Von dem Wacholderbaum
Das
ist nun sehr lange her, wohl zweitausend Jahre,
da
war da ein reicher Mann, der hatte eine schöne fromme Frau,
und
sie hatten sich beide sehr lieb, hatten aber keine Kinder.
Sie
wünschten sich aber sehr welche,
und
die Frau betete so viel darum Tag und Nacht,
aber
sie bekamen keines und bekamen keines.
Vor
ihrem Hause war ein Hof, darauf stand ein Wacholderbaum,
unter
dem stand die Frau einst im Winter und schälte sich einen Apfel,
und
als sie sich den Apfel so schälte, so schnitt sie sich in den Finger,
und
das Blut fiel in den Schnee.
"Ach,"
sagte die Frau, und seufzte so recht hoch auf,
und
sah das Blut vor sich an, und war so recht wehmütig,
"hätte
ich doch ein Kind, so rot wie Blut und so weiß wie Schnee."
Und
als sie das sagte, so wurde ihr so recht fröhlich zu Mute;
ihr
war recht, als solle das was werden. |
Die für
ein Märchen ungewöhnliche (er-zählend aktualisierte) Zeitangabe
weist zurück auf den Beginn des Christentums, auf Inkarnation,
Tod und Auferstehung des "Sohnes".
Lange Kinderlosigkeit
als innerseelisch-mystische Entsagungsphase, schließlich Verheißung
und Geburt des
heiligen Sohnes: vor allem beim Vater
aller "Glaubenden" (Römerbrief 4,16) Abraham, Genesis 15,1-6;
16,7-16 (Ismael); 17,19; 18,10
ff; dann bei den Eltern der drei großen "Nazoraioi"
(gemäß Numeri 6) Samson
("Schimschon" von "schamasch" –
"Sonne", Richter
13), Samuel (1.Samuel 1) und Johannes (Lukas
1,5 ff).
Der Erkenntnisbaum
wird im Abendland in der Regel als "Apfelbaum"
imaginiert (im Orient als Feigenbaum);
hier nun der heilige Wacholder
der Germanen mit seiner Würze, Würde und Heilkraft, gemäß
der Differenzierung von
Erkenntnisbaum und Lebensbaum: Die "Äpfel" vom Baum der Erkenntnis
fallen aber offenbar nicht weit von dessen (Lebensbaum-)
Stamm; "bêde: wurzeln
unde rîs" des Paradieses: so erscheint der Grâl
bei Wolfram. |
Da
ging sie nach Hause,
und es ging ein Monat
hin, der Schnee verging;
und zwei Monate, da
wurde es grün;
und drei Monate, da
kamen die Blumen aus der Erde:
und vier Monate, da
drangen sich alle Bäume in das Holz,
und die grünen
Zweige waren alle ineinander gewachsen;
da sangen die Vögelchen,
daß das ganze Holz schallte,
und die Blüten
fielen von den Bäumen;
da war der fünfte
Monat weg,
und sie stand unter
dem Machandelbaum, der roch so schön,
da sprang ihr das Herz
vor Freuden,
und sie fiel auf ihre
Knie und konnte sich nicht lassen;
und als der sechste
Monat vorbei war,
da waren die Früchte
dick und stark,
da wurde sie ganz still;
und der siebte Monat,
da griff sie nach den Wacholderbeeren
und aß sie so
gierig, da wurde sie traurig und krank;
da ging der achte Monat
hin,
und sie rief ihren Mann
und weinte und sagte:
"Wenn ich sterbe, so
begrabt mich unter dem Wacholderbaum."
Da wurde sie ganz getrost
und freute sich,
bis der neunte Monat
vorbei war,
da bekam sie ein Kind
so weiß wie Schnee und so rot wie Blut,
und als sie das sah,
so freute sie sich so, daß sie starb. |
Mit der
Verletzung der Frau beim Schälen der Erkenntnisfrucht und ihrem Wunschseufzer
– vgl. Parzival 282,20 ff:
die "drei Blutstropfen im Schnee"; natürlich auch den Anfang von "Schneewittchen"
– beginnt eine neunfach gestufte
Sündenfall- (Erkenntnis-)
und Lebens-Entwicklung, in der Empfindungswelt
und Schwangerschaft so ineinandergreifen, wie die Singular-Rede der
Genesis vom Baum "in der
Mitte des Gartens" es voraussetzt.
Vom Winter bis zum
Herbst entwickelt sich demzufolge mit dem Baum die Leibesfrucht
der Baumbetrachterin – die
mit dem Baum aufblühende, mitreifende,
genossene Erkenntnis, bêde:
wurzeln unde rîs, der Logos-Sprößling,
der "kleine Sohn" – wie auch die Hingabe der Frau (Ischah),
die alle Gefühlsfarben
durchwandelt. Diese drei Zopfstränge sind in den Monatsschritten
des Jahreskreislaufs empfindsam sympathetisch ineinander verflochten –
geradezu als imaginative Ausgestaltung der Sündenfallstelle
in Genesis 3, wo die "Ischah" eher durch den Baum selbst als durch
die Klugheit der Schlange zum Fruchtgenuß der Erkenntnis verführt
wird:
"Und
es sah die Frau (Ischah),
daß
gut der Baum zu essen,
und
daß eine Lust er den Augen,
und
anreizend der Baum, aufzuwachen,
und
sie nahm von seiner Frucht
und
sie aß." |
Da
begrub ihr Mann sie unter dem Wacholderbaum, und er fing an zu weinen so
sehr;
eine
Zeit lang, da wurde das was sachter, und da er noch was geweint hatte,
da hörte er auf, und noch eine Zeit, da nahm er sich wieder eine Frau.
