Rudolf
Steiner : Wie erlangt man Erkenntnisse der höheren Welten : Über
einige Wirkungen der Einweihung
ÜBER EINIGE
WIRKUNGEN DER EINWEIHUNG
Es gehört zu den Grundsätzen wahrer Geheimwissenschaft,
daß derjenige, welcher sich ihr widmet, dies mit vollem Bewußtsein
tue. Er soll nichts vornehmen, nicht üben, wovon er nicht weiß,
was es für eine Wirkung hat. Ein Geheimlehrer, der jemand einen Rat
oder eine Anweisung gibt, wird immer zugleich sagen, was durch die Befolgung
in Leib, Seele oder Geist desjenigen eintritt, der nach höherer Erkenntnis
strebt.
Hier sollen nun einige Wirkungen auf die Seele des
Geheimschülers angegeben werden. Erst wer solche Dinge kennt, wie
sie hier mitgeteilt werden, kann in vollem Bewußtsein die Übungen
vornehmen, welche zur Erkenntnis übersinnlicher Welten führen.
Und nur ein solcher ist ein echter Geheimschüler. Alles Tappen im
Dunkeln ist bei wirklicher Geheimschulung streng verpönt. Wer nicht
mit offenen Augen seine Schulung vollziehen will, mag Medium werden; zum
Hellseher im Sinne der Geheimwissenschaft kann er es nicht bringen.
Bei dem, welcher in diesem Sinne die in den vorhergehenden
Abschnitten (über Erwerbung übersinnlicher Erkenntnisse) beschriebenen
Übungen macht, gehen zunächst gewisse Veränderungen im sogenannten
Seelenorganismus vor sich. Dieser ist nur für den Hellseher wahrnehmbar.
Man kann ihn mit einer mehr oder weniger geistig-seelisch leuchtenden Wolke
vergleichen, in deren Mitte der physische Körper des Menschen sich
befindet. [Eine Beschreibung findet man in des Verfassers
«Theosophie».] In diesem Organismus werden die Triebe,
Begierden, Leidenschaften, Vorstellungen und so weiter geistig sichtbar.
Sinnliche Begierde zum Beispiel empfindet man darinnen wie dunkelrötliche
Ausstrahlungen von bestimmter Form. Ein reiner, edler Gedanke findet seinen
Ausdruck wie in einer rötlichvioletten Ausstrahlung. Der scharfe Begriff,
den der logische Denker faßt, fühlt sich wie eine gelbliche
Figur mit ganz bestimmten Umrissen. Der verworrene Gedanke des unklaren
Kopfes tritt als Figur mit unbestimmten Umrissen auf. Die Gedanken der
Menschen mit einseitigen, verbohrten Ansichten erscheinen in ihren Umrissen
scharf, unbeweglich, diejenigen solcher Persönlichkeiten, welche zugänglich
für die Ansichten anderer sind, sieht man in beweglichen, sich wandelnden
Umrissen und so weiter, und so weiter. [Man muß bei
allen folgenden Schilderungen darauf achten, daß zum Beispiel beim
«Sehen» einer Farbe geistiges Sehen (Schauen) gemeint
ist. Wenn die hellsichtige Erkenntnis davon spricht: «ich sehe rot»,
so bedeutet dies: «ich habe im Seelisch-Geistigen ein Erlebnis, welches
gleichkommt dem physischen Erlebnis beim Eindruck der roten Farbe.»
Nur weil es der hellsichtigen Erkenntnis in einem solchen Falle ganz naturgemäß
ist, zu sagen: «ich sehe rot», wird dieser Ausdruck angewandt.
Wer dies nicht bedenkt, kann leicht eine Farbenvision mit einem wahrhaft
hellsichtigen Erlebnis verwechseln.]
Je weiter nun der Mensch in seiner Seelenentwickelung
fortschreitet, desto regelmäßiger gegliedert wird sein Seelenorganismus.
Beim Menschen mit einem unentwickelten Seelenleben ist er verworren, ungegliedert.
Aber auch in einem solchen ungegliederten Seelenorganismus kann der Hellseher
ein Gebilde wahrnehmen, das sich deutlich von der Umgebung abhebt. Es verläuft
vom Innern des Kopfes bis zur Mitte des physischen Körpers. Es nimmt
sich aus wie eine Art selbständiger Leib, welcher gewisse Organe hat.
Diejenigen Organe, die hier zunächst besprochen werden sollen, werden
in der Nähe folgender physischer Körperteile geistig wahrgenommen:
das erste zwischen den Augen, das zweite in der Nähe des Kehlkopfes,
das dritte in der Gegend des Herzens, das vierte liegt in der Nachbarschaft
der sogenannten Magengrube, das fünfte und sechste haben ihren Sitz
im Unterleibe. Diese Gebilde werden von den Geheimkundigen «Räder»
(Chakrams) oder auch «Lotusblumen» genannt. Sie heißen
so wegen der Ähnlichkeit mit Rädern oder Blumen; doch muß
man sich natürlich klar darüber sein, daß ein solcher Ausdruck
nicht viel zutreffender ist, als wenn man die beiden Lungenteile «Lungenflügel»
nennt. Wie man sich hier klar ist, daß man es nicht mit «Flügeln»
zu tun hat, so muß man auch dort nur an eine vergleichsweise Bezeichnung
denken. Diese «Lotusblumen» sind nun beim unentwickelten Menschen
von dunklen Farben und ruhig, unbewegt. Beim Hellseher aber sind sie in
Bewegung und von leuchtenden Farbenschattierungen. Auch beim Medium ist
etwas Ähnliches der Fall, doch in anderer Art. Darauf soll hier nicht
näher eingegangen werden. – Wenn nun ein Geheimschüler mit seinen
Übungen beginnt, so ist das erste, daß sich die Lotusblumen
aufhellen; später beginnen sie sich zu drehen. Wenn dies letztere
eintritt, so beginnt die Fähigkeit des Helisehens. Denn diese «Blumen»
sind die Sinnesorgane der Seele. [Auch in bezug auf diese
Wahrnehmungen des «Drehens», ja der «Lotusblumen»
selbst, gilt, was in der vorigen Anmerkung über das «Sehen der
Farben» gesagt worden ist.] Und ihre Drehung ist der Ausdruck
dafür, daß im Übersinnlichen wahrgenommen wird. Niemand
kann etwas Übersinnliches schauen, bevor sich seine astralen Sinne
in dieser Art ausgebildet haben.
Das geistige Sinnesorgan, welches sich in der Nähe
des Kehlkopfes befindet, macht es möglich, hellseherisch die Gedankenart
eines anderen Seelenwesens zu durchschauen, es gestattet auch einen
tieferen Einblick in die wahren Gesetze der Naturerscheinungen. – Das Organ
in der Nachbarschaft des Herzens eröffnet eine hellseherische Erkenntnis
der Gesinnungsart anderer Seelen. Wer es ausgebildet hat, kann auch
bestimmte tiefere Kräfte bei Tieren und Pflanzen erkennen. Durch den
Sinn in der Nähe der sogenannten Magengrube erlangt man Kenntnis von
den Fähigkeiten und Talenten der Seelen; man kann durchschauen,
welche Rolle Tiere, Pflanzen, Steine, Metalle, atmosphärische Erscheinungen
und so weiter im Haushalte der Natur spielen.
Das Organ in der Nähe des Kehlkopfes hat sechzehn
«Blumenblätter» oder «Radspeichen», das in
der Nähe des Herzens deren zwölf, das in der Nachbarschaft der
Magengrube liegende deren zehn.
Nun hängen gewisse seelische Verrichtungen
mit der Ausbildung dieser Sinnesorgane zusammen. Und wer diese Verrichtungen
in einer ganz bestimmten Weise ausübt, der trägt etwas bei zur
Ausbildung der betreffenden geistigen Sinnesorgane. Von der «sechzehnblätterigen
Lotusblume» sind acht Blätter auf einer früheren Entwickelungsstufe
des Menschen in urferner Vergangenheit bereits ausgebildet gewesen. Zu
dieser Ausbildung hat der Mensch selbst nichts beigetragen. Er hat
sie als eine Naturgabe erhalten, als er noch in einem Zustande traumhaften,
dumpfen Bewußtseins war. Auf der damaligen Stufe der Menschheitsentwickelung
waren sie auch in Tätigkeit. Jedoch vertrug sich diese Art von Tätigkeit
eben nur mit jenem dumpfen Bewußtseinszustande. Als dann das Bewußtsein
sich aufhellte, verfinsterten sich die Blätter und stellten ihre Tätigkeit
ein. Die anderen acht kann der Mensch selbst durch bewußte Übungen
ausbilden. Dadurch wird die ganze Lotusblume leuchtend und beweglich. Von
der Entwickelung eines jeden der sechzehn Blätter hängt die Erwerbung
gewisser Fähigkeiten ab. Doch, wie bereits angedeutet, kann der Mensch
nur acht davon bewußt entwickeln; die anderen acht erscheinen dann
von selbst.
Die Entwickelung geht in folgender Art vor sich.
Der Mensch muß auf gewisse Seelenvorgänge Aufmerksamkeit und
Sorgfalt verwenden, die er gewöhnlich sorglos und unaufmerksam ausführt.
Es gibt acht solche Vorgänge. Der erste ist die Art und Weise, wie
man sich Vorstellungen aneignet. Gewöhnlich überläßt
sich in dieser Beziehung der Mensch ganz dem Zufall. Er hört dies
und das, sieht das eine und das andere und bildet sich danach seine Begriffe.
Solange er so verfährt, bleibt seine sechzehnblätterige Lotusblume
ganz unwirksam. Erst wenn er seine Selbsterziehung nach dieser Richtung
in die Hand nimmt, beginnt sie wirksam zu werden. Er muß zu diesem
Zwecke auf seine Vorstellungen achten. Eine jede Vorstellung soll für
ihn Bedeutung gewinnen. Er soll in ihr eine bestimmte Botschaft, eine Kunde
über Dinge der Außenwelt sehen. Und er soll nicht befriedigt
sein von Vorstellungen, die nicht eine solche Bedeutung haben. Er soll
sein ganzes Begriffsleben so lenken, daß es ein treuer Spiegel der
Außenwelt wird. Sein Streben soll dahin gehen, unrichtige Vorstellungen
aus seiner Seele zu entfernen. – Der zweite Seelenvorgang betrifft in einer
ähnlichen Richtung die Entschlüsse des Menschen. Er soll nur
aus gegründeter, voller Überlegung selbst zu dem Unbedeutendsten
sich entschließen. Alles gedankenlose Handeln, alles bedeutungslose
Tun soll er von seiner Seele fernhalten. Zu allem soll er wohlerwogene
Gründe haben. Und er soll unterlassen, wozu kein bedeutsamer Grund
drängt. – Der dritte Vorgang bezieht sich auf das Reden. Nur was Sinn
und Bedeutung hat, soll von den Lippen des Geheimschülers kommen.
