DIE SPALTUNG
DER PERSÖNLICHKEIT WAHREND DER GEISTESSCHULUNG
Während des Schlafes empfängt die menschliche
Seele nicht die Mitteilungen von seiten der physischen Sinneswerkzeuge.
Die Wahrnehmungen der gewöhnlichen Außenwelt fließen ihr
in diesem Zustande nicht zu. Sie ist in Wahrheit in gewisser Beziehung
außerhalb des Teiles der menschlichen Wesenheit, des sogenannten
physischen Leibes, welcher im Wachen die Sinneswahrnehmungen und das Denken
vermittelt. Sie ist dann nur in Verbindung mit den feineren Leibern (dem
Ätherleib und dem Astralleib), welche sich der Beobachtung der physischen
Sinne entziehen. Aber die Tätigkeit dieser feineren Leiber hört
im Schlafe nicht etwa auf. So wie der physische Leib mit den Dingen und
Wesen der physischen Welt in Verbindung steht, wie er von ihnen Wirkungen
empfängt und auf sie wirkt, so lebt die Seele in einer höheren
Welt. Und dieses Leben dauert während des Schlafes fort. Tatsächlich
ist die Seele während des Schlafes in voller Regsamkeit. Nur kann
der Mensch von dieser seiner eigenen Tätigkeit so lange nichts wissen,
als er nicht geistige Wahmehmungsorgane hat, durch welche er während
des Schlafes ebensogut beobachten kann, was um ihn herum vorgeht und was
er selber treibt, wie er das mit seinen gewöhnlichen Sinnen im Tagesleben
für seine physische Umgebung kann. Die Geheimschulung besteht (wie
in den vorhergehenden Kapiteln gezeigt worden ist) in der Ausbildung solcher
geistigen Sinneswerkzeuge.
Verwandelt sich nun durch die Geheimschulung das
Schlafleben des Menschen in dem Sinne, wie es im vorigen Kapitel beschrieben
worden ist, so kann er alles, was in diesem Zustande um ihn herum vorgeht,
bewußt verfolgen; er kann sich willkürlich in seiner Umgebung
zurechtfinden, wie das mit seinen Erlebnissen während des wachen Alltagslebens
durch die gewöhnlichen Sinne der Fall ist. Dabei ist allerdings zu
beachten, daß die Wahrnehmung der gewöhnlichen sinnlichen Umgebung
schon einen höheren Grad des Hellsehens voraussetzt. (Es ist darauf
schon im vorigen Kapitel hingedeutet worden.) Im Beginn der Entwickelung
nimmt der Geheimschüler nur Dinge wahr, die einer anderen Welt angehören,
ohne deren Zusammenhang mit den Gegenständen seiner alltäglichen
sinnlichen Umgebung bemerken zu können.
Was an so charakteristischen Beispielen des Traum-
und Schlaflebens anschaulich wird, findet fortwährend beim Menschen
statt. Die Seele lebt ohne Unterbrechung in höheren Welten und ist
innerhalb der letzteren tätig. Sie schöpft aus diesen höheren
Welten heraus die Anregungen, durch welche sie immerwährend auf den
physischen Leib wirkt. Nur bleibt für den Menschen dieses sein höheres
Leben unbewußt. Der Geheimschüler aber bringt es zum
Bewußtsein. Dadurch wird sein Leben überhaupt ein anderes. Solange
die Seele nicht im höheren Sinne sehend ist, wird sie von übergeordneten
Weltwesen geführt. Und wie das Leben eines Blinden, der durch Operation
sehend geworden ist, ein anderes wird, als es vorher war, da er sich auf
seine Führerschaft verlassen mußte, so ändert sich das
Leben des Menschen durch die Geheimschulung. Er wird der Führerschaft
entwachsen und muß fortan seine Leitung selbst übernehmen. Sobald
dies eintritt, ist er, wie begreiflich, Irrtümern unterworfen, von
denen das gewöhnliche Bewußtsein nichts ahnt. Er handelt jetzt
aus einer Welt heraus, aus der ihn früher höhere Gewalten, ihm
selbst unbewußt, beeinflußten. Diese höheren Gewalten
sind durch die allgemeine Weltharmonie geordnet. Aus dieser Weltharmonie
tritt der Geheimschüler heraus. Er hat nunmehr selbst Dinge zu tun,
die vorher für ihn ohne sein Zutun vollzogen worden sind.