Mit
die zweiten Frau bekam er eine Tochter, das Kind aber von der ersten Frau
war ein kleiner Sohn, und war so rot wie Blut und so weiß wie Schnee.
Wenn
die Frau ihre Tochter so ansah, so hatte sie sie so lieb, aber dann sah
sie den kleinen Jungen an, und das ging ihr so durch das Herz, und ihr
dünkte, als stünde er ihr überall im Weg, und dachte dann
immer daran, wie sie ihrer Tochter all das Vermögen zuwenden wollte,
und der Böse gab ihr das ein, daß sie dem kleinen Jung ganz
gram wurde und stieß ihn herum von einer Ecke in die andere, und
puffte ihn hier und knuffte ihn dort, so daß das arme Kind immer
in Angst war.
Wenn
er denn aus der Schule kam, so hatte er keine ruhige Stätte. |
Es ist
der Sündenfall, in aller
Unschuld und Ursprünglichkeit des begeisterten Empfindens, in aller
Heiligkeit der dadurch zur Geburt gebrachten Erkenntnis:
So ist der Tod der
frommen "Frau", der "Lebensmutter"
(Chawwah), die notwendige Folge. Erkennen, Gedankengebären
ist ein fortwährendes Sterben im Genuß der Bewußtseinsfrucht:
Die Wachheit, die Ichbewußtheit
löst das Individuum aus der natura
naturans, der pflanzlichen Schlafenstiefe
und dem tierischen Traumgewoge heraus,
objektiviert die Natur vor dem subjektiven Blick, tötet
sie zu Dingen ab und bewegt sich zugleich in der Transparenz
der Gedankensubstanz, im lichten Totenreich
des Begriffs. Hier schon wird der "Sohn" aus
dem Tod hervorgeboren, aber in der unschuldig-schuldig "sündenfälligen",
der Geburt des Kindes opfernd hingegebenen
Freude der "Frau" ist seine Geburt doch eine reine Lebens-Geburt.
Er ist der "Geborene" schlechthin,
der "kleine Sohn", ansonsten namenlos. |
Einst
war die Frau auf die Kammer gegangen, da kam die kleine Tochter auch herauf
und sagte: "Mutter, gib mir einen Apfel."
"Ja, mein
Kind," sagte die Frau und gab ihre einen schönen Apfel aus der Kiste;
die Kiste aber hatte einen großen schweren Deckel mit einem großen
scharfen eisernen Schloß.
"Mutter,"
sagte die kleine Tochter, "soll Bruder nicht auch einen haben?"
Das verdroß
die Frau, doch sagte sie: "Ja, wenn er aus der Schule kommt."
Und als sie
aus dem Fenster gewahr wurde, daß er kam, so war das recht, als wenn
der Böse über sie käme, und sie griff zu und nahm ihrer
Tochter den Apfel wieder weg und sagte: "Du sollst nicht eher einen haben
als Bruder."
Da schmiß
sie den Apfel in die Kiste und machte die Kiste zu.
Da kam der
kleine Junge in die Tür, da gab ihr der Böse ein, daß sie
freundlich zu ihm sagte: "Mein Sohn, willst du einen Apfel haben?" und
sah ihn so hastig an.
"Mutter,"
sagte der kleine Junge, "was siehst du zornig aus! Ja, gib mir einen Apfel."
Da war ihr,
als solle sie ihm zureden.
"Komm mit
mir," sagte sie und machte den Deckel auf, "hol dir einen Apfel heraus."
Und als sich der kleine Junge hineinbückte,
so riet ihr der Böse – bratsch! schlug sie den Deckel zu, daß
der Kopf abflog und unter die roten Äpfel fiel.
Da überlief sie das in der Angst,
und dachte: "Könnte ich das von mir bringen!"
Da ging sie hinauf in ihre Stube zu
ihrem Truhenkasten und holte aus der obersten Schublade ein weißes
Tuch, und setzte den Kopf wieder auf den Hals und band das Halstuch so
um, daß man nichts sehen konnte, und setzte ihn vor die Tür
auf einen Stuhl und gab ihm den Apfel in die Hand.
Da kam danach Marlenchen zu ihrer Mutter
in die Küche, die stand bei dem Feuer und hatte einen Topf mit heißem
Wasser vor sich, den rührte sie immer um.
"Mutter," sagte Marlenchen, "Bruder
sitzt vor der Tür und sieht ganz weiß aus und hat einen Apfel
in der Hand, ich habe ihn gebeten, er soll mir den Apfel geben, aber er
antwortet mir nicht, da wurde mir ganz grauslich."
"Geh nochmal hin," sagte die Mutter,
"und wenn er dir nicht antworten will, so gib ihm eins an die Ohren."
Da ging Marlenchen
hin und sagte: "Bruder, gib mir den Apfel."
Aber
er schwieg still.
Da gab sie ihm eins
auf die Ohren, da fiel der Kopf herunter, darüber erschreckte sie
sich und fing an zu weinen und zu heulen, und lief zu ihrer Mutter und
sagte: "Ach, Mutter, ich habe meinem Bruder den Kopf abgeschlagen", und
weinte und weinte und wollte sich nicht zufrieden geben.
