Rudolf
Steiner : Wie erlangt man Erkenntnisse der höheren Welten (Berlin,
1904/1905)
WIE ERLANGT MAN ERKENNTNISSE
DER HÖHEREN WELTEN?
Bedingungen
Es schlummern in jedem Menschen Fähigkeiten,
durch die er sich Erkenntnisse über höhere Welten erwerben kann.
Der Mystiker, der Gnostiker, der Theosoph sprachen stets von einer Seelen-
und einer Geisterwelt, die für sie ebenso vorhanden sind wie diejenige,
die man mit physischen Augen sehen, mit physischen Händen betasten
kann. Der Zuhörer darf sich in jedem Augenblicke sagen: wovon dieser
spricht, kann ich auch erfahren, wenn ich gewisse Kräfte in mir entwickele,
die heute noch in mir schlummern. Es kann sich nur darum handeln, wie man
es anzufangen hat, um solche Fähigkeiten in sich zu entwickeln. Dazu
können nur diejenigen Anleitung geben, die schon in sich solche Kräfte
haben. Es hat, seit es ein Menschengeschlecht gibt, auch immer eine Schulung
gegeben, durch die solche, die höhere Fähigkeiten hatten, denen
Anleitung gaben, die ebensolche Fähigkeiten suchten. Man nennt solche
Schulung Geheimschulung; und der Unterricht, welcher da empfangen
wird, heißt geheimwissenschaftlicher oder okkulter Unterricht. Eine
solche Bezeichnung erweckt naturgemäß Mißverständnis.
Wer sie hört, kann leicht zu dem Glauben verfülrrt werden, daß
diejenigen, die für solche Schulung tätig sind, eine besonders
bevorzugte Menschenklasse darstellen wollen, die willkürlich ihr Wissen
den Mitmenschen vorenthält. Ja, man denkt wohl auch, daß vielleicht
überhaupt nichts Erhebliches hinter solchem Wissen stecke. Denn, wenn
es ein wahres Wissen wäre – so ist man versucht zu denken –, so brauchte
man daraus kein Geheimnis zu machen: man könnte es öffentlich
mitteilen und die Vorteile davon allen Menschen zugänglich machen.
Diejenigen, welche in die Natur des Geheimwissens
eingeweiht sind, wundern sich nicht im geringsten darüber, daß
die Uneingeweihten so denken. Worin das Geheimnis der Einweihung besteht,
kann nur derjenige verstehen, der selbst diese Einweihung in die höheren
Geheimnisse des Daseins bis zu einem gewissen Grade erfahren hat. Nun kann
man fragen: wie soll denn der Uneingeweihte überhaupt irgendein menschliches
Interesse an dem sogenannten Geheimwissen unter solchen Umständen
erlangen? Wie und warum soll er etwas suchen, von dessen Natur er sich
doch gar keine Vorstellung machen kann? Aber schon einer solchen Frage
liegt eine ganz irrtümliche Vorstellung von dem Wesen des Geheimwissens
zugrunde. In Wahrheit verhält es sich mit dem Geheimwissen nämlich
doch nicht anders als mit allem übrigen Wissen und Können des
Menschen. Dieses Geheimwissen ist für den Durchschnittsmenschen in
keiner anderen Beziehung ein Geheimnis, als warum das Schreiben für
den ein Geheimnis ist, der es nicht gelernt hat. Und wie jeder schreiben
lernen kann, der die rechten Wege dazu wählt, so kann jeder ein Geheimschüler,
ja ein Geheimlehrer werden, der die entsprechenden Wege dazu sucht. Nur
in einer Hinsicht liegen die Verhältnisse hier noch anders als beim
äußeren Wissen und Können. Es kann jemandem durch Armut,
durch die Kultur–verhältnisse, in die er hineingeboren ist, die Möglichkeit
fehlen, sich die Kunst des Schreibens anzueignen; für die Erlangung
von Wissen und Können in den höheren Welten gibt es kein Hindernis
für denjenigen, der diese ernstlich sucht.
Viele glauben, man müsse die Meister des höheren
Wissens da und dort aufsuchen, um von ihnen Aüfschlüsse zu erhalten.
Aber zweierlei ist richtig. Erstens wird derjenige, der ernstlich nach
höherem Wissen trachtet, keine Mühe, kein Hindernis scheuen,
um einen Eingeweihten aufzusuchen, der ihn in die höheren Geheimnisse
der Welt einführen kann. Aber andererseits kann auch jeder sich klar
darüber sein, daß ihn die Einweihung unter allen Umständen
finden wird, wenn ernstes und würdiges Streben nach Erkenntnis vorliegt.
Denn es gibt ein natürliches Gesetz für alle Eingeweihten, das
sie dazu veranlaßt, keinem suchenden Menschen ein ihm gebührendes
Wissen vorzuenthalten. Aber es gibt ein ebenso natürliches Gesetz,
welches besagt, daß niemandem irgend etwas von dem Geheimwissen ausgeliefert
werden kann, zu dem er nicht berufen ist. Und ein Eingeweihter ist um so
vollkommener, je strenger er diese beiden Gesetze beobachtet. Das geistige
Band, das alle Eingeweihten umfaßt, ist kein äußeres,
aber die beiden genannten Gesetze bilden feste Klammern, durch welche die
Bestandteile dieses Bandes zusammengehalten werden. Du magst in intimer
Freundschaft mit einem Eingeweihten leben: du bist doch so lange von seinem
Wesen getrennt, bis du selbst ein Eingeweihter geworden bist. Du magst
das Herz, die Liebe eines Eingeweihten im vollsten Sinne genießen:
sein Geheimnis wird er dir erst anvertrauen, wenn du reif dazu bist. Du
magst ihm schmeicheln, du magst ihn foltern: nichts kann ihn bestimmen,
dir irgend etwas zu verraten, von dem er weiß, daß es dir nicht
verraten werden darf, weil du auf der Stufe deiner Entwickelung dem Geheimnis
noch nicht den rechten Empfang in deiner Seele zu bereiten verstehst.
Die Wege, die den Menschen reif zum Empfange eines
Geheimnisses machen, sind genau bestimmte. Ihre Richtung ist mit unauslöschbaren,
ewigen Buchstaben vorgezeichnet in den Geisteswelten, in denen die Eingeweihten
die höheren Geheimnisse behüten. In alten Zeiten, die vor unsrer
«Geschichte» liegen, waren die Tempel des Geistes auch äußerlich
sichtbare; heute, wo unser Leben so ungeistig geworden ist, sind sie nicht
in der Welt vorhanden, die dem äußeren Auge sichtbar ist. Aber
sie sind geistig überall vorhanden; und jeder, der sucht, kann
sie finden.