Weil dies letztere der Fall ist, deshalb wird in
den Schriften, die von solchen Dingen handeln, viel von den Gefahren gesprochen,
welche mit dem Aufstieg in die höheren Welten verbunden sind. Die
Schilderungen, die da zuweilen von solchen Gefahren gemacht werden, sind
wohl geeignet, ängstliche Gemüter nur mit Schaudern auf dieses
höhere Leben blicken zu lassen. Doch muß gesagt werden, daß
diese Gefahren nur dann vorhanden sind, wenn die notwendigen Vorsichtsmaßregeln
außer acht gelassen werden. Wenn dagegen wirklich alles beachtet
wird, was wahre Geheimschulung als Ratschläge an die Hand gibt, dann
erfolgt der Aufstieg zwar durch Erlebnisse hindurch, die an Gewalt und
Größe alles überragen, was die kühnste Phantasie des
Sinnesmenschen sich ausmalen kann; aber von einer Beeinträchtigung
der Gesundheit oder des Lebens kann nicht die Rede sein. Der Mensch lernt
grausige, das Leben an allen Ecken und Enden bedrohende Gewalten kennen.
Es wird ihm möglich, sich selbst gewisser Kräfte und Wesen zu
bedienen, welche der sinnlichen Wahrnehmung entzogen sind. Und die Versuchung
ist groß, sich dieser Kräfte im Dienste eines eigenen unerlaubten
Interesses zu bemächtigen oder aus mangelnder Erkenntnis der höheren
Welten in irrtümlicher Weise solche Kräfte zu verwenden. Einige
von solchen besonders bedeutsamen Erlebnissen (zum Beispiel die Begegnung
mit dem «Hüter der Schwelle») sollen noch in diesen Aufsätzen
geschildert werden. – Aber man muß doch bedenken, daß die lebenfeindlichen
Mächte auch dann vorhanden sind, wenn man sie nicht kennt. Wahr ist
allerdings, daß dann deren Verhältnis zum Menschen von höheren
Kräften bestimmt wird und daß dieses Verhältnis sich auch
ändert, wenn der Mensch mit Bewußtsein in diese ihm vorher verborgene
Welt eintritt. Aber es wird dafür auch sein eigenes Dasein gesteigert,
sein Lebenskreis um ein ungeheures Feld bereichert. Eine wirkliche Gefahr
liegt nur dann vor, wenn der Geheimschüler durch Ungeduld oder Unbescheidenheit
sich gegenüber den Erfahrungen der höheren Welt zu früh
eine gewisse Selbständigkeit beimißt, wenn er nicht abwarten
kann, bis ihm die zureichende Einsicht in die übersinnlichen Gesetze
wirklich zuteil wird. Auf diesem Gebiete sind eben Demut und Bescheidenheit
noch viel weniger leere Worte als im gewöhnlichen Leben. Sind diese
aber dem Schüler im allerbesten Sinne eigen, so kann er sicher sein,
daß sich sein Aufstieg ins höhere Leben gefahrlos für alles
das vollzieht, was man gewöhnlich Gesundheit und Leben nennt. – Vor
allen Dingen darf keine Disharmonie aufkommen zwischen den höheren
Erlebnissen und den Vorgängen und Anforderungen des alltäglichen
Lebens. Des Menschen Aufgabe ist durchaus auf dieser Erde zu suchen. Und
wer den Aufgaben auf dieser Erde sich entziehen und in eine andere Welt
flüchten will, der mag sicher sein, daß er sein Ziel nicht erreicht.
– Aber was die Sinne wahrnehmen, ist nur ein Teil der Welt. Und im Geistigen
liegen die Wesenheiten, welche sich in den Tatsachen der sinnlichen Welt
ausdrücken. Man soll teilhaftig werden des Geistes, damit man seine
Offenbarungen in die Sinneswelt hineintragen kann. Der Mensch gestaltet
die Erde um, indem er ihr einpflanzt, was er von dem Geisterlande her erkundet.
Darinnen liegt seine Aufgabe. Nur weil die sinnliche Erde von der geistigen
Welt abhängt, weil man wahrhaftig auf der Erde nur wirken kann, wenn
man Teilhaber an jenen Welten ist, in denen die schaffenden Kräfte
verborgen sind, deshalb soll man zu diesen letzteren aufsteigen wollen.