"Marlenchen," sagte
die Mutter, "was hast du denn! Aber schweig man still, daß es kein
Mensch merkt, das ist nun doch nicht zu ändern;
wir wollen ihn in
Suppe kochen."
|
Er ist
das innerste, innigste Aufkeimen
der Erkenntnis in einer sich aufopfernd
hingebenden Seele, zutiefst intim, kaum nennbar, dem Verstand und der
abgestorbenen Seelennatur, der "zweiten Frau" des Vaters, kaum erkennbar:
der im Menschen, in der Verantwortungswurzel des Ich keimhaft angelegte
geistige Mensch, der "noch nicht
erschienen ist", der wir "einst sein werden" (1.Johannesbrief 3,2),
Christus in uns – hier noch
als "Jesus patiblis" (Gottesknecht gemäß
Jesaja 53). Und dieses verkannte, in Namenlosigkeit
verborgene, vom unruhig verzettelten Sinnenmenschen
hin- und hergeschubste "arme Kind" wird nun durch die abstrakten Kopf-Lehren
der "Schule", deren Wissensvermittlung nicht zum Herzen dringt – "geköpft".
Die Passion des "Sohnes" gipfelt
auf der "Schädelstätte".
Das sarkastisch-knapp
geschilderte Köpfen des "kleinen Jungen" erfolgt nicht in der Schule
selbst, wohl aber in der Verarbeitung der Kenntnisse nach der Heimkehr,
in der Falle (skandalon): beim
trügerischen Angebot, die Frucht – hier natürlich "Apfel"
– der Erkenntnis zu verzehren. Als deren Arsenal dient die Kiste
mit dem "scharfen eisernen Schloß" – einerseits die Verschlossenheit
der unvermittelten sinnlichen Erkenntnis-"Stücke" im Gedächtnis,
andererseits die abstrahierende Schlußfähigkeit in der juristisch-definitorisch
zugeschärften Unterscheidung der Begriffe.
Die Köpfung des
"Sohnes" wird dann mit schönem Schein, mit Kunst, mit einem kostbaren
Tuch "aus dem oberen Schubfach" der Truhe der Stiefmutter oberflächlich
kaschiert; die innerleiblichen Lebensprozesse (unten in der "Küche",
in der Stoffwechsel-Chemiestube des Hauses) setzen sich fort (Umrühren
des heißen Wassers) und bereiten die weitere Verarbeitung und den
innerleiblichen Verzehr des Geopferten vor (in der Alchemie
von Herdfeuer, Wassertopf – gegen Exodus 12,9!, aber die "richtige"
Verwandlung durch Feuer statt
Wasser folgt noch – und Tränensalz).
"Marlenchen",
verkürzt eingedeutschte Namensform von "Maria
Magdalena", ist in ihrem Verhalten hier genauso charakterisiert wie
in den Evangelien: Ständig weint
sie, das ist ihr Wesen, ihre Herzensbeschäftigung bereits dort: Mit
Tränen wäscht sie Jesus die Füße, weinend
kommt sie ihm nach dem Tode des Lazarus entgegen,
weinend
sucht sie am Ostermorgen den Leichnam des "Herrn" und sieht
durch ihren Tränenschleier in dem Auferstandenen den "Gärtner"
des Gartens.
Marlenchen muß
nun hier durch ihr Ohrfeigen des getöteten Bruders als "die
Sünderin" erscheinen, aber sie ist in der leibes-chemischen Arbeit
der Seelenkräfte in der "Küche" Gegenpol zu der angsterfüllten,
engherzigen Mutter: Diese schiebt ihr die Schuld der Gefühls-Verstandes-Trennung
zu, macht sie zur "Sünderin"
und versucht, ihre Tochter in die Verdrängung und in die alles kaschierende
Täuschung hineinzuziehen; Marlenchen dagegen ist ganz Empfindung und
Schuldbewußtsein.
Die Schlachtung des
"Sohnes" durch die (Stief-) Mutter erinnert an den Rachakt der Medea bei
Euripides und die götterversuchende Opferung des Pelops durch Tantalos,
wohl auch die (durch ein Lamm ersetzte) des Isaak durch Abraham. Aber hier
ist es eher der ins verstandesgeleitete Wachbewußtsein gefallene,
abgestorbene und individuell privatisierte, verengte Geist des Menschen,
in dem das Logoskind zerstückelt
(1.Korinther 13,12)
und zur Suppe "gekocht" wird. |
Da
kam der Vater nach Hause und setzte sich zu Tisch und sagte: "Wo ist denn
mein Sohn?"
Da trug die Mutter
eine große große Schüssel auf mit Schwarzsuppe, und Marlenchen
weinte und konnte sich nicht halten.
Da sagte der
Vater wieder: "Wo ist denn mein Sohn?"
"Ach," sagte
die Mutter, "er ist über Land gegangen, zur Großtante der Mutter;
er will da was bleiben."
"Was macht er
denn da? Und hat mir nicht mal Tschüß gesagt!"
"Oh er wollte
gern hin und bat mich, ob er da wohl sechs Wochen bleiben kann; er ist
ja gut da aufgehoben."
"Ach," sagte
der Mann, "mir ist so recht traurig, das ist doch nicht recht, er hätte
mir doch Tschüß sagen sollen."
Indessen fing
er an zu essen und sagte "Marlenchen, was weinst du? Bruder wird wohl wiederkommen."