Alles Reden um des Redens willen bringt ihn von seinem Wege ab. Die gewöhnliche
Art der Unterhaltung, wo wahllos und bunt alles durcheinander geredet wird,
soll der Geheimschüler meiden. Dabei aber soll er sich nicht etwa
ausschließen von dem Verkehr mit seinen Mitmenschen. Gerade im Verkehr
soll sein Reden sich zur Bedeutsamkeit entwickeln. Er steht jedem Rede
und Antwort, aber er tut es gedankenvoll, nach jeder Richtung überlegt.
Niemals redet er unbegründet. Er versucht nicht zuviel und nicht zuwenig
Worte zu machen. Der vierte Seelenvorgang ist die Regelung des äußeren
Handelns. Der Geheimschüler versucht sein Handeln so einzurichten,
daß es zu den Handlungen seiner Mitmenschen und zu den Vorgängen
seiner Umgebung stimmt. Er unterläßt Handlungen, welche für
andere störend sind oder die im Widerspruche stehen mit dem, was um
ihn herum vorgeht. Er sucht sein Tun so einzurichten, daß es sich
harmonisch eingliedert in seine Umgebung; in seine Lebenslage und so weiter.
Wo er durch etwas anderes veranlaßt wird zu handeln, da beobachtet
er sorgfältig, wie er der Veranlassung am besten entsprechen könne.
Wo er aus sich heraus handelt, da erwägt er die Wirkungen seiner Handlungsweise
auf das deutlichste. – Das fünfte, was hier in Betracht kommt, liegt
in der Einrichtung des ganzen Lebens. Der Geheimschüler versucht natur-und
geistgemäß zu leben. Er überhastet nichts und ist nicht
träge. Übergeschäftigkeit und Lässigkeit liegen ihm
gleich ferne. Er sieht das Leben als ein Mittel der Arbeit an und richtet
sich dementsprechend ein. Gesundheitspflege, Gewohnheiten und so weiter
richtet er für sich so ein, daß ein harmonisches Leben die Folge
ist. – Das sechste betrifft das menschliche Streben. Der Geheimschüler
prüft seine Fähigkeiten, sein Können und verhält sich
im Sinne solcher Selbsterkenntnis. Er versucht nichts zu tun, was außerhalb
seiner Kräfte liegt; aber auch nichts zu unterlassen, was innerhalb
derselben sich befindet. Anderseits stellt er sich Ziele, die mit den Idealen,
mit den großen Pflichten eines Menschen zusammenhängen. Er fügt
sich nicht bloß gedankenlos als ein Rad ein in das Menschentriebwerk,
sondern er sucht seine Aufgaben zu begreifen, über das Alltägliche
hinauszublicken. Er strebt danach, seine Obliegenheiten immer besser und
vollkommener zu machen. – Das siebente –in seinem Seelenleben betrifft
das Streben, möglichst viel vom Leben zu lernen. Nichts geht an dem
Geheimschüler vorbei, was ihm nicht Anlaß gibt, Erfahrung zu
sammeln, die ihm nützlich ist für das Leben. Hat er etwas unrichtig
und unvollkommen verrichtet, so wird das ein Anlaß, ähnliches
später richtig oder vollkommen zu machen. Sieht er andere handeln,
so beobachtet er sie zu einem ähnlichen Ziele. Er versucht, sich einen
reichen Schatz von Erfahrungen zu sammeln und ihn stets sorgfältig
zu Rate zu ziehen. Und er tut nichts, ohne auf Erlebnisse zurückzublicken,
die ihm eine Hilfe sein können bei seinen Entschlüssen und Verrichtungen.
– Das achte endlich ist: der Geheimschüler muß von Zeit zu Zeit
Blicke in sein Inneres tun; er muß sich in sich selbst versenken,
sorgsam mit sich zu Rate gehen, seine Lebensgrundsätze bilden und
prüfen, seine Kenntnisse in Gedanken durchlaufen, seine Pflichten
erwägen, über den Inhalt und Zweck des Lebens nachdenken und
so weiter. Alle diese Dinge sind ja in den vorhergehenden Abschnitten schon
besprochen worden. Hier werden sie nur aufgezählt im Hin6lick auf
die Entwickelung der sechzehnblätterigen Lotusblume. Durch ihre Übung
wird diese immer vollkommener und vollkommener. Denn von solchen Übungen
hängt die Ausbildung der Hellsehergabe ab. Je mehr zum Beispiel dasjenige,
was ein Mensch denkt und redet, mit den Vorgängen in der Außenwelt
zusammenstimmt, desto schneller entwickelt sich diese Gabe. Wer Unwahres
denkt oder redet, tötet etwas in dem Keime der sechzehnblätterigen
Lotusblume. Wahrhaftigkeit, Aufrichtigkeit, Ehrlichkeit sind in dieser
Beziehung aufbauende, Lügenhaftigkeit, Falschheit, Unredlichkeit sind
zerstörende Kräfte. Und der Geheimschüler muß wissen,
daß es hierbei nicht allein auf die «gute Absicht», sondern
auf die wirkliche Tat ankommt. Denke und sage ich etwas, was mit der Wirklichkeit
nicht übereinstimmt, so zerstöre ich etwas in meinem geistigen
Sinnesorgan, auch wenn ich dabei eine noch so gute Absicht zu haben glaube.
Es ist wie mit dem Kinde, das sich verbrennt, wenn es ins Feuer greift,
auch wenn dies aus Unwissenheit geschieht. – Die Einrichtung der besprochenen
Seelenvorgänge in der charakterisierten Richtung läßt die
sechzehnblätterige Lotusblume in herrlichen Farben erstrahlen und
gibt ihr eine gesetzmäßige Bewegung. – Doch ist dabei zu beachten,
daß die gekennzeichnete Hellsehergabe nicht früher auftreten
kann, als ein bestimmter Grad von Ausbildung der Seele erlangt ist. Solange
es noch Mühe macht, das Leben in dieser Richtung zu führen, so
lange zeigt sich diese Gabe nicht. Solange man auf die geschilderten Vorgänge
noch besonders achten muß, ist man nicht reif. Erst wenn man es so
weit gebracht hat, daß man in der angegebenen Art lebt, wie es der
Mensch sonst gewohnheitsmäßig tut, dann zeigen sich die ersten
Spuren des Hellsehens. Die Dinge dürfen dann nicht mehr mühevoll
sein, sondern müssen selbstverständliche Lebensart geworden sein.
Man darf nicht nötig haben, sich fortwährend zu beobachten, sich
anzutreiben, daß man so lebe. Alles muß Gewohnheit geworden
sein. – Es gibt gewisse Anweisungen, welche die sechzehnblätterige
Lotusblume auf andere Art zur Entfaltung bringen. Alle solchen Anweisungen
verwirft die wahre Geheimwissenschaft. Denn sie führen zur Zerstörung
der leiblichen Gesundheit und zum moralischen Verderben. Sie sind leichter
durchzuführen als das Geschilderte. Dieses ist langwierig und mühevoll.
Aber es führt zu sicherem Ziele und kann nur moralisch kräftigen.
Die verzerrte Ausbildung einer Lotusblume hat nicht
nur Illusionen und phantastische Vorstellungen im Fall des Auftretens einer
gewissen Hellsehergabe zur Folge, sondern auch Verirrungen und Haltlosigkeit
im gewöhnlichen Leben. Man kann durch eine solche Ausbildung furchtsam,
neidisch, eitel, hochfahrend, eigenwillig und so weiter werden, während
man vorher alle diese Eigenschaften nicht hatte. – Es ist gesagt worden,
daß acht von den Blättern der sechzehnblätterigen Lotusblume
bereits in urferner Vergangenheit entwickelt waren und daß diese
bei der Geheimschulung von selbst wieder auftreten. Es muß nun bei
der Bestrebung des Geheimschülers alle Sorgfalt auf die acht anderen
Blätter verwendet werden. Bei verkehrter Schulung treten leicht die
früher entwickelten allein auf und die neu zu bildenden bleiben verkümmert.
Dies wird insbesondere der Fall sein, wenn bei der Schulung zu wenig auf
logisches, vernünftiges Denken gesehen wird. Es ist von der allergrößten
Wichtigkeit, daß der Geheimschüler ein verständiger, auf
klares Denken haltender Mensch ist. Und von weiterer Wichtigkeit ist, daß
er sich der größten Klarheit befleißigt im Sprechen. Menschen,
die anfangen etwas vom Übersinnlichen zu ahnen, werden gern über
diese Dinge gesprächig. Dadurch halten sie ihre richtige Entwickelung
auf. Je weniger man über diese Dinge redet, desto besser ist es. Erst
wer bis zu einem gewissen Grade der Klarheit gekommen ist, sollte reden.
Im Beginne des Unterrichts sind Geheimschüler
in der Regel erstaunt, wie wenig «neugierig» der schon geistig
Geschulte ist gegenüber den Mitteilungen ihrer Erlebnisse. Am heilsamsten
für sie wäre es eben, wenn sie sich über ihre Erlebnisse
ganz ausschweigen und weiter nichts besprechen wollten, als wie gut oder
wie schlecht es ihnen gelingt, ihre Übungen durchzuführen oder
die Anweisungen zu befolgen. Denn der schon geistig Geschulte hat ganz
andere Quellen zur Beurteilung der Fortschritte als ihre direkten Mitteilungen.
Die acht in Frage kommenden Blätter der sechzehnblätterigen Lotusblume
werden durch solche Mitteilungen immer etwas verhärtet, während
sie weich und biegsam erhalten werden sollten. Es soll ein Beispiel angeführt
werden, um das zu erläutern. Dies möge nicht vom übersinnlichen,
sondern der Deutlichkeit halber vom gewöhnlichen Leben hergenommen
werden. Angenommen, ich höre eine Nachricht und bilde mir darüber
sogleich ein Urteil. In einer kurzen Zeit darauf bekomme ich über
dieselbe Sache eine weitere Nachricht, die mit der ersteren nicht stimmt.
Ich bin dadurch genötigt, das schon gebildete Urteil umzubilden. Die
Folge davon ist ein ungünstiger Einfluß auf meine sechzehnblätterige
Lotusblume. Ganz anders wäre die Sache, wenn ich zuerst mit meinem
Urteil zurückhaltend gewesen wäre, wenn ich zu der ganzen Angelegenheit
innerlich in Gedanken und äußerlich in Worten «geschwiegen»
hätte, bis ich ganz sichere Anhaltspunkte für mein Urteil gehabt
hätte. Behutsamkeit im Bilden und Aussprechen von Urteilen wird allmählich
zum besonderen Kennzeichen des Geheimschülers. Dagegen wächst
seine Empfänglichkeit für Eindrücke und Erfahrungen, die
er schweigsam an sich vorüberziehen läßt, um möglichst
viele Anhaltspunkte sich zu schaffen, wenn er zu urteilen hat. Es sind
bläulich-rötliche und rosenrote Nuancen in den Lotusblumenblättern,
die durch solche Behutsamkeit auftreten, während im anderen Falle
dunkelrote und orangefarbige Nuancen auftreten. In einer ähnlichen
Art wie die sechzehnblättrige [Der Kundige wird in den
Bedingungen für die Entwickelung der sechzehnblätterigen Lotusblume»
wiedererkennen die Anweisungen, welche der Buddha seinen Jüngern für
den «Pfad» gegeben hat. Doch handelt es sich hier nicht darum,
«Buddhismus» zu lehren, sondern Entwickelungsbedingungen zu
schildern, die aus der Geheimwissenschaft selbst sich ergeben. Daß
sie mit gewissen Lehren des Buddha übereinstimmen, kann nicht hindern,
sie an sich für wahr zu finden.] wird auch die zwölfblätterige
Lotusblume, in der Nähe des Herzens, gestaltet. Auch von ihr war die
Hälfte der Blätter in einem vergangenen Entwickelungszustande
des Menschen bereits vorhanden und in Tätigkeit. Diese sechs Blätter
brauchen daher bei der Geheimschulung nicht besonders ausgebildet zu werden;
sie erscheinen von selbst und beginnen sich zu drehen, wenn an den anderen
sechs gearbeitet wird. – Wieder muß, um diese Entwickelung zu fördern,
der Mensch gewissen Seelentätigkeiten in bewußter Weise eine
bestimmte Richtung geben.
