
an seine frühe kühn-avantgardistische Komposition "Gesang der
Jünglinge im Feuerofen", habe ich den entsprechenden apokryphen Einschub
des dritten Daniel-Kapitels griechisch-lateinisch-deutsch ins Netz gestellt.
Nun folgt das gesamte
100-Verse-Kapitel, und zwar nicht in der griechischen Theodotion-Version
aus dem 2.Jhd.n.Chr., die der Vulgata und damit dem katholischen Messeritus
zugrunde lag, wo der Priester es bei der Rückkehr in die Sakristei
zu beten hatte, sondern in der älteren Septuaginta-Fassung, sofern
der aramäische Text fehlt. Der große Einschub mit dem Gebet
des Azarias und dem Gesang
der drei Jünglinge im Feuerofen folgt also dem Septuaginta-Text,
und der aramäische Rahmen, d.h. der eigentliche erzählende Text
vor dem Azarias-Gebet und dem Gesang und danach dann im happy end des Kapitels,
ist natürlich aus eben dem Aramäischen ins Deutsche übertragen,
obwohl der Septuaginta-Text dort genauso wie auch sonst im gesamten Daniel-Buch
erheblich von dem aramäischen Text abweicht, während die Vulgata
ihm nähersteht. Die lateinische Vulgata folgt ja der Theodotion-Übersetzung
ins Griechische, der offensichtlich unser aramäischer Text zugrundeliegt,
während die Septuaginta wahrscheinlich einen anderen Text vorliegen
hatte.
Der Gesang der drei Jünglinge,
oder der vier, wenn man den Engel mitzählt, ist eine Litanei: fast
jedem der 37 Halbverse antwortet der immer gleiche Halbvers "besingt und
erhebt ihn hoch in Weltzeiten kreisend!"; nur die ersten sechs und die
letzten beiden weichen in diesem Litanei-Refrain ein wenig variierend ab.
Und der gemeinsame Anfang aller Verse ist der Imperativ "Preiset ihr ...
den Herrn!", also (wenn ein hebräische Text zugrundeläge): "halelû-Jah!"
Diese im römisch-katholischen Ritus so beliebte Litanei-Form des kultischen
Gesangs ist in der Bibel fast nur aus Psalm 136 bekannt, wo der 26-fach
wiederholte antwortende Halbvers lautet:
"ki
le-°ôlâm chaßeddô"
- "denn in Weltzeit kreist sein Erbarmen".
Aber eigentlich
ist diese Dichtungsform in Mesopotamien, in der babylonischen Dichtung,
zuhause gewesen, wo ja übrigens diese märchenhafte Erzählung
angesiedelt ist, zur Zeit des babylonischen Exils, in der Regierungszeit
von Nabu-kudurri-ussur, der in der Septuaginta Nabouchodonosor heißt
und uns unter der stärker verformenden hebräisch-aramäischen
Lesart des Namens "Nebukadnäzzar" bekannt ist. Bemerkenswert ist auch
die motivische Verwandtschaft dieser Erzählung mit der des vorherigen,
des zweiten Daniel-Kapitels:
Dort ging es um den Traum, den Nebukadnezar von einer großen metallenen
Statue hatte, die die Dynastien-Folgen der Weltreiche bedeuten sollte.
Hier läßt Nebukadnezar selbst eine große metallene Statue
schmieden, vor der alle Völker sich in Anbetung niederwerfen sollen,
sobald die Jubel-Orchester ihr "Preiset den Herrn!" auf diese goldene Statue,
die der König aufgestellt hat, anstimmen. Nur die drei jüdischen
Jünglinge weigern sich und werden deshalb, dem erlassenen Gesetz gemäß,
in den Feuerofen geworfen, wo sie dann den Herrn preisen, aber nicht den
der goldenen Statue, sondern den das gesamte All durchlebenden, der ihnen
inmitten des siebenfach überheizten Ofens eine von Tau durchsprühte
sanfte Brise zuströmt.
Das
griechische Wort "aiôn"
bedeutet "Zeitenkreis" in dem Sinne, daß
der Ewigkeits-Fluchtpunkt der Vergangenheit mit dem Ewigkeits-Fluchtpunkt
der Zukunft zusammengeschlossen wird und wir im ewigen Jetzt uns jenem
Punkt gegenüber finden. Ein Aiôn, lateinisch Saeculum, ist
eine ganze zeitlich abgerundete Welt, und damit auch ein einzelnes der
aufeinander folgenden Weltalter ("Äonen"), deren Gesamtreihe sich
wiederum zu einem Zyklus rundet. Uns ist die kultische Formel "von Ewigkeit
zu Ewigkeit" vertraut, die auf die hebräische Formel "me °ôlâm
ad-°ôlâm" zurückgreift, während Septuaginta und
Vulgata übersetzen: "in den Aiôn der Aiônen hinein" bzw.
"in das Saeculum der Saecula hinein". Diese Konstruktion mit einem Genetiv-Attribut
gibt es nicht in den hebräischen Klauseln (z.B. der Psalmen), aber
im aramäischen Danieltext, nämlich im
"Menschensohn"-Kapitel, Vers 18, wo es von den Heiligen heißt:
we-jacheßenûn
malekûtâ' °ad-°âlemâ'
we-°ad °âlam °âlemajjâ'
kai
kathexousi tên basileian heôs tou aiônos
kai heôs tou aiônos tôn aiônôn
et obtinebunt regnum usque in saeculum
et saeculum saeculorum.
und halten werden sie das Königreich
zum Weltzeitenkreis und zum Weltzeitenkreis der Weltzeitenkreise.
Ich
habe den griechischen Akk.-Pl. "eis tous aiônas" unseres Textes grundsätzlich
mit "in Weltzeiten kreisend" übersetzt, zum einen, um den Plural beizubehalten,
und zum anderen, um das Bewegungselement des Richtungs-Akkusativs zum Ausdruck
zu bringen. In die Sphären hinaufheben soll der Gesang den Gott, und
so stimmt beides, so stimmen beide miteinander überein: "hoch in Weltzeiten
kreisend" ist das ihn erhebende Lob und zugleich "hoch in Weltzeiten kreisend"
ist die Erhabenheit des zu Lobenden, des "Höchsten". In der Tat steigen
die Beispiele von den äußersten Naturkreisläufen, Sterne
und Planeten, über die Wetterwechsel hinab zur irdischen Natur und
schließlich in die singenden Menschen hinein, und der strenge Dauerrefrain
eben dieses mantra-artigen Litanei-Stils gibt dem hyperbolisch ausgreifenden
großen Perioden-Inhalt die kleinteilig-periodische Form.