"Ach, Frau,"
sagte er da, "was schmeckt mir das Essen schön! Gib mir mehr!"
Und je mehr er
aß, desto mehr wollte er haben, und sagte: "Gebt mir mehr, ihr sollt
nichts da aufheben, das ist, als wenn das alles mein wäre." Und er
aß und aß, und die Knochen schmiß er alle unter den Tisch,
bis er alles auf hatte. |
Die abtötenden
Auswirkungen des wachen Tagesbewußtseins auf den inneren Menschen
machen eine Regeneration, eine kleine Wiedergeburt durch den Schlaf erforderlich.
Es ist der leibliche Erfahrungsträger, der väterliche Erzeuger
des (in Empfindungen und Gedanken zerstückelten) Geistsprößlings,
der als letzter am Abend in sein Haus heimkehrt und sich nun mit dem Nachtmahl
das "Seinige" wieder einverleibt:
Fleisch und Blut des geopferten
Sohnes – aber nicht die Knochen
(vgl. Exodus 12,46 und den "Schamanen"-Psalm
22), die den dichteren Todesdurchgang
durchmachen. Prototyp dieses Abend- bzw. Nachtmahls ist das "letzte
Abendmahl" der Evangelien – (Mt
26,26-28; Mk 14,22-24;
Lk 22,19-20) – und das
"Brot"-Kapitel
bei Johannes; dann auch Parzivals
Gralsnächte bei Chrêtien und Wolfram, vor allem aber in
Wagners
Parsifal. Von der alchymisch-leiblichen Seite der regenerativen Verwandlungsprozesse
her ist es die Köpfung
und Umarbeitung der "Könige"in
der Chymischen Hochzeit des Christian Rosencreutz, die besondere Ausgestaltungen
dieses Motivs bietet. Der aus
dem "Saft" der Könige erzeugte Vogel wird dort wiederum enthauptet,
und sein Blut zum neuen Königspaar weiterverwandelt. |
Marlenchen
aber ging hin zu ihrer Kommode und nahm aus der untersten Schublade ihr
bestes Seidentuch, und holte all die Beinchen und Knochen unter dem Tisch
heraus und band sie in das Seidentuch und trug sie vor die Tür und
weinte ihre blutigen Tränen.
Da
legte sie sie unter den Wacholderbaum in das grüne Gras, und als sie
sie da hingelegt hatte, so war ihr mit einem Mal so recht licht, und weinte
nicht mehr.
Da
fing der Wacholderbaum an sich zu bewegen,
und
die Zweige taten sich immer so recht voneinander,
und
dann wieder zuhauf, so recht als wenn sich einer
Indessen
so ging da so ein Nebel von dem Baum,
und
recht in dem Nebel, da brannte das wie Feuer,
und
aus dem Feuer, da flog so ein schöner Vogel heraus,
der
sang so herrlich und flog hoch in die Luft,
und
als er weg war, da war der Wacholderbaum,
und
das Tuch mit den Knochen war weg.
Marlenchen
aber war so recht licht und vergnügt,
Da ging
sie wieder ganz lustig in das Haus zu Tisch und aß.
|
Die eigentliche Verwandlung dieses Opferlamms
(vgl. das Passah-Nachtmahl gemäß Exodus 12,10) ist dann aber
tiefgreifender als die Alchemie der "Küche" und der Verzehr der "Suppe",
auch wenn dadurch die "Knochen"
des Sohnes von der Fleisch- und Blutgebundenheit des von Empfindungen und
Neigungen durchtränkten Leibes befreit und bereinigt werden. Die kostbaren
Weine und Fleischspeisen,
die in den Parzivâl-Epen aus dem Grâl hervorgehen, nähren
die zum Nachtmahl Geladenen, aber der Grâl selbst (dem jungen Parzivâl
zunächst als Lebensbaum
sichtbar) erstrahlt oberhalb der Tische in einer unverzehrlichen
klaren Kristallsubstanz
und bildet so gewissermaßen das kaleidoskopische Zentral-Juwel,
das "Mani-Padme" (Kleinod
in der Lotosblüte), die unversiegliche Jungbrunnenquelle
der "nicht aus dem Blut, noch aus
der Wollust des Fleisches, noch aus der Wollust des Mannes, sondern aus
Gott Geborenen" (Johannes 1,3). Denn um eine Neugeburt
aus dem Tode geht es nun, wenngleich diese in das Abendmahl
des heimgekehrten Vaters und seine nächtliche Regenerations-Alchemie
zunächst eingehüllt erscheint wie
der Tiefschlaf in den Traum.
Die Sünderin wandelt sich durch ihre "blutigen"
Tränen zur Büßerin, die Büßerin zur Priesterin
der Totensalbung und der Einbalsamierung des Leichnams (in den Evangelien
wie auch hier). |
"Meine Mutter: die mich schlachtete,
mein Vater: der mich aß,
meine Schwester: die Marleine,
sucht alle meine Gebeine,
bindet sie in ein seiden Tuch,
legt's unter den Wacholderbaum.
Kywitt, kywitt, was für ein
schöner Vogel bin ich!"
Der Goldschmied saß in seiner
Werkstatt und machte eine goldene Kette, da hörte er den Vogel, der
auf seinem Dach saß und sang, und das dünkte ihm so schön.
Da stand er auf, und als er über
den Söller ging, da verlor er einen Pantoffel.