Tritt man mit dieser Gesinnung an die Geheimschulung heran und weicht man
keinen Augenblick von der dadurch vorgezeichneten Richtung ab, dann hat
man nicht die allergeringsten Gefahren zu befürchten. Niemand sollte
sich von den in Aussicht stehenden Gefahren von der Geheimschulung abhalten
lassen; für einen jeden aber sollte diese Aussicht eine strenge Aufforderung
sein, sich durchaus jene Eigenschaften anzueignen, welche der wahre Geheimschü1er
haben soll.
Nach diesen Voraussetzungen, die wohl alles Schreckhafte
beseitigen, soll nun hier an die Schilderung einiger sogenannter «Gefahren»
geschritten werden. Große Veränderungen gehen allerdings mit
den obengenannten feineren Leibern beim Geheimschüler vor sich. Solche
Veränderungen hängen mit gewissen Entwickelungsvorgängen
der drei Grundkräfte der Seele, mit Wollen, Fühlen und
Denken zusammen. Diese drei Kräfte stehen vor der Geheimschulung
des Menschen in einer ganz bestimmten, durch höhere Weltgesetze geregelten
Verbindung. Nicht in beliebiger Weise will, fühlt oder denkt
der Mensch. Wenn zum Beispiel eine bestimmte Vorstellung im Bewußtsein
auftaucht, so schließt sich an sie nach natürlichen Gesetzen
ein gewisses Gefühl oder es folgt auf sie ein gesetzmäßig
mit ihr zusammenhängender Willensentschluß. Man betritt ein
Zimmer, findet es dumpfig und öffnet die Fenster. Man hört seinen
Namen rufen und folgt dem Rufe. Man wird gefragt und gibt Antwort. Man
sieht ein übelriechendes Ding und bekommt ein Gefühl von Unlust.
Das sind einfache Zusammenhänge zwischen Denken, Fühlen und Wollen.
Wenn man aber das menschliche Leben überschaut, so wird man finden,
daß sich alles in diesem Leben auf solche Zusammenhänge aufbaut.
Ja, man bezeichnet das Leben eines Menschen nur dann als ein «normales»,
wenn man in demselben eine solche Verbindung von Denken, Fühlen und
Wollen bemerkt, die in den Gesetzen der menschlichen Natur begründet
liegt. Man fände es diesen Gesetzen widersprechend, wenn ein Mensch
zum Beispiel beim Anblick eines übelriechenden Gegenstandes ein Lustgefühl
empfände oder wenn er auf Fragen nicht antwortete. Die Erfolge, die
man sich von einer richtigen Erziehung oder einem angemessenen Unterricht
verspricht, beruhen darauf, daß man voraussetzt, man könne eine
der menschlichen Natur entsprechende Verbindung zwischen Denken, Fühlen
und Wollen beim Zögling herstellen. Wenn man diesem gewisse Vorstellungen
beibringt, so tut man es in der Annahme, daß sie später mit
seinen Gefühlen und Willensentschlüssen in gesetzmäßige
Verbindungen eingehen. – Alles das rührt davon her, daß in den
feineren Seelenleibern des Menschen die Mittelpunkte der drei Kräfte,
des Denkens, Fühlens und Wollens, in einer gesetzmäßigen
Art miteinander verbunden sind. Und diese Verbindung in dem feineren Seelenorganismus
hat auch ihr Abbild in dem groben physischen Körper. Auch in diesem
stehen die Organe des Wollens in einer gewissen gesetzmäßigen
Verbindung mit denen des Denkens und Fühlens. Ein bestimmter Gedanke
ruft regelmäßig daher ein Gefühl oder eine Willenstätigkeit
hervor. – Bei der höheren Entwickelung des Menschen werden nun die
Fäden, welche die drei Grundkräfte miteinander verbinden, unterbrochen.