Nur in seiner eigenen Seele kann der Mensch die
Mittel finden, die ihm den Mund der Eingeweihten öffnen. Gewisse Eigenschaften
muß er in sich bis zu einem bestimmten hohen Grade entwickeln, dann
können ihm die höchsten Geistesschätze zuteil werden.
Eine gewisse Grundstimmung der Seele muß den
Anfang bilden. Der Geheimforscher nennt diese Grundstimmung den Pfad
der Verehrung, der Devotion gegenüber der Wahrheit und Erkenntnis.
Nur wer diese Grundstimmung hat, kann Geheimschüler werden. Wer Erlebnisse
auf diesem Gebiete hat, der weiß, welche Anlagen bei denen schon
in der Kindheit zu bemerken sind, welche später Geheimschüler
werden. Es gibt Kinder, die mit heiliger Scheu zu gewissen von ihnen verehrten
Personen emporblicken. Sie haben eine Ehrfurcht vor ihnen, die ihnen im
tiefsten Herzensgrunde verbietet, irgendeinen Gedanken aufkommen zu lassen
von Kritik, von Opposition. Solche Kinder wachsen zu Jünglingen und
Jungfrauen heran, denen es wohltut, wenn sie zu irgend etwas Verehrungsvollem
aufsehen können. Aus den Reihen dieser Menschenkinder gehen viele
Geheimschüler hervor. Hast du einmal vor der Türe eines verehrten
Mannes gestanden und hast du bei diesem deinem ersten Besuche eine heilige
Scheu empfunden, auf die Klinke zu drücken, um in das Zimmer zu treten,
das für dich ein «Heiligtum» ist, so hat sich in dir ein
Gefühl geäußert, das der Keim sein kann für deine
spätere Geheimschülerschaft. Es ist ein Glück für jeden
heranwachsenden Menschen, solche Gefühle als Anlagen in sich zu tragen.
Man glaube nur ja nicht, daß solche Anlagen den Keim zur Unterwürfigkeit
und Sklaverei bilden. Es wird später die erst kindliche Verehrung
gegenüber Menschen zur Verehrung gegenüber Wahrheit und Erkenntnis.
Die Erfahrung lehrt, daß diejenigen Menschen auch am besten verstehen,
das Haupt frei zu tragen, die verehren gelernt haben da, wo Verehrung am
Platze ist. Und am Platze ist sie überall da, wo sie aus den Tiefen
des Herzens entspringt.
Wenn wir nicht das tiefgründige Gefühl
in uns entwickeln, daß es etwas Höheres gibt, als wir sind,
werden wir auch nicht in uns die Kraft finden, uns zu einem Höheren
hinaufzuentwickeln. Der Eingeweihte hat sich nur dadurch die Kraft errungen,
sein Haupt zu den Höhen der Erkenntnis zu erheben, daß er sein
Herz in die Tiefen der Ehrfurcht, der Devotion geführt hat. Höhe
des Geistes kann nur erklommen werden, wenn durch das Tor der Demut geschritten
wird. Ein rechtes Wissen kannst du nur erlangen, wenn du gelernt hast,
dieses Wissen zu achten. Der Mensch hat gewiß das Recht, sein Auge
dem Lichte entgegenzuhalten; aber er muß dieses Recht erwerben. Im
geistigen Leben gibt es ebenso Gesetze wie im materiellen. Streiche eine
Glasstange mit einem entsprechenden Stoffe, und sie wird elektrisch, das
heißt: sie erhält die Kraft, kleine Körper anzuziehen.
Dies entspricht einem Naturgesetz. Hat man ein wenig Physik gelernt, so
weiß man dies. Und ebenso weiß man, wenn man die Anfangsgründe
der Geheimwissenschaft kennt, daß jedes in der Seele entwickelte
Gefühl von wahrer Devotion eine Kraft entwickelt, die in der
Erkenntnis früher oder später weiter führen kann.
Wer in seinen Anlagen die devotionellen Gefühle
hat, oder wer das Glück hat, sie durch eine entsprechende Erziehung
eingepflanzt zu erhalten, der bringt vieles mit, wenn er im späteren
Leben den Zugang zu höheren Erkenntnissen sucht. Wer eine solche Vorbereitung
nicht mitbringt, dem erwachsen schon auf der ersten Stufe des Erkenntnispfades
Schwierigkeiten, wenn er nicht durch Selbsterziehung die devotionelle Stimmung
energisch in sich zu erzeugen unternimmt. In unserer Zeit ist es ganz besonders
wichtig, daß auf diesen Punkt die volle Aufmerksamkeit gelenkt wird.
Unsere Zivilisation neigt mehr zur Kritik, zum Richten, zum Aburteilen
und wenig zur Devotion, zur hingebungsvollen Verehrung. Unsere Kinder schon
kritisieren viel mehr, als sie hingebungsvoll verehren. Aber jede Kritik,
jedes richtende Urteil vertreiben ebensosehr die Kräfte der Seele
zur höheren Erkenntnis, wie jede hingebungsvolle Ehrfurcht sie entwickelt.
Damit soll gar nichts gegen unsere Zivilisation gesagt sein. Es handelt
sich hier gar nicht darum, Kritik an dieser unserer Zivilisation zu üben.
Gerade der Kritik, dem selbstbewußten menschlichen Urteil, dem «Prüfet
alles und das Beste behaltet», verdanken wir die Größe
unserer Kultur. Nimmermehr hätte der Mensch die Wissenschaft, die
Industrie, den Verkehr, die Rechtsverhältnisse unserer Zeit erlangt,
wenn er nicht überall Kritik geübt, überall den Maßstab
seines Urteils angelegt hätte. Aber was wir dadurch an äußerer
Kultur gewonnen haben, mußten wir mit einer entsprechenden Einbuße
an höherer Erkenntnis, an spirituellem Leben bezahlen. Betont
muß werden, daß es sich beim höheren Wissen nicht um
Verehrung von Menschen, sondern um eine solche gegenüber Wahrheit
und Erkenntnis handelt.
Nur das eine muß freilich sich jeder klarmachen,
daß derjenige, der ganz in der veräußerlichten Zivilisation
unserer Tage darinnen steckt, es sehr schwer hat, zur Erkenntnis der höheren
Welten vorzudringen. Er kann es nur, wenn er energisch an sich arbeitet.