Er ging aber so recht mitten auf die
Straße hin, einen Pantoffel und eine Socke an; sein Schurzfell hatte
er vor, und in der einen Hand hatte er die goldene Kette und in der andern
die Zange; und die Sonne schien so hell auf die Straße.
Da ging er recht so stehen und sah
den Vogel an.
"Vogel," sagte er da, "wie schön
kannst du singen! Sing mir das Stück nochmal."
"Nein," sagte der Vogel, "zweimal
sing ich nicht umsonst. Gib mir die goldene Kette, so will ich dir's nochmal
singen."
"Da," sagte der Goldschmied, "hast
du die goldene Kette, nun sing mir das nochmal."
Da kam der Vogel und nahm die goldene
Kette so in die rechte Pfote, und ging vor den Goldschmied sitzen und sang:
"Meine Mutter: die mich schlachtete,
mein Vater: der mich aß,
meine Schwester: die Marleine,
sucht alle meine Gebeine,
bindet sie in ein seiden Tuch,
legt's unter den Wacholderbaum.
Kywitt, kywitt, was für ein
schöner Vogel bin ich!"
Da flog der Vogel weg zu einem Schuster,
und setzte sich auf dessen Dach und sang:
"Meine Mutter: die mich schlachtete,
mein Vater: der mich aß,
meine Schwester: die Marleine,
sucht alle meine Gebeine,
bindet sie in ein seiden Tuch,
legt's unter den Wacholderbaum.
Kywitt, kywitt, was für
ein schöner Vogel bin ich!"
Der Schuster hörte das und lief
vor seine Tür in Hemdsärmeln, und sah zu seinem Dach hinauf und
mußte die Hand vor die Augen halten, daß die Sonne ihn nicht
blendete.
"Vogel," sagte er, "was kannst du
schön singen."
Da rief er in seine Tür hinein:
"Frau, komm mal heraus, da ist ein Vogel; sieh mal den Vogel, der kann
mal schön singen."
Da rief er seine Tochter und Kinder
und Gesellen, Junge und Magd, und sie kamen alle auf die Straße und
sahen den Vogel an, wie schön er war, und er hatte so recht rote und
grüne Federn, und um den Hals war das wie lauter Gold, und die Augen
blinkten ihm im Kopf wie Sterne.
"Vogel," sagte der Schuster, "nun
sing mir das Stück nochmal."
"Nein," sagte der Vogel, "zweimal
sing ich nicht umsonst, du mußt mir was schenken."
"Frau," sagte der Mann, "geh auf
den Boden; in dem obersten Fach, da stehen ein Paar rote Schuhe, die bring
her." Da ging die Frau hin und holte die Schuhe.
"Da, Vogel," sagte der Mann, "nun
sing mir das Stück nochmal."
Da kam der Vogel und nahm die Schuhe
in die linke Klaue, und flog wieder auf das Dach und sang:
"Meine Mutter: die mich schlachtete,
mein Vater: der mich aß,
meine Schwester: die Marleine,
sucht alle meine Gebeine,
bindet sie in ein seiden Tuch,
legt's unter den Wacholderbaum.
Kywitt, kywitt, was für
ein schöner Vogel bin ich!"
Und als er ausgesungen hatte, so flog
er weg: Die Kette hatte er in der rechten und die Schuhe in der linken
Klaue, und er flog weit weg zu einer Mühle, und die Mühle ging
und in der Mühle, da saßen zwanzig
Müllerburschen, die behauten einen Stein und hackten
und die Mühle ging
Da ging der Vogel auf einen Lindenbaum sitzen,
der vor der Mühle stand, und sang:
"Meine Mutter: die mich schlachtete,"
da hörte einer auf,
"mein Vater: der mich aß,"
da hörten noch zwei auf und hörten
das,
"meine Schwester: die Marleine,"
da hörten wieder vier auf,
"sucht alle meine Gebeine,
bindet sie in ein seiden Tuch,"
nun hackten noch acht,
nun noch fünf,
nun noch einer.
"Kywitt, kywitt,
was für ein schöner Vogel
bin ich!"
Da hörte der letzte auch auf und hatte
das letzte noch gehört.
"Vogel," sagte er, "was singst du schön!
Laß mich das auch hören, sing mir das nochmal."
"Nein," sagte der Vogel, "zweimal sing
ich nicht umsonst, gib mir den Mühlstein, so will ich das nochmal
singen."
"Ja," sagte er, "wenn er mir allein
gehört, so sollst du ihn haben."
"Ja," sagten die andern, "wenn er nochmal
singt, so soll er ihn haben."
Da kam der Vogel heran, und die Müller
faßten alle zwanzig mit Bäumen an und hoben den Stein auf:
Da steckte der Vogel den Hals durch das
Loch und nahm ihn um wie einen Kragen, und flog wieder auf den Baum und
sang:
"Meine Mutter: die mich schlachtete,
mein Vater: der mich aß,
meine Schwester: die Marleine,
sucht alle meine Gebeine,
bindet sie in ein seiden Tuch,
legt's unter den Wacholderbaum.
Kywitt, kywitt,
was für ein schöner Vogel
bin ich!"