Man muß sich nun klarmachen, daß die
Wahrnehmungen der einzelnen geistigen oder Seelensinne einen verschiedenen
Charakter tragen. Die Lotusblume mit zwölf Blättern vermittelt
eine andere Wahrnehmung als die sechzehnblätterige. Diese letztere
nimmt Gestalten wahr. Die Gedankenart, die eine Seele hat, die Gesetze,
nach denen eine Naturerscheinung sich vollzieht, treten für die sechzehnblätterige
Lotusblume in Gestalten auf. Das sind aber nicht starre, ruhige Gestalten,
sondern bewegte, mit Leben erfüllte Formen. Der Hellseher, bei dem
sich dieser Sinn entwickelt hat, kann für jede Gedankenart, für
jedes Naturgesetz eine Form nennen, in denen sie sich ausprägen. Ein
Rachegedanke zum Beispiel kleidet sich in eine pfeilartige, zackige Figur,
ein wohlwollender Gedanke hat oft die Gestalt einer sich öffnenden
Blume und so weiter. Bestimmte, bedeutungsvolle Gedanken sind regelmäßig,
symmetrisch gebildet, unklare Begriffe haben gekräuselte Umrisse.
– Ganz andere Wahrnehmungen treten durch die zwölfblätterige
Lotusblume zutage. Man kann die Art dieser Wahrnehmungen annähernd
charakterisieren, wenn man sie als Seelenwärme und Seelenkälte
bezeichnet. Ein mit diesem Sinn ausgestatteter Hellseher fühlt von
den Figuren, die er durch die sechzehnblätterige Lotusblume wahrnimmt,
solche Seelenwärme oder Seelenkälte ausströmen. Man stelle
sich einmal vor, ein Hellseher hätte nur die sechzehnblätterige,
nicht aber die zwölfblätterige Lotusblume entwickelt. Dann würde
er bei einem wohlwollenden Gedanken nur die oben beschriebene Figur sehen.
Ein anderer, der beide Sinne ausgebildet hat, bemerkt auch noch diejenige
Ausströmung dieses Gedankens, die man eben nur mit Seelenwärme
bezeichnen kann. – Nur nebenbei soll bemerkt werden, daß in der Geheimschulung
nie der eine Sinn ohne den anderen ausgebildet wird, so daß das obige
nur als eine Annahme zur Verdeutlichung anzusehen ist. – Dem Hellseher
eröffnet sich durch die Ausbildung der zwölfblätterigen
Lotusblume auch ein tiefes Verständnis für Naturvorgänge.
Alles, was auf ein Wachsen, Entwickeln begründet ist, strömt
Seelenwärme aus; alles, was in Vergehen, Zerstörung, Untergang
begriffen ist, tritt mit dem Charakter der Seelenkälte auf.
Die Ausbildung dieses Sinnes wird auf folgende Art
gefördert. Das erste, was in dieser Beziehung der Geheimschüler
beobachtet, ist die Regelung seines Gedankenlaufes (die sogenannte Gedankenkontrolle).
So wie die sechzehnblätterige Lotusblume durch wahre bedeutungsvolle
Gedanken zur Entwickelung kommt, so die zwölfblätterige durch
innere Beherrschung des Gedankenverlaufes. Irrlichtelierende Gedanken,
die nicht in sinngemäßer, logischer Weise, sondern rein zufällig
aneinandergefügt sind, verderben die Form dieser Lotusblume. Je mehr
ein Gedanke aus dem anderen folgt, je mehr allem Unlogischen aus dem Wege
gegangen wird, desto mehr erhält dieses Sinnesorgan die ihm entsprechende
Form. Hört der Geheimschüler unlogische Gedanken, so läßt
er sich sogleich das Richtige durch den Kopf gehen. Er soll nicht lieblos
sich einer vielleicht unlogischen Umgebung entziehen, um seine Entwickelung
zu fördern. Er soll auch nicht den Drang in sich fühlen, alles
Unlogische in seiner Umgebung sofort zu korrigieren. Er wird vielmehr ganz
still in seinem Innern die von außen auf ihn einstürmenden Gedanken
in eine logische, sinngemäße Richtung bringen. Und er bestrebt
sich, in seinen eigenen Gedanken überall diese Richtung einzuhalten.
– Ein zweites ist, eine ebensolche Folgerichtigkeit in sein Handeln zu
bringen (Kontrolle der Handlungen). Alle Unbeständigkeit, Disharmonie
im Handeln gereichen der in Rede stehenden Lotusblume zum Verderben. Wenn
der Geheimschüler etwas getan hat, so richtet er sein folgendes Handeln
danach ein, daß es in logischer Art aus dem ersten folgt. Wer heute
im anderen Sinn handelt als gestern, wird nie den charakterisierten Sinn
entwickeln. – Das dritte ist die Erziehung zur Ausdauer. Der Geheimschüler
läßt sich nicht durch diese oder jene Einflüsse von einem
Ziel abbringen, das er sich gesteckt hat, solange er dieses Ziel als ein
richtiges ansehen kann. Hindernisse sind für ihn eine Aufforderung,
sie zu überwinden, aber keine Abhaltungsgründe. – Das vierte
ist die Duldsamkeit (Toleranz) gegenüber Menschen, anderen Wesen und
auch Tatsachen. Der Geheimschüler unterdrückt alle überflüssige
Kritik gegenüber dem Unvollkommenen, Bösen und Schlechten und
sucht vielmehr alles zu begreifen, was an ihn herantritt. Wie die Sonne
ihr Licht nicht dem Schlechten und Bösen entzieht, so er nicht seine
verständnisvolle Anteilnahme. Begegnet dem Geheimschüler irgendein
Ungemach, so ergeht er sich nicht in abfälligen Urteilen, sondern
er nimmt das Notwendige hin und sucht, soweit seine Kraft reicht, die Sache
zum Guten zu wenden. Andere Meinungen betrachtet er nicht nur von seinem
Standpunkte aus, sondern er sucht sich in die Lage des anderen zu versetzen.
– Das fünfte ist die Unbefangenheit gegenüber den Erscheinungen
des Lebens. Man spricht in dieser Beziehung auch von dem «Glauben»
oder «Vertrauen». Der Geheimschüler tritt jedem Menschen,
jedem Wesen mit diesem Vertrauen entgegen. Und er erfüllt sich bei
seinen Handlungen mit solchem Vertrauen. Er sagt sich nie, wenn ihm etwas
mitgeteilt wird: das glaube ich nicht, weil es meiner bisherigen Meinung
widerspricht. Er ist vielmehr in jedem Augenblicke bereit, seine Meinung
und Ansicht an einer neuen zu prüfen und zu berichtigen. Er bleibt
immer empfänglich für alles, was an ihn herantritt. Und er vertraut
auf die Wirksamkeit dessen, was er unternimmt. Zaghaftigkeit und Zweifelsucht
verbannt er aus seinem Wesen. Hat er eine Absicht, so hat er auch den Glauben
an die Kraft dieser Absicht. Hundert Mißerfolge können ihm diesen
Glauben nicht nehmen. Es ist dies jener «Glaube, der Berge zu versetzen
vermag». – Das sechste ist die Erwerbung eines gewissen Lebensgleichgewichtes
(Gleichmutes). Der Geheimschüler strebt an, seine gleichmäßige
Stimmung zu erhalten, ob ihn Leid, ob ihn Erfreuliches trifft. Das Schwanken
zwischen «himmelhochjauchzend, zu Tode betrübt» gewöhnt
er sich ab. Das Unglück, die Gefahr finden ihn ebenso gewappnet wie
das Glück, die Förderung.
Die Leser von geisteswissenschaftlichen Schriften
finden das Geschilderte als die sogenannten «sechs Eigenschaften»
aufgezählt, welche der bei sich entwickeln muß, der die Einweihung
anstrebt. Hier sollte ihr Zusammenhang mit dem seelischen Sinne dargelegt
werden, welcher die zwölfblätterige Lotusblume genannt wird.
– Die Geheimschulung vermag wieder besondere Anweisungen zu geben, welche
diese Lotusblume zum Reifen bringen, aber auch hier hängt die Ausbildung
der regelmäßigen Form dieses Sinnesorganes an der Entwickelung
der aufgezählten Eigenschaften. Wird diese Entwickelung außer
acht gelassen, dann gestaltet sich dieses Organ zu einem Zerrbilde. Und
es können dadurch bei Ausbildung einer gewissen Hellsehergabe in dieser
Richtung die genannten Eigenschaften sich statt zum Guten zum Schlechten
wenden. Der Mensch kann besonders unduldsam, zaghaft, ablehnend gegen seine
Umgebung werden. Er kann zum Beispiel eine Empfindung erhalten für
Gesinnungen anderer Seelen und diese deswegen fliehen oder hassen. Es kann
so weit kommen, daß er wegen der Seelenkälte, die ihn bei Ansichten
überströmt, welche ihm widerstreben, gar nicht zuhören kann
oder in abstoßender Art sich gebärdet.