In einer Zeit, in der die Verhältnisse des materiellen Lebens einfache
waren, war auch geistiger Aufschwung leichter zu erreichen. Das Verehrungswürdige,
das Heiligzuhaltende hob sich mehr von den übrigen Weltverhältnissen
ab. Die Ideale werden in einem kritischen Zeitalter herabgezogen. Andere
Gefühle treten an die Stelle der Verehrung, der Ehrfurcht, der Anbetung
und Bewunderung. Unser Zeitalter drängt diese Gefühle immer mehr
zurück, so daß sie durch das alltägliche Leben dem Menschen
nur noch in sehr geringem Grade zugeführt werden. Wer höhere
Erkenntnis sucht, muß sie in sich erzeugen. Er muß sie selbst
seiner Seele einflößen. Das kann man nicht durch Studium. Das
kann man nur durch das Leben. Wer Geheimschüler werden will, muß
sich daher energisch zur devotionellen Stimmung erziehen. Er muß
überall in seiner Umgebung, in seinen Erlebnissen dasjenige aufsuchen,
was ihm Bewunderung und Ehrerbietung abzwingen kann. Begegne ich einem
Menschen und tadle ich seine Schwächen, so raube ich mir höhere
Erkenntniskraft; suche ich liebevoll mich in seine Vorzüge zu vertiefen,
so sammle ich solche Kraft. Der Geheimjünger muß fortwährend
darauf bedacht sein, diese Anleitung zu befolgen. Erfahrene Geheimforscher
wissen, was sie für eine Kraft dem Umstande verdanken, daß sie
immer wieder allen Dingen gegenüber auf das Gute sehen und mit dem
richtenden Urteile zurückhalten. Aber dies darf nicht eine äußerliche
Lebensregel bleiben. Sondern es muß von dem Innersten unsrer Seele
Besitz ergreifen. Der Mensch hat es in seiner Hand, sich selbst zu vervollkommnen,
sich mit der Zeit ganz zu verwandeln. Aber es muß sich diese Umwandlung
in seinem Innersten, in seinem Gedankenleben vollziehen. Es genügt
nicht, daß ich äußerlich in meinem Verhalten Achtung gegenüber
einem Wesen zeige. Ich muß diese Achtung in meinen Gedanken haben.
Damit muß der Geheimschüler beginnen, daß er die Devotion
in sein Gedankenleben aufnimmt. Er muß auf die Gedanken der Unehrerbietung,
der abfälligen Kritik in seinem Bewußtsein achten. Und er muß
geradezu suchen, in sich Gedanken der Devotion zu pflegen.
Jeder Augenblick, in dem man sich hinsetzt, um gewahr
zu werden in seinem Bewußtsein, was in einem steckt an abfälligen,
richtenden, kritischen Urteilen über Welt und Leben: – jeder solcher
Augenblick bringt uns der höheren Erkenntnis näher. Und wir steigen
rasch auf, wenn wir in solchen Augenblicken unser Bewußtsein nur
erfüllen mit Gedanken, die uns mit Bewunderung, Achtung, Verehrung
gegenüber Welt und Leben erfüllen. Wer in diesen Dingen Erfahrung
hat, der weiß, daß in jedem solchen Augenblicke Kräfte
in dem Menschen erweckt werden, die sonst schlummernd bleiben. Es werden
dadurch dem Menschen die geistigen Augen geöffnet. Er fängt
dadurch an, Dinge um sich herum zu sehen, die er früher nicht hat
sehen können. Er fängt an zu begreifen, daß er vorher nur
einen Teil der ihn umgebenden Welt gesehen hat. Der Mensch, der ihm gegenübertritt,
zeigt ihm jetzt eine ganz andere Gestalt als vorher. Zwar wird er durch
diese Lebensregel noch nicht imstande sein, schon das zu sehen,
was zum Beispiel als die menschliche Aura beschrieben wird. Denn dazu ist
eine noch höhere Schulung nötig. Aber eben zu dieser höheren
Schulung kann er aufsteigen, wenn er vorher eine energische Schulung
in Devotion durchgemacht hat.
Geräuschlos und unbemerkt von der äußeren
Welt vollzieht sich das Betreten des «Erkenntnispfades» durch
den Geheim–schüler. Niemand braucht an ihm eine Veränderung wahrzunehmen.
Er tut seine Pflichten wie vorher; er besorgt seine Geschäfte wie
ehedem. Die Verwandlung geht lediglich mit der inneren Seite der Seele
vor sich, die dem äußeren Auge entzogen ist. Zunächst überstrahlt
das ganze Gemütsleben des Menschen die eine Grundstimmung der Devotion
gegenüber allem wahrhaft Ehrwürdigen. In diesem einen Grundgefühle
findet sein ganzes Seelenleben den Mittelpunkt. Wie die Sonne durch ihre
Strahlen alles Lebendige belebt, so belebt beim Geheimschüler die
Verehrung alle Empfindungen der Seele.
Es wird dem Menschen anfangs nicht leicht, zu glauben,
daß Gefühle wie Ehrerbietung, Achtung und so weiter etwas mit
seiner Erkenntnis zu tun haben. Dies rührt davon her, daß man
geneigt ist, die Erkenntnis als eine Fähigkeit für sich hinzustellen,
die mit dem in keiner Verbindung steht, was sonst in der Seele vorgeht.
Man bedenkt dabei aber nicht, daß die Seele es ist, welche
erkennt. Und für die Seele sind Gefühle das, was für den
Leib die Stoffe sind, welche seine Nahrung ausmachen. Wenn man dem Leibe
Steine statt Brot gibt, so erstirbt seine Tätigkeit. Ähnlich
ist es mit der Seele. Für sie sind Verehrung, Achtung, Devotion nährende
Stoffe, die sie gesund, kräftig machen; vor allem kräftig
zur Tätigkeit des Erkennens. Mißachtung, Antipathie, Unterschätzung
des Anerkennenswerten bewirken Lähmung und Ersterben der erkennenden
Tätigkeit. – Für den Geistesforscher ist diese Tatsache an der
Aura ersichtlich. Eine Seele, die sich verehrende, devotionelle
Gefühle aneignet, bewirkt eine Veränderung ihrer Aura. Gewisse
als gelbrote, braunrote zu bezeichnende geistige Farbentöne verschwinden
und werden durch blaurote ersetzt. Dadurch aber öffnet sich das Erkenntnisvermögen;
es empfängt Kunde von Tatsachen in seiner Umgebung, von denen es vorher
keine Ahnung hatte. Die Verehrung weckt eine sympathische Kraft in der
Seele, und durch diese werden Eigenschaften der uns umgebenden Wesen von
uns angezogen, die sonst verborgen bleiben.
Wirksamer noch wird das, was durch die Devotion
zu erreichen ist, wenn eine andere Gefühlsart hinzukommt. Sie besteht
darinnen, daß der Mensch lernt, sich immer weniger den Eindrücken
der Außenwelt hinzugeben, und dafür ein reges Innenleben entwickelt.