Und als er das ausgesungen hatte, da
tat er die Flügel voneinander, und hatte in der rechten Klaue die
Kette und in die linken die Schuhe und um den Hals den Mühlstein,
und flog weit weg zu seines Vaters Haus.
|
Als Grabtuch
dient ein Tuch aus der untersten bescheiden-intimen Schublade ihrer
Kommode, Gegensatz zu dem "Halstuch"des Geköpften aus dem obersten
Fach der Truhe ihrer Mutter.
Grabstätte ist das Grab
der ersten Frau unter dem Wacholderbaum, in der "Lebensbaum"-Wurzel:
der todestiefe "Versenkungsgrund" der bei der Geburt "an Freude" verstorbenen
Mutter des "kleinen Sohnes"; er wird gewissermaßen in
ihren Schoß zurückgelegt zur Wiedergeburt –
"kann ein Mensch wiederum
in seiner Mutter Schoß eingehen und geboren werden?" (Johannes 3,4)
Die Gleichörtlichkeit von Sündenfall, Begräbnisstätte
der Ureltern (also auch Evas) und Grab des Gottessohnes, somit auch die
identische Mitte von Lebensbaum,
Todesdurchgang und Todesüberwindung bildet bereits in der "Schatzhöhle"
die innere Achse des insgesamt menschengestaltigen
Welt-Zeit-Raums. Unter dem Wacholder liegt ja die Mutter
begraben, wo nun die weinende Schwester die zusammen-gesuchten
Gebeine des Jungen begräbt.
Und nun wird alles ganz anders, inhaltlich, in der Weiträumigkeit
des Geschehens, wie auch im Erzählton des Märchens.
Sechs Wochen sei der Junge angeblich auf Verwandtenbesuch
– das ist der Zeitraum
von Passion bis Himmelfahrt (Apostelgeschichte 1,3), die Zeit, in der
die Auferstehung des Sohnes das Verstehen, die Gemütskräfte und
die Sinne der Jünger "hinter verschlossenen Türen" durchdringt,
wo der Auferstandene ihnen die
Schrift auslegt, wo er ihnen zu Gesicht
und Gehör, ja sogar zur Tastempfindung
kommt, bis am Ende diese Erfülltheit
von innen her das Wahrnehmen der Jünger überschreitet und
der Auferstandene sich in die "Wolken
des Himmels" aufzulösen scheint, aus denen er als der "Menschensohn"
der Apokalypse wiederkehren soll. Zehn
Tage später bricht mit Sturmbrausen, Feuerflammen und allverständlicher
Redegabe der Geist in den Jüngern durch.
Wie nun erlebt der Redebegabte dieses Märchens den
Auferstandenen?
Im Zweitausendjahre-Rückblick liegen nicht nur Passion
und Ostern sondern auch der pfingstliche
Feuer-Sprachen-Sturm des Geistes integrativ-dicht beieinander und durchdringen
sich zu einem geradezu "pfingstlichen" Auferstehen: Der Sohn erscheint
in der Vogelgestalt
des Heiligen Geistes, aber nicht als Taube herabschwebend, auch nicht
als herabsinkende Feuerflamme,
sondern als Phönix
feurig aufsteigend.
Der "Phönix" ist
der Vogel, der sich selbst in einem Todesdurchgang ("alle
500 Jahre" sagt Pythagoras in den "Metamorphosen" des Ovid) neu erzeugt;
er sammelt Weihrauch und Balsam,
verbrennt mit diesen Essenzen der religiösen
Hingabe und steigt in deren Duft aus
den Flammen kindlich-frisch empor. In Wolframs "Parzival" heißt es
vom Gral: "von des steines
craft der fênîs verbrinnet, daz er ze aschen wirt: diu asche
im aber leben birt."
Wacholder
gibt mit den ätherischen Ölen seiner Zweige und Früchte
den "Weihrauch" der Völker diesseits der Alpen; wir erinnern uns bei
der Schilderung der Baumverwandlung auch an den brennenden Dornbusch Moses,
in dem ihm der "Ich-bin-der-Ich-Bin"
erschien.
Die ansonsten in Farbe und Form eher düster und
verschlossen wirkende Säule des alten heiligen Wacholders
entfaltet nun neuartig ihre Äste und Zweige, wie ein Mensch seine
Arme morgendlich reckt und streckt; der Wolkenduft des Himmels geht von
dem Baum aus, darin leuchtet es feuergleich auf, und dieses Erhellen des
Baumes erscheint menschlich, als ein Ausdruck der Freude, und zugleich
erfreulich: im sympathetischen wechselseitigen Ineinander der gestischen
Baumes-"Entwicklung" und der büßenden Betrachterin, wie bereits
oben bei der
Schwangerschaft der "Frau" mit dem Logos-Kind. Die unter dem Baum begrabene
Mutter trägt
ihren Sohn erneut aus, nun nicht in den neun Vegetations-Monaten des
Jahreskreises, sondern in einer einzigen Osternacht.
Der Phönix ist
wunderschön und singt bezaubernd (nach dem Urteil aller,die ihn nun
hören); seine Farben sind
Rot (wie Blut), Grün (wie die frische Frühlingsnatur) und
Gold (entsprechend der Himmelfahrt,
die diesen österlichen Vogel bereits verklärt, vergleiche
das Auferstehungsbild des Isenheimer Altars): ein Astralwesen mit Sternen-Augen;
hinter ihm leuchtet blendend hell
die Sonne
auf (s. Psalm 19,6 und Markus
16,2).