Zuerst geschieht diese Unterbrechung nur in dem charakterisierten feineren
Seelenorganismus; bei noch höherem Aufstieg aber erstreckt sich die
Trennung auch auf den physischen Körper. (Es zerfällt bei der
höheren geistigen Entwickelung des Menschen tatsächlich zum Beispiel
sein Gehirn in drei voneinander getrennte Glieder. Die Trennung ist allerdings
eine solche, daß sie für die gewöhnliche sinnliche Anschauung
nicht wahrnehmbar und auch durch die schärfsten sinnlichen Instrumente
nicht nachweisbar ist. Aber sie tritt ein, und der Hellseher hat Mittel,
sie zu beobachten. Das Gehirn des höheren Hellsehers zerfällt
in drei selbständig wirkende Wesenheiten: das Denk-, Fühl- und
Willensgehirn.)
Die Organe des Denkens, Fühlens und Wollens
stehen sodann ganz frei für sich da. Und ihre Verbindung wird nunmehr
durch keine ihnen selbst eingepflanzten Gesetze hergestellt, sondern muß
durch das erwachte höhere Bewußtsein des Menschen selbst besorgt
werden. – Das ist nämlich die Veränderung, welche der Geheimschüler
an sich bemerkt, daß kein Zusammenhang zwischen einer Vorstellung
und einem Gefühl oder einem Gefühl und einem Willensentschluß
und so weiter sich einstellt, wenn er nicht selbst einen solchen schafft.
Kein Antrieb führt ihn von einem Gedanken zu einer Handlung, wenn
er diesen Antrieb nicht frei in sich bewirkt. Er kann nunmehr völlig
gefühllos vor einer Tatsache stehen, die ihm vor seiner Schulung glühende
Liebe oder ärgsten Haß eingeflößt hat; er kann untätig
bleiben bei einem Gedanken, der ihn vorher zu einer Handlung wie von selbst
begeistert hat. Und er kann Taten verrichten aus Willensentschlüssen
heraus, für welche bei einem nicht durch die Geheimschulung hindurchgegangenen
Menschen auch nicht die geringste Veranlassung vorliegt. Die große
Errungenschaft, welche dem Geheimschüler zuteil wird, ist, daß
er die vollkommene Herrschaft erlangt über das Zusammenwirken der
drei Seelenkräfte; aber dieses Zusammenwirken wird dafür auch
vollständig in seine eigene Verantwortlichkeit gestellt.
Erst durch diese Umwandlung seines Wesens kann der
Mensch in bewußte Verbindung treten mit gewissen übersinnlichen
Kräften und Wesenheiten. Denn es haben seine eigenen Seelenkräfte
zu gewissen Grundkräften der Welt entsprechende Verwandtschaft. Die
Kraft zum Beispiel, die im Willen liegt, kann auf bestimmte Dinge und Wesenheiten
der höheren Welt wirken und diese auch wahrnehmen. Aber sie kann das
erst dann, wenn sie frei geworden ist von ihrer Verbindung mit dem Fühlen
und Denken innerhalb der Seele. Sobald diese Verbindung gelöst ist,
tritt die Wirkung des Willens nach außen hervor. Und so ist es auch
mit den Kräften des Denkens und Fühlens. Wenn mir ein Mensch
ein Haßgefühl zusendet, so ist dieses für den Hellseher
sichtbar als eine feine Lichtwolke von bestimmter Färbung. Und ein
solcher Hellseher kann dieses Haßgefühl abwehren, wie der Sinnesmensch
einen physischen Schlag abwehrt, der gegen ihn geführt wird. Der Haß
wird in der übersinnlichen Welt eine anschaubare Erscheinung. Aber
nur dadurch kann ihn der Hellseher wahrnehmen, daß er die Kraft,
die in seinem Gefühle liegt, nach außen zu senden vermag, wie
der Sinnesmensch die Empfänglichkeit seines Auges nach außen
richtet. Und so wie mit dem Haß ist es mit weit bedeutungsvolleren
Tatsachen der sinnlichen Welt. Der Mensch kann mit ihnen in bewußten
Verkehr treten durch die Freilegung der Grundkräfte seiner Seele.