Ein Mensch, der von einem Eindruck der Außenwelt zu dem andern jagt,
der stets nach «Zerstreuung» sucht, findet nicht den Weg zur
Geheimwissenschaft. Nicht ab–stumpfen soll sich der Geheimschüler
für die Außenwelt; aber sein reiches Innenleben soll
ihm die Richtung geben, in der er sich ihren Eindrücken hingibt. Wenn
ein gefühlsreicher und gemütstiefer Mensch durch eine schöne
Gebirgslandschaft geht, erlebt er anderes als ein gefühlsarmer. Erst
was wir im Innern erleben, gibt uns den Schlüssel zu den Schönheiten
der Außenwelt. Der eine fährt über das Meer, und nur wenig
innere Erlebnisse ziehen durch seine Seele; der andere empfindet dabei
die ewige Sprache des Weltgeistes; ihm enthüllen sich geheime Rätsel
der Schöpfung. Man muß gelernt haben, mit seinen eigenen Gefühlen,
Vorstellungen umzugehen, wenn man ein inhaltvolles Verhältnis zur
Außenwelt entwickeln will. Die Außenwelt ist in allen ihren
Erscheinungen erfüllt von göttlicher Herrlichkeit; aber man muß
das Göttliche erst in seiner Seele selbst erlebt haben, wenn man es
in der Umgebung finden will. – Der Geheimschüler wird darauf verwiesen,
sich Augenblicke in seinem Leben zu schaffen, in denen er still und einsam
sich in sich selbst versenkt. Nicht den Angelegenheiten seines eigenen
Ich aber soll er sich in solchen Augenblicken hingeben. Das würde
das Gegenteil von dem bewirken, was beabsichtigt ist. Er soll vielmehr
in solchen Augenblicken in aller Stille nachklingen lassen, was er erlebt
hat, was ihm die äußere Welt gesagt hat. Jede Blume, jedes Tier,
jede Handlung wird ihm in solchen stillen Augenblicken ungeahnte Geheimnisse
enthüllen. Und er wird vorbereitet dadurch, neue Eindrücke der
Außenwelt mit ganz anderen Augen zu sehen als vorher. Wer nur Eindruck
nach Eindruck genießen will, stumpft sein Erkenntnisvermögen
ab. Wer, nach dem Genusse, sich von dem Genusse etwas offenbaren läßt,
der pflegt und erzieht sein Erkenntnisvermögen. Er muß sich
nur daran gewöhnen, nicht etwa nur den Genuß nachklingen zu
lassen, sondern, mit Verzicht auf weiteren Genuß, das Genossene
durch innere Tätigkeit zu verarbeiten. Die Klippe ist hier
eine sehr große, die Gefahr bringt. Statt in sich zu arbeiten, kann
man leicht in das Gegenteil verfallen und den Genuß nur hinterher
noch völlig ausschöpfen wollen. Man unterschätze nicht,
daß sich hier unabsehbare Quellen des Irrtums für den Geheimschüler
eröffnen. Er muß ja hindurch zwischen einer Schar von Verführern
seiner Seele. Sie alle wollen sein «Ich» verhärten, in
sich selbst verschließen. Er aber soll es aufschließen für
die Welt. Er muß ja den Genuß suchen; denn nur durch
ihn kommt die Außenwelt an ihn heran. Stumpft er sich gegen den Genuß
ab, so wird er wie eine Pflanze, die aus ihrer Umgebung keine Nahrungsstoffe
mehr an sich ziehen kann. Bleibt er aber beim Genusse stehen, so verschließt
er sich in sich selbst. Er wird nur etwas für sich, nichts
für die Welt bedeuten. Mag er in sich dann noch so sehr leben, mag
er sein «Ich» noch so stark pflegen: die Welt scheidet ihn
aus. Für sie ist er tot. Der Geheimschüler betrachtet den Genuß
nur als ein Mittel, um sich für die Welt zu veredeln.
Der Genuß ist ihm ein Kundschafter, der ihn unterrichtet über
die Welt; aber er schreitet nach dem Unterricht durch den Genuß zur
Arbeit vorwärts. Er lernt nicht, um das Gelernte als seine
Wissensschätze aufzuhäufen, sondern um das Gelernte in den
Dienst der Welt zu stellen.
Es ist ein Grundsatz in aller Geheimwissenschaft,
der nicht übertreten werden darf, wenn irgendein Ziel erreicht werden
soll. Jede Geheimschulung muß ihn dem Schüler einprägen.
Er heißt: Jede Erkenntnis, die du suchst, nur um dein Wissen zu
bereichern, nur um Schätze in dir anzuhäufen, führt dich
ab von deinem Wege; jede Erkenntnis aber, die du suchst, um reifer zu werden
auf dem Wege der Menschenveredelung und der Weltenentwickelung, die bringt
dich einen Schritt vorwärts. Dieses Gesetz fordert unerbittlich
seine Beobachtung. Und man ist nicht früher Geheimschüler, ehe
man dieses Gesetz zur Richtschnur seines Lebens gemacht hat. Man kann diese
Wahrheit der geistigen Schulung in den kurzen Satz zusammenfassen: Jede
Idee, die dir nicht zum Ideal wird, ertötet in deiner Seele eine Kraft;
jede Idee, die aber zum Ideal wird, erschafft in dir Lebenskräfte.
Innere Ruhe
Auf den Pfad der Verehrung und auf die Entwickelung
des inneren Lebens wird der Geheimschüler im Anfange seiner
Laufbahn gewiesen. Die Geisteswissenschaft gibt nun auch praktische
Regeln an die Hand, durch deren Beobachtung der Pfad betreten, das
innere Leben entwickelt werden kann. Diese praktischen Regeln entstammen
nicht der Willkür. Sie beruhen auf uralten Erfahrungen und uraltem
Wissen. Sie werden überall in der gleichen Art gegeben, wo die Wege
zur höheren Erkenntnis gewiesen werden. Alle wahren Lehrer des geistigen
Lebens stimmen in bezug auf den Inhalt dieser Regeln überein, wenn
sie dieselben auch nicht immer in die gleichen Worte kleiden. Die untergeordnete,
eigentlich nur scheinbare Verschiedenheit rührt von Tatsachen her,
welche hier nicht zu besprechen sind.
Kein Lehrer des Geisteslebens will durch solche
Regeln eine Herrschaft über andere Menschen ausüben. Er will
niemand in seiner Selbständigkeit beeinträchtigen. Denn es gibt
keine besseren Schätzer und Hüter der menschlichen Selbständigkeit
als die Geheimforscher. Es ist (im vorigen Kapitel) gesagt worden, das
Band, das alle Eingeweihten umfaßt, sei ein geistiges, und zwei naturgemäße
Gesetze bilden die Klammern, welche die Bestandteile dieses Bandes zusammenhalten.