Die Handlung wird nun mit dem Phönix
fortgeführt: Er ist nicht mehr bloßes Opferobjekt der geistigen,
seelischen und innerleiblichen Kräfte um ihn, die ihn "herumschubsten",
verarbeiteten und verzehrten,
sondern ichhafter Handlungsträger, lebendige
Handlungsquelle, tätiges Subjekt in freier Entfaltung seiner Schwingen.
Darin ist der eigentliche Schlüssel
zum Verständnis der Auferstehung von den Toten zu finden: Stehen hinter
den Dingen Vorgänge und hinter Vorgängen tätige Kräfte,
so ist die Handlungssubstanz der tätigen
Kräfte hinter den chemisch-biologischen Lebensvorgängen und
deren zu Dingen abgestorbenen Außenaspekten die eigentliche
Wirklichkeit jener dinglichen, zuständlichen und bewegten Erscheinungen.
Tätigkeit läßt den Geist durchbrechen, der in Dinglichkeit,
Zuständlichkeit und passiven Bewegungen verborgen liegt; denn er ist
die Quelle aller aktiver Bewegungen und konkretisiert
sich in der Handlungsverantwortung des freien Willens, des schöpferischen
Ich.
Und dieser Phönix
singt nun immer wieder sein Evangelium
von der Verwandlung,
in der er eben besteht, seine "Lebensschrift"-Chiffre
("Biographie"): Sieben Verse, in
denen Opfer, Abendmahl und Begräbnis Erinnerungen
des vom Tode erweckten "Vogels" sind,
der nun staunend seine Schönheit verkündet.
In drei Phasen stuft sich dann die Entwicklung des tätigen
Menschen, des "homo faber", die geschichtlich-gesellschaftliche Arbeits-Ordnung
bis zum Erzähler des Märchens hin, der gemäß den Einleitungsworten
auf die fast zweitausend Jahre der christlichen Ära zurückblickt:
Zuerst setzt der Vogel sich auf das Dach eines Goldschmieds.
In der goldenen Kette, die er sich mit seinem Gesang erkauft, konzentriert
und symbolisiert sich die alte, würdevolle Weisheit, an der (gemäß
Homer,
Ilias 8,19) die Erde vom Himmel (ab-)hängt; die Kette, deren Ringe
der Schmied gerade mit seiner Zange zusammengeschlossen hat, bringt die
Vermittlungs-, Traditions- und Schlußketten
der Kultur-Selbstverständigung ins Bild.
Dann auf das Dach eines Schusters,
der mehr die Gefühls- und Gemütslebendigkeit des Menschen darstellt;
vor der blendenden Sonne über dem
Dach muß er sich mit der Hand schützen, er verträgt das
Erkenntnislicht nicht unmittelbar, aber er holt in seiner Begeisterung
gleich seine ganze Familie und seine Mitarbeiter "aus dem Häuschen",
damit sie den schönen Vogel mit ihm bestaunen. Bei ihm tauscht der
Phönix ein Paar roter Schuhe für
seine Gesangswiederholung ein. |
In
der Stube saß der Vater, die Mutter und Marlenchen zu Tisch, und
der Vater sagte: "Ach, was wird mir licht, mir ist recht so gut zu Mute."
"Nein," sagte die
Mutter, "mir ist recht so angst, so recht, als wenn ein schwer Gewitter
kommt."
Marlenchen aber saß
und weinte und weinte.
Da kam der Vogel angeflogen,
und als er sich auf das Dach setzte, "Ach," sagte der Vater, "mir ist so
recht freudig, und die Sonne scheint draußen so schön, mir ist
recht, als soll ich einen alten Bekannten wiedersehen."
"Nein," sagte die
Frau, "mir ist so angst, die Zähne klappern mir, und das ist mir wie
Feuer in den Adern." Und sie riß sich ihr Leibchen auf und so mehr.
Aber Marlenchen saß
in einer Ecke und weinte, und hatte ihren Teller vor den Augen, und weinte
den Teller ganz plitschnaß.
Da setzte sich der
Vogel auf den Wacholderbaum und sang:
"Meine Mutter: die mich schlachtete,"
da hielt die Mutter die
Ohren zu und kniff die Augen zu, und wollte nicht sehen und hören,
aber das brauste ihr in den Ohren wie der allerstärkste Sturm, und
die Augen brannten ihr und zackten wie Blitze.
"mein Vater: der mich aß,"
"Ach, Mutter," sagte der Mann, "da ist ein
schöner Vogel, der singt so herrlich, die Sonne scheint so warm, und
das riecht wie lauter Zimt."
"meine Schwester: die Marleine,"
Da legte Marlenchen den Kopf auf die Knie
und weinte in einem fort, der Mann aber sagte: "Ich geh hinaus, ich muß
den Vogel dicht bei sehen."
"Ach, geh nicht," sagte die Frau, "mir
ist, als bebte das ganze Haus und stünde in Flammen."
Aber der Mann ging hinaus und sah den
Vogel an.
"sucht alle meine Gebeine,
bindet sie in ein seiden Tuch,
legt's unter den Wacholderbaum.
Kywitt, kywitt,
was für ein schöner Vogel
bin ich!"
Indessen ließ der Vogel die goldene
Kette fallen, und sie fiel dem Mann just um den Hals, so recht hier herum,
daß sie recht so schön passte.
Da ging er herein und sagte: "Sieh,
was ist das für ein schöner Vogel, hat mir so eine schöne
goldene Kette geschenkt, und sieht so schön aus."