Durch die geschilderte Trennung der Kräfte
des Denkens, Fühlens und Wollens ist nun, bei Außerachtlassung
der geheimwissenschaftlichen Vorschriften, eine dreifache Verirrung auf
dem Entwickelungsgange des Menschen möglich. Eine solche kann eintreten,
wenn die Verbindungsbahnen zerstört werden, bevor das höhere
Bewußtsein mit seiner Erkenntnis so weit ist, daß es die Zügel,
die ein freies harmonisches Zusammenwirken der getrennten Kräfte herstellen,
ordentlich zu führen vermag. – Denn in der Regel sind nicht alle drei
Grundkräfte des Menschen in einem bestimmten Lebensabschnitt gleich
weit in ihrer Entwickelung vorgeschritten. Bei dem einen Menschen ist das
Denken dem Fühlen und Wollen vorangeschritten, bei einem zweiten hat
eine andere Kraft die Oberhand über ihre Genossen. Solange nun der
durch die höheren Weltgesetze hergestellte Zusammenhang der Kräfte
aufrechterhalten bleibt, kann durch das Hervorstechen der einen oder der
anderen keine im höheren Sinne störende Unregelmäßigkeit
eintreten. Beim Willensmenschen zum Beispiel wirken Denken und Gefühl
durch jene Gesetze doch ausgleichend, und sie verhindern, daß der
überwiegende Wille in besondere Ausartungen verfällt. Tritt ein
solcher Willensmensch aber in die Geheimschulung ein, so hört der
gesetzmäßige Einfluß von Gefühl und Gedanke auf den
zu ungeheuren Kraftleistungen unausgesetzt drängenden Willen vollständig
auf. Ist dann der Mensch in der vollkommenen Beherrschung des höheren
Bewußtseins nicht so weit, daß er selbst die Harmonie hervorrufen
kann, so geht der Wille seine eigenen zügellosen Wege. Er überwältigt
fortwährend seinen Träger. Gefühl und Denken fallen einer
vollkommenen Machtlosigkeit anheim; der Mensch wird durch die ihn sklavisch
beherrschende Willensmacht gepeitscht. Eine Gewaltnatur, die von
einer zügellosen Handlung zur anderen schreitet, ist entstanden. –
Ein zweiter Abweg entsteht, wenn das Gefühl in einer maßlosen
Art sich von den gesetzmäßigen Zügeln befreit. Eine zur
Verehrung anderer Menschen neigende Person kann sich dann in grenzenlose
Abhängigkeit bis zum Verluste jedes eigenen Willens und Gedankens
begeben. Statt höherer Erkenntnis ist dann die erbarmungswürdigste
Aushöhlung und Kraftlosigkeit das Los einer solchen Persönlichkeit.
– Oder es kann bei solch überwiegendem Gefühlsleben eine zu Frömmigkeit
und religiöser Erhebung neigende Natur in eine sie ganz hinreißende
Religionsschwelgerei verfallen. – Das dritte Übel bildet sich, wenn
das Denken überwiegt. Dann tritt eine lebensfeindliche, in sich verschlossene
Beschaulichkeit auf. Für solche Menschen scheint dann die Welt nur
mehr insoweit Bedeutung zu haben, als sie ihnen Gegenstände liefert
zur Befriedigung ihrer ins Grenzenlose gesteigerten Weisheitsgier. Sie
werden durch keinen Gedanken zu einer Handlung oder einem Gefühl angeregt.
Sie treten überall als teilnahmslose, kalte Naturen auf. Jede Berührung
mit Dingen der alltäglichen Wirklichkeit fliehen sie wie etwas, das
ihnen Ekel erregt oder das wenigstens für sie alle Bedeutung verloren
hat.