Tritt nun der Eingeweihte aus seinem umschlossenen Geistgebiet heraus,
vor die Öffentlichkeit: dann kommt für ihn sogleich ein drittes
Gesetz in Betracht. Es ist dieses: Richte jede deiner Taten, jedes deiner
Worte so ein, daß durch dich in keines Menschen freien Willensentschluß
eingegriffen wird.
Wer durchschaut hat, daß ein wahrer Lehrer
des Geisteslebens ganz von dieser Gesinnung durchdrungen ist, der kann
auch wissen, daß er nichts von seiner Selbständigkeit einbüßt.
wenn er den praktischen Regeln folgt, die ihm geboten werden.
Eine der ersten dieser Regeln kann nun etwa in die
folgenden Worte der Sprache gekleidet werden: «Schaffe dir Augenblicke
innerer Ruhe und lerne in diesen Augenblicken das Wesentliche von dem
Unwesentlichen unterscheiden.» – Es wird hier gesagt, diese praktische
Regel laute so in «Worte der Sprache gefaßt». Ursprünglich
werden nämlich alle Regeln und Lehren der Geisteswissenschaft in einer
sinnbildlichen Zeichensprache gegeben. Und wer ihre ganze Bedeutung und
Tragweite kennenlernen will, der muß erst diese sinnbildliche Sprache
sich zum Verständnis bringen. Dieses Verständnis ist davon abhängig,
daß der Betreffende bereits die ersten Schritte in der Geheimwissenschaft
getan hat. Diese Schritte aber kann er durch die genaue Beobachtung solcher
Regeln gehen, wie sie hier gegeben werden. Jedem steht der Weg offen,
der ernstliches Wollen hat.
Einfach ist die obige Regel bezüglich der Augenblicke
der inneren Ruhe. Und einfach ist auch ihre Befolgung. Aber zum Ziele führt
sie nur, wenn sie ebenso ernst und streng angefaßt
wird, wie sie einfach ist. – Ohne Umschweife soll daher hier auch gesagt
werden, wie diese Regel zu befolgen ist.
Der Geheimschüler hat sich eine kurze Zeit
von seinem täglichen Leben auszusondern, um sich in dieser Zeit mit
etwas ganz anderem zu befassen, als die Gegenstände seiner täglichen
Beschäftigung sind. Und auch die Art seiner Beschäftigung muß
eine ganz andere sein als diejenige, mit der er den übrigen Tag ausfüllt.
Das ist aber nicht so zu verstehen, als ob dasjenige, was er in dieser
ausgesonderten Zeit vollbringt, nichts zu tun habe mit dem Inhalt seiner
täglichen Arbeit. Im Gegenteil: der Mensch, der solche abgesonderten
Augenblicke in der rechten Art sucht, wird bald bemerken, daß
er durch sie erst die volle Kraft zu seiner Tagesaufgabe erhält. Auch
darf nicht geglaubt werden, daß die Beobachtung dieser Regel jemandem
wirklich Zeit von seiner Pflichtenleistung entziehen könne. Wenn
jemand wirklich nicht mehr Zeit zur Verfügung haben sollte, so
genügen fünf Minuten jeden Tag. Es kommt darauf an, wie
diese fünf Minuten angewendet werden.
In dieser Zeit soll der Mensch sich vollständig
herausreißen aus seinem Alltagsleben. Sein Gedanken-, sein Gefühlsleben
soll da eine andere Färbung erhalten, als sie sonst haben. Er soll
seine Freuden, seine Leiden, seine Sorgen, seine Erfahrungen, seine Taten
vor seiner Seele vorbeiziehen lassen. Und er soll sich dabei so stellen,
daß er alles das, was er sonst erlebt, von einem höheren Gesichtspunkte
aus ansieht. Man denke nur einmal daran, wie man im gewöhnlichen Leben
etwas ganz anders ansieht, was ein anderer erlebt oder getan hat, als was
man selbst erlebt oder getan hat. Das kann nicht anders sein. Denn mit
dem, was man selbst erlebt oder tut, ist man verwoben; das Erlebnis oder
die Tat eines anderen betrachtet man nur. Was man in den ausgesonderten
Augenblicken anzustreben hat, ist nun, die eigenen Erlebnisse und Taten
so anzuschauen, so zu beurteilen, als ob man sie nicht selbst, sondern
als ob sie ein anderer erlebt oder getan hätte. Man stelle sich einmal
vor: jemand habe einen schweren Schicksalsschlag erlebt. Wie anders steht
er dem gegenüber als einem ganz gleichen Schicksalsschlage bei seinem
Mitmenschen? Niemand kann das für unberechtigt halten. Es liegt in
der menschlichen Natur. Und ähnlich wie in solchen außergewöhnlichen
Fällen ist es in den alltäglichen Angelegenheiten des Lebens.
Der Geheimschüler muß die Kraft suchen, sich selbst in gewissen
Zeiten wie ein Fremder gegenüberzustehen. Mit der inneren Ruhe
des Beurteilers muß er sich selbst entgegentreten. Erreicht man
das, dann zeigen sich einem die eigenen Erlebnisse in einem neuen Lichte.
Solange man in sie verwoben ist, solange man in ihnen steht, hängt
man mit dem Unwesentlichen ebenso zusammen wie mit dem Wesentlichen. Kommt
man zur inneren Ruhe des Überblicks, dann sondert sich das
Wesentliche von dem Unwesentlichen. Kummer und Freude, jeder Gedanke, jeder
Entschluß erscheinen anders, wenn man sich so selbst gegenübersteht.
– Es ist, wie wenn man den ganzen Tag hindurch in einem Orte sich aufgehalten
hat und das Kleinste ebenso nahe gesehen hat wie das Größte;
dann des Abends auf einen benachbarten Hügel steigt und den ganzen
Ort auf einmal überschaut. Da erscheinen die Teile dieses Ortes in
anderen gegenseitigen Verhältnissen, als wenn man darinnen ist. Mit
gegenwärtig erlebten Schicksalsfügungen wird und braucht dies
nicht zu gelingen; mit länger vergangenen muß es vom Schüler
des Geisteslebens erstrebt werden. – Der Wert solcher inneren, ruhigen
Selbstschau hängt viel weniger davon ab, was man dabei erschaut,
als vielmehr davon, daß man in sich die Kraft findet, die
solche innere Ruhe entwickelt.