Der Frau aber war so angst und fiel
längs in der Stube hin, und die Mütze fiel ihr von dem Kopf.
Da sang der Vogel wieder
"Meine Mutter: die mich schlachtete,"
"Ach, das ich tausend Fuder unter der
Erd wäre, das ich das nicht hören müßte!"
"mein Vater: der mich aß,"
Da fiel die Frau vor tot nieder.
"meine Schwester: die Marleine,"
"Ach," sagte Marlenchen,
"ich will auch hinausgehen und sehen, ob der Vogel mir was schenkt." Da
ging sie hinaus.
"sucht alle meine Gebeine,
bindet sie in ein seiden Tuch,"
Da schmiß er ihr die Schuhe herab.
"legt's unter den Wacholderbaum.
Kywitt, kywitt,
was für ein schöner Vogel
bin ich!"
Da war ihr so licht und fröhlich.
Da zog sie die neuen roten Schuhe
an, und tanzte und sprang herein.
"Ach," sagte sie, "ich war so traurig,
als ich hinausging, und nun ist mir so licht, das ist mal ein herrlicher
Vogel, hat mir ein Paar rote Schuhe geschenkt."
"Nein," sagte die Frau und sprang auf,
und die Haare standen ihr zu Berge wie Feuerflammen, "mir ist, als sollte
die Welt untergehen, ich will auch hinaus, ob mir lichter werden soll."
Und als sie aus der Tür kam – bratsch!
schmiß ihr der Vogel den Mühlstein auf den Kopf, daß sie
ganz zermatscht war.
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Zum dritten fliegt der Vogel zu einer Manufaktur,
in der zwanzig junge "Müller" einen Stein
behauen, widerständige Willenskraft
nach der edlen Weisheit des alten Goldschmieds und dem Gefühlsüberschwang
des familiären Schusters. Das Evangelium des Vogels dringt nur schrittweise
durch deren eigene Arbeitsrhythmik und Anstrengung hindurch. Nach dem einen
Goldschmied und dem Familienbetrieb des Schusters nun die große Manufaktur-Belegschaft,
in der alle mit anpacken müssen, um den für das Lied eingehandelten
Mühlstein auf den Hals des Vogels zu hieven.
Die Tätigkeits-Substanzialität des feuergeborenen
Geistwesens hat in der arbeitenden Ausgestaltung der Materien, Stoffe und
Widerstände ihre Entsprechung gefunden: Der
"Sohn" wirkt in der Arbeit der Menschen. Die Tätigkeiten des Goldschmieds,
des Schusters und der Steine behauenden Müllerburschen repräsentieren
zugleich Denken, Fühlen und Wollen in der Erarbeitung von leiblich
konzentrierter Erfahrungs-Weisheit, seelenbewegender Freude und geistig
initiierter Widerstandbewältigung.
Goldkette, Tanzschuhe und Mühlstein hat der Sänger
mit dem jeweils zweiten Vorsingen seines Liedes "bezahlt", Leistung gegen
Leistung, Werk für Werk, Wert für Wert, aber ohne krämerische
Enge: Zur Erweckung gab es zuvor immer eine Strophe gratis: Gnade kommt
vor Werklohn; aber die von den Arbeitern, die durch die Gnadenstrophe aufgeweckt
worden sind, bewußt geforderte Wiederholungs-Leistung des Sängers
ist ihres Lohnes wert: Die erweckten Zuhörer opfern ihr Werkstück
dem Vogel, der sie an die innermenschlichen Leibes-, Seelen- und Geisteskräfte,
die in dem Vater, Marlenchen und der zweiten Frau personifiziert sind,
weiterreicht.
Denn nun folgt mit dem jüngsten
Gericht, mit der Ernte und Scheidung der Lebensfrüchte, mit der
großen "Krisis" des Endes
die apokalyptische Wiederkehr des
Menschensohnes:
Vom weiten Ausflug kehrt der Phönix
nach Hause zurück, zu den im Haus beieinander sitzenden Repräsentanten
der am Menschen wirkenden Kräfte, die sich nun im "jüngsten
Gericht" scheiden müssen. Das Lied des Vogels lockt sie hervor
wie zuvor die Handwerker aus ihren Werkstätten, und sie bekommen die
Gaben, die sich der auferstandene Seelenvogel mit seinem "Evangelium" ersungen
hat, zum Lohn ihres Wirkens an der Neugeburt des geistigen Menschen:
Der Vater, leiblicher Erfahrungsträger, nun auch
am hellen Tage "bei sich" zuhause, bekommt die goldene Weisheitskette,
Marlenchen erfreut sich des Paares roter Tanzschuhe, der Frau, die
schon mit dem ersten Wetterleuchten dieses "Advents"die Enge nicht mehr
erträgt, die im Kontrapunkt zu dem Verwundern und der Freude des Vaters
und Marlenchens von Angst überwältigt wird, zusammenbricht und
in Entsetzen auflodert, wird der Mühlstein übergeworfen,
denn: "Wer
einem dieser Kleinen, die an mich glauben, eine Falle (skandalon) stellt,
dem wäre besser, daß ein Mühlstein um seinen Hals
gehängt würde und er im tiefen Meer ersäuft würde.
Wehe
der Welt wegen der Fallen, denn es ist notwendig, daß Fallen zuschlagen;
doch wehe dem Menschen, durch den die Falle zuschlägt!" |
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(Apokalypse 3,20)
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