Kommt zu allem Gesagten noch die Beobachtung gewisser
Vorschriften hinzu, welche Geheimschüler von Geheimlehrern nur mündlich
empfangen können, so tritt eine entsprechende Beschleunigung in der
Entwickelung der Lotusblume ein. Döch führen die hier gegebenen
Anweisungen durchaus in die wirkliche Geheimschulung ein. Nützlich
aber ist auch für den, der nicht eine Geheimschulung durchmachen will
oder kann, die Einrichtung des Lebens in der arigegebenen Richtung. Denn
die Wirkung auf den Seelenorganistaus tritt auf alle Fälle ein, wenn
auch langsam. Und für den Geheimschüler ist die Beobachtung dieser
Grundsätze unerläßlich. – Würde er eine Geheimschulung
versuchen, ohne sie einzuhalten, so könnte er nur mit mangelhaftem
Gedankenauge in die höheren Welten eintreten; und statt die Wahrheit
zu erkennen, würde er dann nur Täuschungen und Illusionen unterworfen
sein. Er würde in einer gewissen Beziehung hellsehend werden; aber
im Grunde nur größerer Blindheit unterliegen als vorher. Denn
ehedem stand er wenigstens innerhalb der Sinnenwelt fest und hatte an ihr
einen bestimmten Halt; jetzt aber sieht er hinter die Sinnenwelt und wird
an dieser irre, bevor er sicher in einer höheren Welt steht. Er kann
dann vielleicht überhaupt nicht mehr Wahrheit von Irrtum unterscheiden
und verliert alle Richtung im Leben. –Gerade aus diesem Grunde ist Geduld
so nötig in diesen Dingen. Man muß immer bedenken, daß
die Geisteswissenschaft nicht weiter mit ihren Anweisungen gehen darf,
als volle Willigkeit zu einer geregelten Entwickelung der «Lotusblumen»
vorliegt. Es würden sich wahre Zerrbilder dieser Blumen entwickeln,
wenn sie zur Reife gebracht würden, bevor sie in ruhiger Weise
die ihnen zukommende Form erlangt haben. Denn die speziellen Anweisungen
der Geisteswissenschaft bewirken das Reifwerden, die Form aber wird
durch die geschilderte Lebensart ihnen gegeben.
Von besonders feiner Art ist die Seelenpflege, die
zur Entwickelung der zehnblätterigen Lotusblume notwendig ist. Denn
hier handelt es sich darum, die Sinneseindrücke selbst in bewußter
Weise beherrschen zu lernen Für den angehenden Hellseher ist das ganz
besonders nötig. Nur dadurch vermag er einen Quell zahlloser Illusionen
und geistiger Willkürlichkeiten zu vermeiden. Der Mensch macht sich
gewöhnlich gar nicht klar, von welchen Dingen seine Einfälle,
seine Erinnerungen beherrscht sind und wodurch sie hervorgerufen werden.
Man nehme folgenden Fall an. Jemand fährt in der Eisenbahn. Er ist
mit einem Gedanken beschäftigt. Plötzlich nimmt sein Gedanke
eine ganz andere Wendung. Er erinnert sich an ein Erlebnis, das er vor
Jahren gehabt hat, und verspinnt es mit seinen gegenwärtigen Gedanken.
Er hat nun aber gar nicht bemerkt, daß sein Auge zum Fenster hinausgerichtet
und der Blick auf eine Person gerichtet war, welche Ähnlichkeit hatte
mit einer anderen, die in das erinnerte Erlebnis hineinverwickelt war.
Was er gesehen hat, kommt ihm gar nicht zum Bewußtsein, sondern nur
die Wirkung. So glaubt er, daß ihm die Sache «von selbst eingefallen»
sei. Wieviel im Leben kommt nicht auf solche Art zustande. Wie spielen
in unser Leben Dinge hinein, die wir erfahren und gelesen haben, ohne daß
man sich den Zusammenhang ins Bewußtsein bringt. Jemand kann zum
Beispiel eine bestimmte Farbe nicht leiden; er weiß aber gar nicht,
daß dies deshalb der Fall ist, weil der Lehrer, der ihn vor vielen
Jahren gequält hat, einen Rock in dieser Farbe gehabt hat. Unzählige
Illusionen beruhen auf solchen Zusammenhängen. Viele Dinge prägen
sich der Seele ein, ohne daß sie auch dem Bewußtsein einverleibt
werden. Es kann folgender Fall vorkommen. Jemand liest in der Zeitung von
dem Tode einer bekannten Persönlichkeit. Und nun behauptet er ganz
fest, er habe diesen Todesfall schon «gestern» vorausgeahnt,
obgleich er nichts gehört und gesehen habe, was ihn auf diesen Gedanken
hätte bringen können. Und es ist wahr, wie «von selbst»
ist ihm «gestern» der Gedanke aufgetaucht: die betreffende
Person werde sterben. Er hat nur eines nicht beachtet. Er ist ein paar
Stunden, bevor ihm «gestern» der Gedanke aufgestoßen
ist, bei einem Bekannten zu Besuch gewesen. Auf dem Tisch lag ein
Zeitungsblatt. Er hat darin nicht gelesen. Aber unbewußt fiel
doch sein Auge auf die Nachricht von der schweren Erkrankung der in Rede
stehenden Persönlichkeit. Des Eindruckes ist er sich nicht bewußt
geworden. Aber die Wirkung war die «Ahnung». – Wenn man sich
solche Dinge überlegt, so kann man ermessen, was für eine Quelle
von Illusionen und Phantastereien in solchen Verhältnissen liegt.
Und diese Quelle muß derjenige verstopfen, der seine zehnblätterige
Lotusblume ausbilden will. Denn durch diese Lotusblume kann man tief verborgene
Eigenschaften an Seelen wahrnehmen. Aber Wahrheit ist diesen Wahrnehmungen
nur dann beizumessen, wenn man von den gekennzeichneten Täuschungen
ganz frei geworden ist. Es ist zu diesem Zwecke notwendig, daß man
sich zum Herrn über das macht, was von der Außenwelt auf einen
einwirkt. Man muß es dahin bringen, daß Eindrücke, die
man nicht empfangen will, man auch wirklich nicht empfängt.
Solch eine Fähigkeit kann nur durch ein starkes Innenleben herangezogen
werden. Man muß es in den Willen bekommen, daß man nur die
Dinge auf sich wirken läßt, auf die man die Aufmerksamkeit wendet,
und daß man sich Eindrücken wirklich entzieht, an die man sich
nicht willkürlich wendet. Was man sieht, muß man sehen wollen,
und worauf man keine Aufmerksamkeit wendet, muß tatsächlich
für einen nicht da sein. Je lebhafter, energischer die innere Arbeit
der Seele wird, desto mehr wird man das erreichen. – Der Geheimschüler
muß alles gedankenlose Herumschauen und Herumhören vermeiden.
Für ihn soll nur da sein, worauf er Ohr und Auge richtet. Er muß
sich darin üben, daß er im größten Trubel nichts
zu hören braucht, wenn er nicht hören will; er soll sein Auge
unempfänglich machen für Dinge, auf die er nicht besonders hinschaut.
Wie mit einem seelischen Panzer muß er umgeben sein für alle
unbewußten Eindrücke. – Besonders auf das Gedankenleben selbst
muß er nach dieser Richtung hin Sorgfalt verwenden. Er setzt sich
einen Gedanken vor, und er versucht nur das weiterzudenken, was er ganz
bewußt, in völliger Freiheit, an diesen Gedanken angliedern
kann. Beliebige Einfälle weist er ab. Will er den Gedanken mit irgendeinem
andern in Beziehung setzen, so besinnt er sich sorgfältig, wo dieser
andere an ihn herangetreten ist. – Er geht noch weiter. Wenn er zum Beispiel
eine bestimmte Antipathie gegen irgend etwas hat, so bekämpft er sie
und sucht eine bewußte Beziehung zu dem betreffenden Dinge
herzustellen. Auf diese Art mischen sich immer weniger unbewußte
Elemente in sein Seelenleben hinein. Nur durch solche strenge Selbstzucht
erlangt die zehnblätterige Lotusblume die Gestalt, die sie haben sollte.
Das Seelenleben des Geheimschülers muß ein Leben in Aufmerksamkeit
werden, und worauf man keine Aufmerksamkeit verwenden will oder soll, das
muß man sich wirklich fernzuhalten wissen. – Tritt zu einer solchen
Selbstzucht eine Meditation, welche den Anweisungen der Geisteswissenschaft
entspricht, dann kommt die in der Gegend der Magengrube befindliche Lotusblume
in der richtigen Weise zum Reifen, und das, was durch die vorher geschilderten
geistigen Sinnesorgane nur Form und Wärme hatte, erhält geistig
Licht und Farbe. Und dadurch enthüllen sich zum Beispiel Talente und
Fähigkeiten von Seelen, Kräfte und verborgene Eigenschaften in
der Natur. Die Farbenaura der belebten Wesen wird dadurch sichtbar; das,
was um uns ist, kündigt dadurch seine seelenhaften Eigenschaften an.
– Man wird zugeben, daß gerade in der Entwickelung auf diesem Gebiete
die allergrößte Sorgfalt notwendig ist, denn das Spiel unbewußter
Erinnerungen ist hier ein unermeßlich reges. Wäre das nicht
der Fall, so würden viele Menschen gerade den hier in Frage kommenden
Sinn haben, denn er tritt fast sogleich auf, wenn der Mensch wirklich die
Eindrücke seiner Sinne ganz und gar so in seiner Gewalt hat, daß
sie nur mehr seiner Aufmerksamkeit oder Unaufmerksamkeit unterworfen sind.
Nur solange die Macht der äußeren Sinne diesen seelischen Sinn
in Dämpfung und Dumpfheit erhält, bleibt er unwirksam.
Schwieriger als die Ausbildung der beschriebenen
Lotusblume ist diejenige der sechsblätterigen, welche sich in der
Körpermitte befindet. Denn zu dieser Ausbildung muß die vollkommene
Beherrschung des ganzen Menschen durch das Selbstbewußtsein angestrebt
werden, so daß bei ihm Leib, Seele und Geist in einer vollkommenen
Harmonie sind. Die Verrichtungen des Leibes, die Neigungen und Leidenschaften
der Seele, die Gedanken und Ideen des Geistes müssen in einen vollkommenen
Einklang miteinander gebracht werden. Der Leib muß so veredelt und
geläutert werden, daß seine Organe zu nichts drängen, was
nicht im Dienste der Seele und des Geistes geschieht. Die Seele soll durch
den Leib nicht zu Begierden und Leidenschaften gedrängt werden, die
einem reinen und edlen Denken widersprechen. Der Geist aber soll nicht
wie ein Sklavenhalter mit seinen Pflichtgeboten und Gesetzen über
die Seele herrschen müssen; sondern diese soll aus eigener freier
Neigung den Pflichten und Geboten folgen. Nicht wie etwas, dem er sich
widerwillig fügt, soll die Pflicht über dem Geheimschüler
schweben, sondern wie etwas, das er vollführt, weil er es liebt. Eine
freie Seele, die im Gleichgewichte zwischen Sinnlichkeit und Geistigkeit
steht, muß der Geheimschüler entwickeln. Er muß es dahin
bringen, daß er sich seiner Sinnlichkeit überlassen darf, weil
diese so geläutert ist, daß sie die Macht verloren hat, ihn
zu sich herabzuziehen. Er soll es nicht mehr nötig haben, seine Leidenschaften
zu zügeln, weil diese von selbst dem Rechten folgen. Solange der Mensch
es nötig hat, sich zu kasteien, kann er nicht Geheimschüler auf
einer gewissen Stufe sein. Eine Tugend, zu der man sich erst zwingen muß,
ist für die Geheimschülerschaft noch wertlos. Solange man eine
Begierde noch hat, stört diese die Schülerschaft, auch wenn man
sich bemüht, ihr nicht zu willfahren. Und es ist einerlei, ob diese
Begierde mehr dem Leibe oder mehr der Seele angehört. Wenn jemand
zum Beispiel ein bestimmtes Reizmittel vermeidet, um durch die Entziehung
des Genusses sich zu läutern, so hilft ihm dies nur dann, wenn sein
Leib durch diese Enthaltung keine Beschwerden erleidet. Ist letzteres der
Fall, so zeigt es, daß der Leib das Reizmittel begehrt, und
die Enthaltung ist wertlos. In diesem Falle kann es eben durchaus sein,
daß der Mensch zunächst auf das angestrebte Ziel verzichten
muß und warten, bis günstigere sinnliche Verhältnisse –
vielleicht erst in einem anderen Leben – für ihn vorliegen. Ein vernünftiger
Verzicht ist in einer gewissen Lage eine viel größere Errungenschaft
als das Erstreben einer Sache, die unter gegebenen Verhältnissen eben
nicht zu erreichen ist. Ja, es fördert solch ein vernünftiger
Verzicht die Entwickelung mehr als das Entgegengesetzte.