Denn jeder Mensch trägt neben seinem – wir
wollen ihn so nennen – Alltagsmenschen in seinem Innern noch einen höheren
Menschen. Dieser höhere Mensch bleibt so lange verborgen, bis
er geweckt wird. Und jeder kann diesen höheren Menschen nur selbst
in sich erwecken. Solange aber dieser höhere Mensch nicht erweckt
ist, so lange bleiben auch die in jedem Menschen schlummernden höheren
Fähigkeiten verborgen, die zu übersinnlichen Erkenntnissen führen.
Solange jemand die Frucht der inneren Ruhe nicht
fühlt, muß er sich eben sagen, daß er in der ernsten strengen
Befolgung der angeführten Regel fortfahren muß. Für jeden,
der so verfährt, kommt der Tag, wo es um ihn herum geistig hell wird,
wo sich einem Auge, das er bis dahin in sich nicht gekannt hat, eine ganz
neue Welt erschließen wird.
Und nichts braucht sich im äußeren Leben
des Geheimschülers zu ändern dadurch, daß er anfängt,
diese Regel zu befolgen. Er geht seinen Pflichten nach wie vorher; er duldet
dieselben Leiden und erlebt dieselben Freuden zunächst wie vorher.
In keiner Weise kann er dadurch dem «Leben» entfremdet werden.
Ja, er kann um so voller den übrigen Tag hindurch diesem «Leben»
nachgehen, weil er in seinen ausgesonderten Augenblicken ein«höheres
Leben» sich aneignet. Nach und nach wird dieses «höhere
Leben» schon seinen Einfluß auf das gewöhnliche geltend
machen. Die Ruhe der ausgesonderten Augenblicke wird ihre Wirkung auch
auf den Alltag haben. Der ganze Mensch wird ruhiger werden, wird Sicherheit
bei seinen Handlungen gewinnen, wird nicht mehr aus der Fassung gebracht
werden können durch alle möglichen Zwischenfälle. Allmählich
wird sich solch angehender Geheimschüler sozusagen immer mehr selbst
leiten und weniger von den Umständen und äußeren Einflüssen
leiten lassen. Ein solcher Mensch wird bald bemerken, was für eine
Kraftquelle solche ausgesonderte Zeitabschnitte für ihn sind. Er wird
anfangen, sich über Dinge nicht mehr zu ärgern, über die
er sich vorher geärgert hat, unzählige Dinge, die er vorher gefürchtet
hat, hören auf, ihm Befürchtungen zu machen. Eine ganz neue Lebensauffassung
eignet er sich an. Vorher ging er vielleicht zaghaft an diese oder jene
Verrichtung. Er sagte sich: Oh, meine Kraft reicht nicht aus, dies so zu
machen, wie ich es gerne gemacht hätte. Jetzt kommt ihm nicht mehr
dieser Gedanke, sondern vielmehr ein ganz anderer. Nunmehr sagt er sich
nämlich: Ich will alle Kraft zusammennehmen, um meine Sache so gut
zu machen, als ich nur irgend kann. Und den Gedanken, der ihn zaghaft machen
könnte, unterdrückt er. Denn er weiß, daß ihn eben
die Zaghaftigkeit zu einer schlechten Leistung veranlassen könnte,
daß jedenfalls diese Zaghaftigkeit nichts beitragen kann zur Verbesserung
dessen, was ihm obliegt. Und so ziehen Gedanke nach Gedanke in die Lebensauffassung
des Geheimschülers ein, die fruchtbar, förderlich sind für
sein Leben. Sie treten an die Stelle von solchen, die ihm hinderlich, schwächend
waren. Er fängt an, sein Lebensschiff einen sicheren, festen Gang
zu führen innerhalb der Wogen des Lebens, während es vorher von
diesen Wogen hin und her geschlagen worden ist.
Und solche Ruhe und Sicherheit wirken auch auf das
ganze menschliche Wesen zurück. Der innere Mensch wächst dadurch.
Und mit ihm wachsen jene inneren Fähigkeiten, welche zu den höheren
Erkenntnissen führen. Denn durch seine in dieser Richtung gemachten
Fortschritte gelangt der Geheimschüler allmählich dahin, daß
er selbst bestimmt, wie die Eindrücke der Außenwelt auf ihn
einwirken dürfen. Er hört zum Beispiel ein Wort, durch das ein
anderer ihn verletzen oder ärgern will. Vor seiner Geheimschülerschaft
wäre er auch verletzt worden oder hätte sich geärgert. Da
er nun den Pfad der Geheimschülerschaft betreten hat, ist er imstande,
dem Worte seinen verletzenden oder ärgerlichen Stachel zu nehmen,
bevor es den Weg zu seinem Inneren gefunden hat. Oder ein anderes Beispiel.
Ein Mensch wird leicht ungeduldig, wenn er warten soll. Er betritt den
Pfad des Geheimschülers. Er durchdringt sich in seinen Augenblicken
der Ruhe so sehr mit dem Gefühl von der Zwecklosigkeit vieler Ungeduld,
daß er fortan bei jeder erlebten Ungeduld sofort dieses Gefühl
gegenwärtig hat. Die Ungeduld, die sich schon einstellen wollte, verschwindet,
und eine Zeit, die sonst verlorengegangen wäre unter den Vorstellungen
der Ungeduld, wird vielleicht ausgefüllt von einer nützlichen
Beobachtung, die während des Wartens gemacht werden kann.
Nun muß man sich nur die Tragweite von alledem
vergegenwärtigen. Man bedenke, daß der «höhere Mensch»
im Menschen in fortwährender Entwickelung ist. Durch die beschriebene
Ruhe und Sicherheit wird ihm aber allein eine gesetzmäßige Entwickelung
ermöglicht. Die Wogen des äußeren Lebens zwängen den
inneren Menschen von allen Seiten ein, wenn der Mensch nicht dieses Leben
beherrscht, sondern von ihm beherrscht wird. Ein solcher Mensch ist wie
eine Pflanze, die sich in einer Felsspalte entwickeln soll. Sie verkümmert
so lange, bis man ihr Raum schafft. Dem inneren Menschen können keine
äußeren Kräfte Raum schaffen. Das vermag nur die innere
Ruhe, die er seiner Seele schafft. Äußere Verhältnisse
können nur seine äußere Lebenslage ändern;
den «geistigen Menschen» in ihm können sie nie und nimmer
erwecken. – In sich selbst muß der Geheimschüler einen neuen,
einen höheren Menschen gebären.