Wer die sechsblätterige Lotusblume entwickelt
hat, der gelangt zum Verkehr mit Wesen, die den höheren Welten angehören,
jedoch nur dann, wenn deren Dasein sich in der Seelenwelt zeigt. Die Geheimschulung
empfiehlt aber nicht eine Entwickelung dieser Lotusblume, bevor der Schüler
nicht auf dem Wege weit vorgeschritten ist, durch den er seinen Geist
in eine noch höhere Welt erheben kann. Dieser Eintritt in die
eigentliche Geisteswelt muß nämlich immer die Ausbildung der
Lotusblumen begleiten. Sonst gerät der Schüler in Verwirrung
und Unsicherheit. Er würde zwar sehen lernen, aber es fehlte
ihm die Fähigkeit, das Gesehene in der richtigen Weise zu beurteilen.
– Nun liegt schon in dem, was zur Ausbildung der sechsblätterigen
Lotusblume verlangt wird, eine gewisse Bürgschaft gegen Verwirrung
und Haltlosigkeit. Denn nicht leicht wird jemand in diese Verwirrung zu
bringen sein, der das vollkommene Gleichgewicht zwischen Sinnlichkeit (Leib),
Leidenschaft (Seele) und Idee (Geist) erlangt hat. Dennoch ist noch mehr
notwendig als diese Bürgschaft, wenn durch Entwickelung der sechsblätterigen
Lotusblume dem Menschen Wesen mit Leben und Selbständigkeit wahrnehmbar
werden, welche einer Welt angehören, die von derjenigen seiner physischen
Sinne so durchaus verschieden ist. Um Sicherheit in diesen Welten zu haben,
genügt ihm nicht das Ausbilden der Lotusblumen, sondern er muß
da noch höhere Organe zu seiner Verfügung haben. Es soll nun
über die Entwickelung dieser noch höheren Organe gesprochen werden;
dann kann auch von den anderen Lotusblumen und der anderweitigen Organisation
des Seelenleibes [Es ist selbstverständlich, daß,
dem Wortsinne nach, der Ausdruck «Seelenleib» (wie mancher
ähnliche der Geisteswissenschaft) einen Widerspruch enthält.
Doch wird dieser Ausdruck gebraucht, weil das hellseherische Erkennen etwas
wahrnimmt, was so im Geistigen erlebt wird, wie im Physischen der Leib
wahrgenommen wird.] die Rede sein.
*
Die Ausbildung des Seelenleibes, wie sie eben geschildert
worden ist, macht dem Menschen möglich, übersinnliche Erscheinungen
wahrzunehmen. Wer sich aber in dieser Welt wirklich zurechtfinden will,
der darf nicht auf dieser Stufe der Entwickelung stehenbleiben. Die bloße
Beweglichkeit der Lotusblumen genügt nicht. Der Mensch muß in
der Lage sein, die Bewegung seiner geistigen Organe selbständig, mit
vollem Bewußtsein zu regeln und zu beherrschen. Er würde sonst
ein Spielball äußerlicher Kräfte und Mächte werden.
Soll er das nicht werden, so muß er sich die Fähigkeit erwerben,
das sogenannte «innere Wort» zu vernehmen. Um dazu zu kommen,
muß nicht nur der Seelenleib, sondern auch der Ätherleib entwickelt
werden. Es ist dies jener feine Leib, der sich für den Hellseher als
eine Art Doppelgänger des physischen Körpers zeigt. Er ist gewissermaßen
eine Zwischenstufe zwischen diesem Körper und dem Seelenleib. [Man
vergleiche zu dieser Darstellung die Schilderung in des Verfassers «Theosophie».]
Ist man mit hellseherischen Fähigkeiten begabt, so kann man sich mit
vollem Bewußtsein den physischen Körper eines Menschen, der
vor einem steht, absuggerieren. Es ist das auf einer höheren Stufe
nichts anderes als eine Übung der Aufmerksamkeit auf einer niedrigeren.
So wie der Mensch seine Aufmerksamkeit von etwas, das vor ihm ist, ablenken
kann, so daß es für ihn nicht da ist, so vermag der Hellseher
einen physischen Körper für seine Wahrnehmung ganz auszulöschen,
so daß er für ihn physisch ganz durchsichtig wird. Vollführt
er das mit einem Menschen, der vor ihm steht, dann bleibt vor seinem seelischen
Auge noch der sogenannte Ätherleib vorhanden, außer dem Seelenleibe,
der größer als beide ist und der auch beide durchdringt. Der
Atherleib hat annähernd die Größe und Form des physischen
Leibes, so daß er ungefähr auch denselben Raum ausfüllt,
den auch der physische Körper einnimmt. Er ist ein äußerst
zart und fein organisiertes Gebilde. [Den Physiker bitte
ich, sich an dem Ausdruck «Atherleib» nicht zu stoßen.
Mit dem Worte «Äther» soll nur die Feinheit des in Betracht
kommenden Gebildes angedeutet werden. Mit dem «Äther»
der physikalischen Hypothesen braucht das hier Angeführte zunächst
gar nicht zusammengebracht werden.] Seine Grundfarbe ist eine andere
als die im Regenbogen enthaltenen sieben Farben. Wer ihn beobachten kann,
lernt eine Farbe kennen, die für die sinnliche Beobachtung eigentlich
gar nicht vorhanden ist. Sie läßt sich am ehesten mit der Farbe
der jungen Pfirsichblüte vergleichen. Will man den Ätherleib
ganz allein für sich betrachten, so muß man auch die Erscheinung
des Seelenleibes für die Beobachtung auslöschen durch eine ähnlich
geartete Übung der Aufmerksamkeit wie die oben gekennzeichnete. Tut
man dies nicht, dann verändert sich der Anblick des Ätherleibes
durch den ihn ganz durchdringenden Seelenleib.
Nun sind beim Menschen die Teilchen des Ätherleibes
in einer fortwährenden Bewegung. Zahllose Strömungen durchziehen
ihn nach allen Seiten. Durch diese Strömungen wird das Leben unterhalten
und geregelt. Jeder Körper, der lebt, hat einen solchen Ätherleib.
Die Pflanzen und die Tiere haben ihn auch. Ja, selbst bei den Mineralien
sind Spuren für den aufmerksamen Beobachter wahrnehmbar. – Die genannten
Strömungen und Bewegungen sind zunächst von dem Willen und Bewußtsein
des Menschen ganz unabhängig, wie die Tätigkeit des Herzens oder
Magens im physischen Körper von der Willkür nicht abhängig
ist. – Und solange der Mensch seine Ausbildung im Sinne der Erwerbung übersinnlicher
Fähigkeiten nicht in die Hand nimmt, bleibt diese Unabhängigkeit
auch bestehen. Denn gerade darin besteht die höhere Entwickelung auf
einer gewissen Stufe, daß zu den vom Bewußtsein unabhängigen
Strömungen und Bewegungen des Ätherleibes solche hinzutreten,
welche der Mensch in bewußter Weise selbst bewirkt.
Wenn die Geheimsehulung so weit gekommen ist, daß
die in den vorhergehenden Abschnitten gekennzeichneten Lotusblumen sich
zu bewegen beginnen, dann hat der Schüler auch bereits manches von
dem vollzogen, was zur Hervorrufung ganz bestimmter Strömungen und
Bewegungen in seinem Ätherkörper führt. Der Zweck dieser
Entwickelung ist, daß sich in der Gegend des physischen Herzens eine
Art Mittelpunkt bildet, von dem Strömungen und Bewegungen in den mannigfaltigsten
geistigen Farben und Formen ausgehen. Dieser Mittelpunkt ist in Wirklichkeit
kein bloßer Punkt, sondern ein ganz kompliziertes Gebilde, ein wunderbares
Organ. Es leuchtet und schillert geistig in den allerverschiedensten Farben
und zeigt Formen von großer Regelmäßigkeit, die sich mit
Schnelligkeit verändern können. Und weitere Formen und Farbenströmungen
laufen von diesem Organ nach den Teilen des übrigen Körpers und
auch noch über diesen hinaus, indem sie den ganzen Seelenleib durchziehen
und durchleuchten. Die wichtigsten dieser Strömungen aber gehen zu
den Lotusblumen. Sie durchziehen die einzelnen Blätter derselben und
regeln ihre Drehung; dann strömen sie an den Spitzen der Blätter
nach außen, um sich im äußeren Raum zu verlieren. Je entwickelter
ein Mensch ist, desto größer wird der Umkreis, in dem sich diese
Strömungen verbreiten.
In einer besonders nahen Beziehung steht die zwölfblätterige
Lotusblume zu dem geschilderten Mittelpunkte. In sie laufen unmittelbar
die Strömungen ein. Und durch sie hindurch gehen auf der einen Seite
Strömungen zu der sechzehnblätterigen und der zweiblätterigen,
auf der anderen (unteren) Seite zu den acht-, sechs- und vierblätterigen
Lotusblumen. In dieser Anordnung liegt der Grund, warum auf die Ausbildung
der zwölfblätterigen Lotusblume bei der Geheimschulung eine ganz
besondere Sorgfalt verwendet werden muß. Würde hier etwas verfehlt,
so müßte die ganze Ausbildung des Apparates eine unordentliche
sein. – Man kann aus dem Gesagten ermessen, von wie zarter und intimer
Art die Geheimschulung ist und wie genau man vorgehen muß, wenn alles
in gehöriger Weise sich entwickeln soll. Ohne weiteres ist hieraus
auch ersichtlich, daß nur derjenige über Anweisung zur Ausbildung
übersinnlicher Fähigkeiten reden kann, der alles, was er an einem
anderen ausbilden soll, selbst an sich erfahren hat und der vollkommen
in der Lage ist zu erkennen, ob seine Anweisungen auch zu dem ganz richtigen
Erfolge führen.
Wenn der Geheimschüler das ausführt, was
ihm durch die Anweisungen vorgeschrieben wird, dann bringt er seinem Ätherleib
solche Strömungen und Bewegungen bei, welche in Harmonie stehen mit
den Gesetzen und der Entwickelung der Welt, zu welcher der Mensch gehört.
Daher sind die Anweisungen stets ein Abbild der großen Gesetze der
Weltentwickelung. Sie bestehen in den erwähnten und ähnlichen
Meditations- und Konzentrationsübungen, welche, gehörig angewendet,
die geschilderten Wirkungen haben. Der Geistesschüler muß in
gewissen Zeiten seine Seele ganz mit dem Inhalte der Übungen durchdringen,
sich innerlich gleichsam ganz damit ausfüllen. Mit Einfachem beginnt
es, was vor allem geeignet ist, das verständige und vernünftige
Denken des Kopfes zu vertiefen, zu verinnerlichen. Dieses Denken wird dadurch
frei und unabhängig gemacht von allen sinnlichen Eindrücken und
Erfahrungen. Es wird gewissermaßen in einen Punkt zusammengefaßt,
welchen der Mensch ganz in seiner Gewalt hat. Dadurch wird ein vorläufiger
Mittelpunkt geschaffen für die Strömungen des Ätherleibes.
Dieser Mittelpunkt ist zunächst noch nicht in der Herzgegend, sondern
im Kopfe. Dem Hellseher zeigt er sich dort als Ausgangspunkt von Bewegungen.
– Nur eine solche Geheimsehulung hat den vollen Erfolg, welche zuerst diesen
Mittelpunkt schafft. Würde gleich vom Anfang an der Mittelpunkt in
die Herzgegend verlegt, so könnte der angehende Hellseher zwar gewisse
Einblicke in die höheren Welten tun; er könnte aber keine richtige
Einsicht in den Zusammenhang dieser höheren Welten mit unserer sinnlichen
gewinnen. Und dies ist für den Menschen auf der gegenwärtigen
Stufe der Weltentwickelung eine unbedingte Notwendigkeit. Der Hellseher
darf nicht zum Schwärmer werden; er muß den festen Boden
unter den Füßen behalten.
Der Mittelpunkt im Kopfe wird dann, wenn er gehörig
befestigt ist, weiter nach unten verlegt, und zwar in die Gegend des Kehlkopfes.
Das wird im weiteren Anwenden der Konzentrationsübungen bewirkt. Dann
strahlen die charakterisierten Bewegungen des Ätherleibes von dieser
Gegend aus. Sie erleuchten den Seelenraum in der Umgebung des Menschen.
Ein weiteres Üben befähigt den Geheimschüler,
die Lage seines Ätherleibes selbst zu bestimmen. Vorher ist diese
Lage von den Kräften abhängig, die von außen kommen und
vom physischen Körper ausgehen. Durch die weitere Entwickelung wird
der Mensch imstande, den Ätherleib nach allen Seiten zu drehen. Diese
Fähigkeit wird durch Strömungen bewirkt, welche ungefähr
längs der beiden Hände verlaufen und die ihren Mittelpunkt in
der zweiblätterigen Lotusblume in der Augengegend haben. Alles dies
kommt dadurch zustande, daß sich die Strahlungen, die vom Kehlkopf
ausgehen, zu runden Formen gestalten, von denen eine Anzahl zu der zweiblätterigen
Lotusblusne hingehen, um von da aus als wellige Strömungen den Weg
längs der Hände zu nehmen. – Eine weitere Folge besteht darin,
daß sich diese Ströme in der feinsten Art verästeln und
verzweigen und zu einer Art Geflecht werden, das wie ein Netzwerk (Netzhaut)
zur Grenze des ganzen Ätherleibes sich umbildet. Während dieser
vorher nach außen keinen Abschluß hatte, so daß die Lebensströme
aus dem allgemeinen Lebensmeer unmittelbar aus- und einströmten, müssen
jetzt die Einwirkungen von außen dieses Häutehen durchlaufen.
Dadurch wird der Mensch für diese äußeren Strömungen
empfindlich. Sie werden ihm wahrnehmbar. – Nunmehr ist auch der Zeitpunkt
gekommen, um dem ganzen Strom- und Bewegungssystem den Mittelpunkt in der
Herzgegend zu geben. Das geschieht wieder düreh die Fortsetzung der
Konzentrations- und Meditationsübung. Und damit ist auch die Stufe
erreicht, auf welcher der Mensch mit dem «inneren Wort»
begabt wird. Alle Dinge erhalten nunmehr für den Menschen eine
neue Bedeutung. Sie werden gewissermaßen in ihrem innersten Wesen
geistig hörbar; sie sprechen von ihrem eigentlichen Wesen zu dem Menschen.
Die gekennzeichneten Strömungen setzen ihn mit dem Innern der Welt
in Verbindung, zu welcher er gehört. Er beginnt das Leben seiner Umgebung
mitzuerleben und kann es in der Bewegung seiner Lotusblumen nachklingen
lassen.
Damit betritt der Mensch die geistige Welt. Ist
er so weit, so gewinnt er ein neues Verständnis für dasjenige,
was die großen Lehrer der Menschheit gesprochen haben. Buddhas Reden
und die Evangelien zum Beispiel wirken jetzt in einer neuen Art auf ihn
ein. Sie durchströmen ihn mit einer Seligkeit, die er vorher nicht
geahnt hat. Denn der Ton ihrer Worte folgt den Bewegungen und Rhythmen,
die er nun selbst in sich ausgebildet hat. Er kann es jetzt unmittelbar
wissen, daß ein solcher Mensch wie Buddha oder die Evangeliensehreiber
nicht ihre Offenbarungen, sondern diejenigen aussprechen, welche
ihnen zugeflossen sind vom innersten Wesen der Dinge. – Es soll hier auf
eine Tatsache aufmerksam gemacht werden, die wohl nur aus dem Vorhergehenden
verständlich wird. Den Menschen unserer gegenwärtigen Bildungsstufe
sind die vielen Wiederholungen in Buddhas Reden nicht recht begreiflich.
Dem Geheimschüler werden sie zu etwas, worauf er gern mit seinem inneren
Sinne ruht. Denn sie entsprechen gewissen Bewegungen rhythmischer Art im
Ätherleib. Die Hingabe an sie in vollkommener innerer Ruhe bewirkt
auch ein Zusammenklingen mit solchen Bewegungen. Und weil diese Bewegungen
ein Abbild sind bestimmter Weltrhythmen, die auch in gewissen Punkten Wiederholung
und regelmäßige Rückkehr zu früheren darstellen, so
lebt sich im Hinhören auf die Weise Buddhas der Mensch in den Zusammenhang
mit den Weltgeheimnissen hinein.
In der Geisteswissenschaft wird von vier Eigenschaften
gesprochen, welche sich der Mensch auf dem sogenannten Prüfungspfade
erwerben muß, um zu höherer Erkenntnis aufzusteigen. Es ist
die erste davon die Fähigkeit, in den Gedanken das Wahre von
der Erscheinung zu scheiden, die Wahrheit von der bloßen Meinung.
Die zweite Eigenschaft ist die richtige Schätzung des Wahren
und Wirklichen gegenüber der Erscheinung. Die dritte Fähigkeit
besteht in der – schon im vorigen Kapitel erwähnten – Ausübung
der sechs Eigenschaften: Gedankenkontrolle, Kontrolle der Handlungen, Beharrlichkeit,
Duldsamkeit, Glaube und Gleichmut. Die vierte ist die Liebe zur
inneren Freiheit.
Ein bloßes verstandesmäßiges Begreifen
dessen, was in diesen Eigenschaften liegt, nützt gar nichts. Sie müssen
der Seele so einverleibt werden, daß sie innere Gewohnheiten begründen.
Man nehme zum Beispiel die erste Eigenschaft: Die Unterscheidung des Wahren
von der Erscheinung. Der Mensch muß sich so schulen, daß er
bei jeglichem Dinge, das ihm gegenübertritt, ganz wie selbstverständlich
unterscheidet zwischen dem, was unwesentlich ist, und dem, was Bedeutung
hat. Man kann sich so nur schulen, wenn man in aller Ruhe und Geduld bei
seinen Beobachtungen der Außenwelt immer wieder die dahin gehenden
Versuche macht. Zuletzt haftet in natürlicher Weise der Blick ebenso
an dem Wahren, wie er vorher an dem Unwesentlichen sich befriedigt hat.
«Alles Vergängliche ist nur ein Gleichnis»: diese Wahrheit
wird zu einer selbstverständlichen Überzeugung der Seele. Und
so wird es mit den anderen der genannten vier Eigenschaften zu halten sein.
Nun verwandelt sich tatsächlich der feine Ätherleib
des Menschen unter dem Einfluß dieser vier Seelengewohnheiten. Durch
die erste «Unterscheidung des Wahren von der Erscheinung» wird
der gekennzeichnete Mittelpunkt im Kopfe erzeugt und der im Kehlkopf vorbereitet.
Zur wirklichen Ausbildung sind dann allerdings die Konzentrationsübungen
notwendig, von denen oben gesprochen worden ist. Sie bilden aus, und die
vier Gewohnheiten bringen zur Reife. – Ist der Mittelpunkt in der Gegend
des Kehlkopfes vorbereitet, dann wird jene angedeutete freie Beherrschung
des Ätherleibes und sein Überziehen und Begrenzen mit dem Netzhautgeflecht
bewirkt durch die richtige Schätzung des Wahren gegenüber
der unwesentlichen Erscheinung. Bringt es der Mensch zu solcher Schätzung,
dann werden ihm allmählich die geistigen Tatsachen wahrnehmbar. Er
soll aber nicht glauben, daß er bloß Handlungen zu vollziehen
hat, welche vor einer verstandesmäßigen Schätzung als bedeutungsvoll
erscheinen. Die geringste Handlung, jeder kleine Handgriff hat etwas Bedeutungsvolles
im großen Haushalte des Weltganzen, und es kommt nur darauf an, ein
Bewußtsein von dieser Bedeutung zu haben. Nicht auf Unterschätzung,
sondern auf riditige Einschätzung der alltäglichen Verrichtungen
des Lebens kommt es an. – Von den sechs Tugenden, aus denen sich die dritte
Eigenschaft zusammensetzt, ist bereits gesprochen worden. Sie hängen
zusammen mit der Ausbildung der zwölf blätterigen Lotusblume
in der Herzgegend. Dahin muß ja, wie gezeigt worden ist, in der Tat
der Lebensstrom des Ätherleibes geleitet werden. Die vierte Eigenschaft:
das Verlangen nach Befreiung, dient dann dazu, das Ätherorgan
in der Nähe des Herzens zur Reifung zu bringen. Wird diese Eigenschaft
zur Seelengewohnheit, dann befreit sich der Mensch von allem, was
nur mit den Fähigkeiten seiner persönlichen Natur zusammenhängt.
Er hört auf, die Dinge von seinem Sonderstandpunkte aus zu
betrachten. Die Grenzen seines engen Selbst, die ihn an diesen Standpunkt
fesseln, verschwinden. Die Geheimnisse der geistigen Welt erhalten Zugang
zu seinem Inneren. Dies ist die Befreiung. Denn jene Fesseln zwingen den
Menschen, die Dinge und Wesen so anzusehen, wie es seiner persönlichen
Art entspricht. Von dieser persönlichen Art, die Dinge zu betrachten,
muß der Geheimschüler unabhängig, frei werden.