Dieser «höhere Mensch» wird dann
der «innere Herrscher», der mit sicherer Hand die Verhältnisse
des äußeren Menschen führt. Solange der äußere
Mensch die Oberhand und Leitung hat, ist dieser «innere» sein
Sklave und kann daher seine Kräfte nicht entfalten. Hängt es
von etwas anderem als von mir ab, ob ich mich ärgere oder nicht, so
bin ich nicht Herr meiner selbst, oder – noch besser gesagt –: ich habe
den «Herrscher in mir» noch nicht gefunden. Ich muß in
mir die Fähigkeit entwickeln, die Eindrücke der Außenwelt
nur in einer durch mich selbst bestimmten Weise an mich herankommen zu
lassen; dann kann ich erst Geheimschüler werden. – Und nur insoweit
der Geheimschüler ernstlich nach dieser Kraft sucht, kann er zum Ziel
kommen. Es kommt nicht darauf an, wie weit es einer in einer bestimmten
Zeit bringt; sondern allein darauf, daß er ernstlich sucht. Schon
manchen hat es gegeben, der jahrelang sich angestrengt hat, ohne an sich
einen merklichen Fortschritt zu bemerken; viele von denen aber, die nicht
verzweifelt, sondern unerschütterlich geblieben sind, haben dann ganz
plötzlich den «inneren Sieg» errungen.
Es gehört gewiß in mancher Lebenslage
eine große Kraft dazu, sich Augenblicke innerer Ruhe zu schaffen.
Aber je größer die notwendige Kraft, desto bedeutender ist auch
das, was erreicht wird. Alles hängt in bezug auf die Geheimschülerschaft
davon ab, daß man energisch, mit innerer Wahrheit und rückhaltloser
Aufrichtigkeit sich selbst, mit allen seinen Handlungen und Taten, als
ein völlig Fremder gegenüberstehen kann.
Aber nur eine Seite der inneren Tätigkeit des
Geheimschülers ist durch diese Geburt des eigenen höheren
Menschen gekennzeichnet. Es muß dazu noch etwas anderes kommen. Wenn
sich nämlich der Mensch auch selbst als ein Fremder gegenübersteht,
so betrachtet er doch nur sich selbst; er sieht auf diejenigen Erlebnisse
und Handlungen, mit denen er durch seine besondere Lebenslage verwachsen
ist. Er muß darüber hinauskommen. Er muß sich erheben
zu einem rein Menschlichen, das nichts mehr mit seiner besonderen
Lage zu tun hat. Er muß zu einer Betrachtung derjenigen Dinge übergehen,
die ihn als Mensch etwas angingen, auch wenn er unter ganz anderen Verhältnissen,
in einer ganz anderen Lage lebte. Dadurch lebt in ihm etwas auf, was über
das Persönliche hinausragt. Er richtet damit den Blick in höhere
Welten, als diejenigen sind, mit denen ihn der Alltag zusammenführt.
Und damit beginnt der Mensch zu fühlen, zu erleben, daß er solchen
höheren Welten angehört. Es sind das Welten, über die ihm
seine Sinne, seine alltägliche Beschäftigung nichts sagen können.
So erst verlegt er den Mittelpunkt seines Wesens in sein Inneres. Er hört
auf die Stimmen in seinem Innern, die in den Augenblicken der Ruhe zu ihm
sprechen; er pflegt im Innern Umgang mit der geistigen Welt. Er ist dem
Alltag entrückt. Der Lärm dieses Alltags ist für ihn verstummt.
Es ist um ihn herum still geworden. Er weist alles ab, was ihn an
solche Eindrücke von außen erinnert. Die ruhige Beschaulichkeit
im Innern, die Zwiesprache mit der rein geistigen Welt füllt seine
ganze Seele aus. – Ein natürliches Lebensbedürfnis muß
dem Geheimschüler solche stille Beschaulichkeit werden. Er ist zunächst
ganz in eine Gedankenwelt versenkt. Er muß für diese stille
Gedankentätigkeit ein lebendiges Gefühl entwickeln. Er
muß lieben lernen, was ihm der Geist da zuströmt. Bald
hört er dann auch auf, diese Gedankenwelt als etwas zu empfinden,
was unwirklicher sei als die Dinge des Alltags, die ihn umgeben. Er fängt
an, mit seinen Gedanken umzugehen wie mit den Dingen im Raume. Und dann
naht für ihn auch der Augenblick, indem er das, was sich ihm in der
Stille innerer Gedankenarbeit offenbart, als viel höher, wirklicher
zu fühlen beginnt als die Dinge im Raume. Er erfährt, daß
sich Leben in dieser Gedankenwelt ausspricht. Er sieht ein, daß
sich in Gedanken nicht bloße Schattenbilder ausleben, sondern, daß
durch sie verborgene Wesenheiten zu ihm sprechen. Es fängt
an, aus der Stille heraus zu ihm zu sprechen. Vorher hat es nur durch sein
Ohr zu ihm getönt; jetzt tönt es durch seine Seele. Eine innere
Sprache –ein inneres Wort – hat sich ihm erschlossen. Beseligt im höchsten
Grade fühlt sich der Geheimschüler, wenn er diesen Augenblick
zum ersten Male erlebt. Über seine ganze äußere Welt ergießt
sich ein inneres Licht. Ein zweites Leben beginnt für ihn. Der Strom
einer göttlichen, einer gottbeseligenden Welt ergießt sich durch
ihn.
Solches Leben der Seele in Gedanken, das sich immer
mehr erweitert zu einem Leben in geistiger Wesenheit, nennt die Gnosis,
die Geisteswissenschaft Meditation (beschauliches Nachdenken). Diese
Meditation ist das Mittel zu übersinnlicher Erkenntnis. – Aber nicht
schwelgen in Gefühlen soll der Geheimschüler in solchen Augenblicken.
Er soll nicht unbestimmte Empfindungen in seiner Seele haben. Das würde
ihn nur hindern, zu wahrer geistiger Erkenntnis zu kommen. Klar, scharf,
bestimmt sollen sich seine Gedanken gestalten. Dazu wird er einen Anhalt
finden, wenn er sich nicht blind an die Gedanken hält, die ihm aufsteigen.
Er soll sich vielmehr mit den hohen Gedanken durchdringen, welche vorgeschrittene,
schon vom Geist erfaßte Menschen in solchen Augenblicken gedacht
haben. Er soll zum Ausgangspunkte die Schriften nehmen, die selbst solcher
Offenbarung in der Meditation entsprossen sind. In der mystischen, in der
gnostischen, in der geisteswissenschaftlichen Literatur von heute findet
der Geheimschüler solche Schriften. Da ergeben sich ihm die Stoffe
zu seiner Meditation. Die Geistsucher haben selbst in solchen Schriften
die Gedanken der göttlichen Wissenschaft niedergelegt; der Geist hat
durch seine Boten sie der Welt verkündigen lassen.