Man sieht hieraus, daß die Vorschriften, welche
von der Geisteswissenschaft ausgehen, tief in die innerste Menschennatur
hinein bestimmend wirken. Und die Vorschriften über die vier genannten
Eigenschaften sind solche Vorschriften. Sie finden sich in der einen oder
der anderen Form in allen mit der Geisteswelt rechnenden Weltanschauungen.
Nicht aus einem dunklen Gefühl heraus haben die Begründer solcher
Weltanschauungen solche Vorschriften den Menschen gegeben. Sie haben das
vielmehr aus dem Grunde getan, weil sie große Eingeweihte waren.
Aus der Erkenntnis heraus haben sie ihre sittlichen Vorschriften geformt.
Sie wußten, wie diese auf die feinere Natur des Menschen wirken,
und wollten, daß die Bekenner diese feinere Natur allmählich
zur Ausbildung bringen. Im Sinne solcher Weltanschauungen leben, heißt
an seiner eigenen geistigen Vervollkommnung arbeiten. Und nur wenn der
Mensch das tut, dient er dem Weltganzen. Sich vervollkommnen ist keineswegs
Selbstsucht. Denn der unvollkommene Mensch ist auch ein unvollkommener
Diener der Menschheit und der Welt. Man dient dem Ganzen um so besser,
je vollkommener man selbst ist. Hier gilt es: «Wenn die Rose selbst
sich schmückt, schmückt sie auch den Garten.»
Die Begründer der bedeutungsvollen Weltanschauungen
sind dadurch die großen Eingeweihten. Das, was von ihnen kommt, fließt
in die Menschenseelen hinein. Und dadurch kommt mit der Menschheit die
ganze Welt vorwärts. Ganz bewußt haben die Eingeweihten an diesem
Entwickelungsprozeß der Menschheit gearbeitet. Nur dann versteht
man den Inhalt ihrer Anweisungen, wenn man beachtet, daß diese aus
der Erkenntnis der tiefinnersten Menschennatur heraus geschöpft sind.
Große Erkenner waren die Eingeweihten, und aus ihrer Erkenntnis
heraus haben sie die Ideale der Menschheit geprägt. Der Mensch aber
kommt diesen Führern nahe, wenn er sich in seiner eigenen Entwickelung
zu ihren Höhen erhebt.
Wenn bei einem Menschen die Ausbildung des Ätherleibes
in der Art begonnen hat, wie das im Vorangegangenen beschrieben ist, dann
erschließt sich ihm ein völlig neues Leben. Und er muß
durch die Geheimsehulung zur richtigen Zeit die Aufklärungen erhalten,
welche ihn befähigen, sich in diesem neuen Leben zurechtzufinden.
Er sieht zum Beispiel durch die sechzehnblätterige Lotusblume geistig
Gestalten einer höheren Welt. Nun muß er sich klarmachen, wie
verschieden diese Gestalten sind, je nachdem sie von diesen oder jenen
Gegenständen oder Wesen verursacht sind. Das erste, worauf er die
Aufmerksamkeit wenden kann, ist, daß er auf eine gewisse Art dieser
Gestalten durch seine eigenen Gedanken und Empfindungen einen starken Einfluß
ausüben kann, auf andere gar nicht oder doch nur in geringem Maße.
Eine Art der Figuren ändert sich sofort, wenn der Betrachter bei ihrem
Auftreten den Gedanken hat: «das ist schön», und dann
im Laufe der Anschauung diesen Gedanken ändert in diesen: «das
ist nützlich». – Besonders haben die Gestalten, welche von Mineralien
oder künstlich gemachten Gegenständen herrühren, die Eigentümlichkeit,
daß sie sich durch jeden Gedanken oder jedes Gefühl, das ihnen
der Beschauer entgegenbringt, ändern. In geringerem Maße ist
das schon der Fall bei den Gestalten, welche Pflanzen zukommen; und noch
weniger findet es statt bei denen, welche Tieren entsprechen. Auch diese
Gestalten sind beweglich und voll Leben. Aber diese Beweglichkeit rührt
nur zum Teil von dem Einfluß der menschlichen Gedanken und Empfindungen
her, zum anderen Teile wird sie durch Ursachen bewirkt, auf welche der
Mensch keinen Einfluß hat. Nun tritt aber innerhalb dieser ganzen
Gestaltenwelt eine Sorte von Formen auf, welche der Einwirkung von seiten
des Menschen selbst zunächst fast ganz entzogen sind. Der Geheimschüler
kann sich davon überzeugen, daß diese Gestalten weder von Mineralien
noch von künstlichen Gegenständen, auch nicht von Pflanzen oder
Tieren herrühren. Er muß nun, um völlig ins klare zu kommen,
die Gestalten betracbten, von denen er wissen kann, daß sie durch
die Gefühle, Triebe, Leidenschaften und so weiter von anderen Menschen
verursacht werden. Aber auch diesen Gestalten gegenüber kann er finden,
daß seine eigenen Gedanken und Empfindungen noch einigen, wenn auch
verhältnismäßig geringen Einfluß haben. Es bleibt
innerhalb der Gestaltenwelt immer ein Rest, auf den dieser Einfluß
verschwindend gering ist.
Ja, dieser Rest bildet im Anfange der Laulbahn des
Geheimschülers sogar einen sehr großen Teil dessen, was er überhaupt
sieht. Über die Natur dieses Teiles kann er sich nun nur aufklären,
wenn er sich selbst beobachtet. Da findet er, welche Gestalten durch
ihn selbst bewirkt worden sind. Das, was er selbst tut, will, wünscht
und so weiter, kommt in diesen Gestalten zum Ausdruck. Ein Trieb, der in
ihm wohnt, eine Begierde, die er hat, eine Absicht, die er hegt, und so
weiter: alles das zeigt sich in solchen Gestalten. Ja, sein ganzer Charakter
prägt sich in einer solchen Gestaltenwelt aus. Der Mensch kann somit
durch seine bewußten Gedanken und Gefühle einen Einfluß
auf alle Gestalten ausüben, welche nicht von ihm selbst ausgehen;
auf diejenigen Figuren aber, die er durch sein eigenes Wesen in der höheren
Welt bewirkt, hat er keinen Einfluß mehr, sobald sie durch ihn geschaffen
worden sind. Es geht nun aus dem Gesagten auch hervor, daß in der
höheren Anschauung das menschliche Innere, die eigene Trieb-, Begierden-
und Vorstellungswelt sich genauso in äußeren Figuren
zeigt wie andere Gegenstände und Wesenheiten. Die Innenwelt wird für
die höhere Erkenntnis zu einem Teile der Außenwelt. Wie wenn
man in der physischen Welt von allen Seiten mit Spiegeln umgeben wäre
und so seine leibliche Gestalt beschauen könnte, so tritt in einer
höheren Welt die seelische Wesenheit des Menschen diesem als Spiegelbild
entgegen.
Auf dieser Entwickelungsstufe ist für den Geheimschüler
der Zeitpunkt eingetreten, in dem er die Illusion, welche aus der persönlichen
Begrenztheit stammt, überwindet. Er kann jetzt das, was innerhalb
seiner Persönlichkeit ist, beobachten als Außenwelt, wie er
früher als Außenwelt betrachtete, was auf seine Sinne einwirkte.
So lernt er allmählich durch die Erfahrung sich so behandeln, wie
er früher die Wesen um sich her behandelte.
Würde des Menschen Blick in diese Geisteswelten
geöffnet, ehe er in genügender Art auf deren Wesen vorbereitet
worden ist, so stünde er zunächst vor dem charakterisierten Gemälde
seiner eigenen Seele wie vor einem Rätsel. Die Gestalten seiner eigenen
Triebe und Leidenschaften treten ihm da entgegen in Formen, welche er als
tierische oder – seltener – auch als menschliche empfindet. Zwar sind die
Tiergestalten dieser Welt niemals ganz gleich denen der physischen Welt,
aber sie haben doch eine entfernte Ähnlichkeit. Von ungeübten
Beobachtern werden sie wohl auch für gleich gehalten. – Man muß
sich nun, wenn man diese Welt betritt, eine ganz neue Art des Urteilens
aneignen. Denn abgesehen davon, daß die Dinge, die eigentlich dem
menschlichen Innern angehören, als Außenwelt erscheinen, treten
sie auch noch als das Spiegelbild dessen auf, was sie wirklich sind. Wenn
man zum Beispiel eine Zahl da erblickt, so muß man sie umgekehrt
als Spiegelbild lesen. 265 zum Beispiel bedeutet in Wahrheit hier
562. Eine Kugel sieht man so, wie wenn man in ihrem Mittelpunkt
wäre. Man hat sich dann diese Innenansicht erst in der richtigen Art
zu übersetzen. Aber auch seelische Eigenschaften erscheinen als Spiegelbild.
Ein Wunsch, der sich auf etwas Äußeres bezieht, tritt als eine
Gestalt auf, die zu dem Wünschenden selbst sich hinbewegt. Leidenschaften,
welche in der niederen Natur des Menschen ihren Sitz haben, können
die Form von Tieren oder ähnliche Gestaltungen annehmen, die sich
auf den Menschen losstürzen. In Wirklichkeit streben ja diese Leidenschaften
nach außen; sie suchen den Gegenstand ihrer Befriedigung in der Außenwelt.
Aber dieses Suchen nach außen stellt sich im Spiegelbild als
Angriff auf den Träger der Leidenschaft dar.
Wenn der Geheimschüler, bevor er zu höherem
Schauen aufsteigt, durch ruhige, sachliche Selbstbeobachtung seine eigenen
Eigenschaften selber kennengelernt hat, dann wird er auch in dem Augenblicke,
da ihm sein Inneres im äußeren Spiegelbilde entgegentritt, Mut
und Kraft finden, um sich in der richtigen Art zu verhalten. Menschen,
welche sich durch solche Selbstprüfung nicht genügend mit dem
eigenen Inneren bekannt gemacht haben, werden sich in ihrem Spiegelbilde
nicht erkennen und dieses dann für fremde Wirklichkeit halten. Auch
werden sie durch den Anblick ängstlich und reden sich, weil sie die
Sache nicht ertragen können, ein, das Ganze sei nur phantastisches
Erzeugnis, das zu nichts führen könne. In beiden Fällen
stünde der Mensch durch sein unreifes Ankommen auf einer gewissen
Entwickelungsstufe der eigenen höheren Ausbildung verhängnisvoll
im Wege.
Es ist durchaus notwendig, daß der Geheimschüler
durch den geistigen Anblick seiner eigenen Seele hindurchgehe, um zu Höherem
vorzudringen. Denn im eigenen Selbst hat er ja doch dasjenige Geistig-Seelische,
das er am besten beurteilen kann. Hat er sich von seiner Persönlichkeit
in der physischen Welt zunächst eine tüchtige Erkenntnis erworben
und tritt ihm zuerst das Bild dieser Persönlichkeit
in der höheren Welt entgegen, dann kann er beides vergleichen. Er
kann das Höhere auf ein ihm Bekanntes beziehen und vermag so von einem
festen Boden auszugehen. Wenn ihm dagegen noch so viele andere geistige
Wesenheiten entgegenträten, so vermöchte er sich doch über
ihre Eigenart und Wesenheit zunächst keinen Aufschluß zu geben.