Durch solche Meditation geht eine völlige Verwandlung
mit dem Geheimschüler vor. Er fängt an, über die Wirklichkeit
ganz neue Vorstellungen sich zu bilden. Alle Dinge erhalten für ihn
einen anderen Wert. Immer wieder muß es gesagt werden: nicht weltfremd
wird der Geheimschüler durch solche Wandlung. Er wird auf keinen Fall
seinem alltäglichen Pflichtenkreis entfremdet. Denn er lernt einsehen,
daß die geringste Handlung, die er zu vollbringen hat, das geringste
Erlebnis, das sich ihm darbietet, im Zusammenhang stehen mit den großen
Weltwesenheiten und Weltereignissen. Wird ihm dieser Zusammenhang durch
seine beschaulichen Augenblicke erst klar, dann geht er mit neuer vollerer
Kraft in seinen täglichen Wirkungskreis. Denn jetzt weiß er:
was er arbeitet, was er leidet, das arbeitet, leidet er um eines großen,
geistigen Weltzusammenhanges willen. Kraft zum Leben, nicht Lässigkeit
quillt aus der Meditation.
Mit sicherem Schritt geht der Geheimschüler
durch das Leben. Was es ihm auch bringen mag, läßt ihn aufrecht
schreiten. Vorher hat er nicht gewußt, warum er arbeitet, warum er
leidet: jetzt weiß er dies. Einzusehen ist, daß solche Meditationstätigkeit
besser zum Ziele führt, wenn sie unter Anleitung erfahrener Menschen
geschieht. Solchen Menschen, die von sich aus wissen, wie alles am besten
zu machen ist. Man sehe daher den Rat, die Anweisung solcher Menschen sich
an. Man verliert dadurch wahrlich nicht seine Freiheit. Was sonst nur unsicheres
Tappen sein kann, wird durch solche Anleitung zum zielsicheren Arbeiten.
Wer sich um solche kümmert, die in dieser Richtung Wissen, Erfahrung
haben, wird niemals vergeblich anklopfen. Er sei sich nur bewußt,
daß er nichts anderes sucht als den Rat eines Freundes, nicht die
Übermacht eines solchen, der herrschen will. Man wird immer finden,
daß diejenigen, die wirklich wissen, die bescheidensten Menschen
sind, und daß ihnen nichts ferner liegt als dasjenige, was die Menschen
Machtgelüste nennen.
Wer sich durch die Meditation erhebt zu dem, was
den Menschen mit dem Geist verbindet, der beginnt in sich das zu beleben,
was ewig in ihm ist, was nicht durch Geburt und Tod begrenzt ist. Nur diejenigen
können zweifeln an einem solchen Ewigen, die es nicht selbst erlebt
haben. So ist die Meditation der Weg, der den Menschen auch zur Erkenntnis,
zur Anschauung seines ewigen, unzerstörbaren Wesenskernes führt.
Und nur durch sie kann der Mensch zu solcher Anschauung kommen. Gnosis,
Geisteswissenschaft sprechen von der Ewigkeit dieses Wesenskernes, von
der Wiederverkörperung desselben. Oft wird gefragt, warum weiß
der Mensch nichts von seinen Erlebnissen, die jenseits von Geburt und Tod
liegen? Aber nicht so sollte gefragt werden. Sondern vielmehr so: wie gelangt
man zu solchem Wissen? In der richtigen Meditation eröffnet sich der
Weg. Durch sie lebt die Erinnerung auf an Erlebnisse, die jenseits von
Geburt und Tod liegen. Jeder kann dieses Wissen erwerben; in jedem liegen
die Fähigkeiten, selbst zu erkennen, selbst zu schauen, was echte
Mystik, Geisteswissenschaft, Anthroposophie und Gnosis lehren. Er muß
nur die richtigen Mittel wählen. Nur ein Wesen, das Ohren und Augen
hat, kann Töne und Farben wahrnehmen. Und auch das Auge kann nichts
wahrnehmen, wenn das Licht fehlt, das die Dinge sichtbar macht. In der
Geheimwissenschaft sind die Mittel gegeben, die geistigen Ohren und Augen
zu entwickeln und das geistige Licht zu entzünden. Als drei Stufen
können die Mittel der geistigen Schulung bezeichnet werden: 1.
Die Vorbereitung. Sie entwickelt die geistigen Sinne.
2. Die Erleuchtung. Sie
zündet das geistige Licht an. 3.
Die Einweihung. Sie eröffnet den Verkehr mit den
höheren Wesenheiten des Geistes.
Rudolf
Steiner:
Wie erlangt man
Erkenntnisse der höheren Welten?
Vorrede 1909 : Vorrede
1914 : Nachwort 1918
Bedingungen : Innere
Ruhe
Die Stufen
der Einweihung
Die Vorbereitung : Die
Erleuchtung : Kontrolle
der Gedanken und Gefühle
Die Einweihung
Praktische Gesichtspunkte
Die Bedingungen zur
Geheimschulung
Über
einige Wirkungen der Einweihung
Veränderungen
im Traumleben des Geheimschülers
Die
Erlangung der Kontinuität des Bewußtseins
Die
Spaltung der Persönlichkeit während der Geistesschulung
Der Hüter der Schwelle
Leben und Tod : Der große
Hüter der Schwelle
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Schriftauslegung
der Lebensschrift-Chiffre:Novalis, Die Lehrlinge zu Sais
-
- – kannst du die Schrift, die Ornamente finden / die Salomon versiegelt
mit Verstand – – –
°
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-
° Rgveda,
Yoga-Sutras,
Bhagavad-Gita;
Genesis, Johannes-Evangelium
.
- ° Thomas von Aquin:
Summa
Theol. prima pars qu.2: IST Gott? Fünf
Gottesbeweise
. – ° Jakob
Böhme: Aurora oder Morgenröte im Aufgang
: Philipp Otto Runge: Der Morgen
. – ° Joh.Val.
Andreae: Chymische Hochzeit
Christiani Rosencreutz / Fama
Frat. / Confessio
Frat.
. – ° Novalis:
Die Lehrlinge zu Sais; Schelling:
Die Weltalter (Einleitung)
. – ° Wolfram
/ Chretien /
Wagner: Parzival/ Parsifal und
der Gral
. – ° Feuerprobe
und Lebensschrift-Chiffre: Von dem Machandelboom
. – ° Anthroposophie-links
Verzeichnis
der Schriften und Lebenslauf Rudolf Steiners
Rudolf Steiner : Wie erlangt man Erkenntnisse
der höheren Welten? : Bedingungen : Innere Ruhe