Er würde bald den Boden unter den Füßen schwinden fühlen.
Es kann daher gar nicht oft genug betont werden, daß der sichere
Zugang zur höheren Welt derjenige ist, der über die gediegene
Erkenntnis und Beurteilung der eigenen Wesenheit führt.
Geistige Bilder sind es also, welchen der
Mensch zunächst auf seiner Bahn zur höheren Welt begegnet. Denn
die Wirklichkeit, welche diesen Bildern entspricht, ist ja in ihm selbst.
Reif muß demnach der Geheimschüler sein, um auf dieser ersten
Stufe nicht derbe Realitäten zu verlangen, sondern die Bilder als
das Richtige zu betrachten. Aber innerhalb dieser Bilderwelt lernt
er bald etwas Neues kennen. Sein niederes Selbst ist nur als Spiegelgemälde
vor ihm vorhanden; aber mitten in diesem Spiegelgemälde erscheint
die wahre Wirklichkeit des höheren Selbst. Aus dem Bilde der
niederen Persönlichkeit heraus wird die Gestalt des geistigen Ich
sichtbar. Und erst von dem letzteren aus spinnen sich die Fäden zu
anderen höheren geistigen Wirklichkeiten.
Und nun ist die Zeit gekommen, um die zweiblätterige
Lotusblume in der Augengegend zu gebrauchen. Fängt sie an sich zu
bewegen, so findet der Mensch die Möglichkeit, sein höheres Ich
mit übergeordneten geistigen Wesenheiten in Verbindung zu setzen.
Die Ströme, welche von dieser Lotusblume ausgehen, bewegen sich so
zu höheren Wirklichkeiten hin, daß die entsprechenden Bewegungen
dem Menschen völlig bewußt sind. Wie das Licht dem Auge die
physischen Gegenstände sichtbar macht, so diese Strömungen die
geistigen Wesen höherer Welten.
Durch Versenkung in der Geisteswissenschaft entstammendc
Vorstellungen, welche Grundwahrheiten enthalten, lernt der Schüler
die Strömungen der Augenlotusblume in Bewegung setzen und dirigieren.
Was gesunde Urteilskraft, klare, logische Schulung
ist, das erweist sich ganz besonders auf dieser Stufe der Entwickelung.
Man muß nur bedenken, daß da das höhere Selbst, das bisher
keimhaft, unbewußt im Menschen geschlummert hat, zu bewußtem
Dasein geboren wird. Nicht etwa bloß im bildlichen, sondern in ganz
wirklichem Sinne hat man es mit einer Geburt in der geistigen Welt
zu tun. Und das geborene Wesen, das höhere Selbst, muß mit allen
notwendigen Organen und Anlagen zur Welt kommen, wenn es lebensfähig
sein soll. Wie die Natur vorsorgen muß, daß ein Kind mit wohlgebildeten
Ohren und Augen zur Welt komme, so müssen die Gesetze der Eigenentwickelung
eines Menschen Sorge tragen, daß sein höheres Selbst mit den
notwendigen Fähigkeiten ins Dasein trete. Und diese Gesetze, welche
die Ausbildung der höheren Organe des Geistes selbst besQrgen, sind
keine anderen als die gesunden Vernunft- und Moralgesetze der physischen
Welt. Wie im Mutterschoße das Kind reift, so im physischen Selbst
der geistige Mensch. Die Gesundheit des Kindes hängt von normaler
Wirksamkeit der Naturgesetze im Mutterschoße ab. Die Gesundheit des
geistigen Menschen ist in gleicher Art von den Gesetzen des gewöhnlichen
Verstandes und der im physischen Leben wirksamen Vernunft bedingt. Niemand
kann ein gesundes höheres Selbst gebären, der nicht in der physischen
Welt gesund lebt und denkt. Natur- und vernunftgemäßes Leben
sind die Grundlage aller wahren Geistesentwickelung. – Wie das Kind im
Schoße der Mutter schon nach den Naturkräften lebt, die es nach
seiner Geburt mit seinen Sinnesorganen wahrnimmt, so lebt das höhere
Selbst des Menschen nach den Gesetzen der geistigen Welt schon während
des physischen Daseins. Und wie das Kind aus einem dunklen Lebensgefühl
heraus sich die entsprechenden Kräfte aneignet, so kann es der Mensch
mit den Kräften der geistigen Welt, bevor sein höheres Selbst
geboren wird. Ja, er muß dies tun, wenn dies letztere als
vollentwickeltes Wesen zur Welt kommen soll. Es wäre nicht richtig,
wenn jemand sagte: ich kann die Lehren der Geisteswissenschaft nicht annehmen,
bevor ich nicht selbst sehe. Denn ohne die Vertiefung in die Geistesforschung
kann er überhaupt nicht zu wahrer höherer Erkenntnis kommen.
Er wäre dann in derselben Lage wie ein Kind im Mutterschoße,
das verweigerte, die Kräfte zu gebrauchen, die ihm durch die Mutter
zukommen, und warten wollte, bis es sich dieselben selbst verschaffen kann.
So wie der Kindeskeim im Lebensgefühl die Richtigkeit des Dargereichten
erfährt, so der noch nicht sehende Mensch die Wahrheit der Lehren
der Geisteswissenschaft. Es gibt eine Einsicht, die auf Wahrheitsgefühl
und klare, gesunde, allseitig urteilende Vernunft gebaut ist, in diese
Lehren, auch wenn man die geistigen Dinge noch nicht schaut. Man muß
die mystischen Erkenntnisse zuerst lernen und sich eben gerade durch dieses
Lernen zum Schauen vorbereiten. Ein Mensch, der zum Schauen käme,
bevor er in dieser Art gelernt hat, gliche einem Kinde, das wohl mit Augen
und Ohren, aber ohne Gehirn geboren wäre. Es breitete sich die ganze
Farben- und Tonwelt vor ihm aus; aber es könnte nichts damit anfangen.
Was also dem Menschen vorher durch sein Wahrheitsgefühl,
durch Verstand und Vernunft einleuchtend war, das wird auf der geschilderten
Stufe der Geheimschülerschaft eigenes Erlebnis. Er hat jetzt ein unmittelbares
Wissen von seinem höheren Selbst. Und er lernt erkennen, daß
dieses höhere Selbst mit geistigen Wesenheiten höherer Art zusammenhängt
und mit ihnen eine Einheit bildet. Er sieht also, wie das niedere Selbst
aus einer höheren Welt herstammt. Und es zeigt sich ihm, daß
seine höhere Natur die niedere überdauert. Er kann nunmehr selbst
sein Vergängliches von seinem Bleibenden unterscheiden. Das heißt
nichts anderes, als er lernt die Lehre von der Einkörperung (Inkarnation)
des höheren Selbst in ein niederes aus eigener Anschauung verstehen.
Es wird ihm jetzt klar, daß er in einem höheren geistigen Zusammenhange
darinnen steht, daß seine Eigenschaften, seine Schicksale durch diesen
Zusammenhang verursacht sind. Er lernt das Gesetz seines Lebens, Karma,
erkennen. Er sieht ein, daß sein niederes Selbst, wie es gegenwärtig
sein Dasein ausmacht, nur eine der Gestalten ist, die sein höheres
Wesen annehmen kann. Und er erblickt die Möglichkeit vor sich, von
seinem höheren Selbst aus an sich zu arbeiten, auf daß er vollkommener
und immer vollkommener werde. Er kann nunmehr auch die großen Unterschiede
der Menschen hinsichtlich ihrer Vollkommenheitsgrade einsehen. Er wird
gewahr, daß es über ihm stehende Menschen gibt, welche die noch
vor ihm liegenden Stufen schon erreicht haben. Er sieht ein, daß
die Lehren und Taten solcher Menschen von den Eingebungen aus einer höheren
Welt herrühren. Dies verdankt er seinem ersten eigenen Blick in diese
höhere Welt. Was man «große Eingeweihte der Menschheit»
nennt, wird jetzt beginnen, für ihn Tatsache zu werden.
Das sind die Gaben, die der Geheimschüler dieser
Stufe seiner Entwickelung verdankt: Einsicht in das höhere Selbst,
in die Lehre von der Einkörperung oder Inkarnation dieses höheren
Selbst in ein niederes, in das Gesetz, wonach das Leben in der physischen
Welt geregelt wird nach geistigen Zusammenhängen – Karmagesetz –,
und endlich in das Dasein großer Eingeweihter.
Man sagt deshalb auch von einem Schüler, der
diese Stufe erreicht hat, daß ihm der Zweifel völlig
geschwunden sei. Konnte er sich vorher einen auf Vernunftgründe und
gesundes Denken gebauten Glauben aneignen, so tritt jetzt an die Stelle
dieses Glaubens das volle Wissen und die durch nichts zu erschütternde
Einsicht.
Die Religionen haben in ihren Zeremonien, Sakramenten
und Riten äußerlich sichtbare Abbilder höherer geistiger
Vorgänge und Wesen gegeben. Nur wer die Tiefen der großen Religionen
noch nicht durchschaut hat, kann diese verkennen. Wer aber in die geistige
Wirklichkeit selbst hineinschaut, der wird auch die große Bedeutung
jener äußerlich sichtbaren Handlungen verstehen. Und für
ihn wird dann der religiöse Dienst selbst ein Abbild seines Verkehrs
mit der geistig übergeordneten Welt.
Man sieht, in welcher Art der Geheimschüler
durch Erreichung dieser Stufe wirklich ein neuer Mensch geworden ist. Er
kann nun allmählich dazu heranreifen, durch die Strömungen seines
Ätherkörpers das eigentliche höhere Lebenselement zu dirigieren
und damit eine hohe Freiheit von seinem physischen Körper zu erlangen.
Rudolf
Steiner:
Wie erlangt man
Erkenntnisse der höheren Welten?
Vorrede 1909 : Vorrede
1914 : Nachwort 1918
Bedingungen : Innere
Ruhe
Die Stufen
der Einweihung
Die Vorbereitung : Die
Erleuchtung : Kontrolle
der Gedanken und Gefühle
Die Einweihung
Praktische Gesichtspunkte
Die Bedingungen zur
Geheimschulung
Über
einige Wirkungen der Einweihung
Veränderungen
im Traumleben des Geheimschülers
Die
Erlangung der Kontinuität des Bewußtseins
Die
Spaltung der Persönlichkeit während der Geistesschulung
Der Hüter der Schwelle
Leben und Tod : Der große
Hüter der Schwelle
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*
Schriftauslegung
der Lebensschrift-Chiffre:Novalis, Die Lehrlinge zu Sais
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mit Verstand – – –
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Die Lehrlinge zu Sais; Schelling:
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: Verzeichnis
der Schriften und Lebenslauf Rudolf Steiners
Rudolf Steiner : Wie erlangt man Erkenntnisse
der höheren Welten? : Über einige Wirkunen der Einweihung