Das sind die drei Irrpfade, auf welche der Geheimschüler
geraten kann: das Gewaltmenschentum, die Gefühlsschwelgerei, das kalte
lieblose Weisheitsstreben. Für eine äußerliche Betrachtungsweise
– auch für die materialistische der Schulmedizin – unterscheidet sich
das Bild eines solchen auf Abwegen befindlichen Menschen, vor allen Dingen
dem Grade nach, nicht viel von demjenigen eines Irrsinnigen oder wenigstens
einer schwer «nervenkranken Person». Ihnen darf natürlich
der Geheimschüler nicht gleichen. Es kommt bei ihm darauf an, daß
Denken, Fühlen, Wollen, die drei Grundkräfte der Seele, eine
harmonische Entwickelung durchgemacht haben, bevor sie aus der ihnen eingepflanzten
Verbindung gelöst und dem erwachten höheren Bewußtsein
unterstellt werden können. – Denn ist einmal der Fehler geschehen,
ist eine Grundkraft der Zügellosigkeit anheimgefallen, so tritt die
höhere Seele zunächst als eine Fehlgeburt zutage. Die ungebändigte
Kraft füllt dann die ganze Persönlichkeit des Menschen aus; und
für lange ist nicht daran zu denken, daß alles wieder ins Gleichgewicht
kommt. Was als eine harmlose Charakterveranlagung erscheint, solange der
Mensch ohne Geheimschulung ist, nämlich ob er eine Willens-, Gefühls-
oder Denkernatur ist, das steigert sich beim Geheimschüler so, daß
sich das zum Leben notwendige Allgemeinmenschliche demgegenüber ganz
verliert. – Zu einer wirklich ernsten Gefahr wird das allerdings erst in
dem Augenblicke, in welchem der Schüler die Fähigkeit erlangt,
Erlebnisse wie im Schlafbewußtsein so auch im wachen Zustande vor
sich zu haben. Solange es bei der bloßen Erhellung der Schlafpausen
verbleibt, wirkt während des Wachzustandes das von den allgemeinen
Weltgesetzen geregelte Sinnesleben immer wieder ausgleichend auf das gestörte
Gleichgewicht der Seele zurück. Deshalb ist es so notwendig, daß
das Wachleben des Geheimschülers in jeder Richtung ein regelmäßiges,
gesundes sei. Je mehr er den Anforderungen entspricht, welche die äußere
Welt an eine gesunde, kräftige Gestaltung von Leib, Seele und Geist
stellt, desto besser ist es für ihn. Schlimm dagegen kann es für
ihn werden, wenn das alltägliche Wachleben aufregend oder aufreibend
auf ihn wirkt, wenn also zu den größeren Veränderungen,
die in seinem Inneren vorgehen, irgendwelche zerstörende oder hemmende
Einflüsse des äußeren Lebens hinzutreten. Er soll alles
aufsuchen, was seinen Kräften entsprechend ist und was ihn in ein
ungestörtes, harmonisches Zusammenleben mit seiner Umgebung hineinbringt.
Und er soll alles vermeiden, was dieser Harmonie Eintrag tut, was Unruhe
und Hast in sein Leben bringt. Dabei kommt es weniger darauf an, diese
Unruhe und Hast sich in einem äußerlichen Sinne abzuwälzen,
als vielmehr darauf, zu sorgen, daß die Stimmung, die Absichten und
Gedanken und die Gesundheit des Leibes darunter nicht fortwährenden
Schwankungen ausgesetzt werden. – All das fällt dem Menschen während
seiner Geheimschulung nicht so leicht wie vorher. Denn die höheren
ErJehnisse, die nunmehr in sein Leben hineinspielen, wirken ununterbrochen
auf sein ganzes Dasein. Ist innerhalb dieser höheren Erlebnisse etwas
nicht in Ordnung, so lauert die Unregelmäßigkeit unausgesetzt
und kann ihn bei jeder Gelegenheit aus den geordneten Bahnen herauswerfen.
Deshalb darf der Geheimschüler nichts unterlassen, was ihm stets die
Herrschaft über sein ganzes Wesen sichert. Nie sollte ihm Geistesgegenwart
oder ein ruhiges Überblicken aller in Betracht kommenden Situationen
des Lebens mangeln. Aber eine echte Geheimschulung erzeugt im Grunde alle
diese Eigenschaften durch sich selbst. Und man lernt während einer
solchen die Gefahren nur kennen, indem man zugleich in den richtigen Augenblicken
die volle Macht erlangt, sie aus dem Felde zu schlagen.
DER HÜTER DER SCHWELLE
Wichtige Erlebnisse beim Erheben in die höheren
Welten sind die Begegnungen mit dem «Hüter der Schwelle».
Es gibt nicht nur einen, sondern im wesentlichen zwei, einen «kleineren»
und einen «größeren» «Hüter der Schwelle».
Dem ersteren begegnet der Mensch dann, wenn sich die Verbindungsfäden
zwischen Willen, Denken und Fühlen innerhalb der feineren Leiber (des
Astral- und Ätherleibes) so zu lösen beginnen, wie das im vorigen
Kapitel gekennzeichnet worden ist. Dem «größeren Hüter
der Schwelle» tritt der Mensch gegenüber, wenn sich die Auflösung
der Verbindungen auch auf die physischen Teile des Leibes (namentlich zunächst
das Gehirn) erstreckt.
Der «kleinere Hüter der Schwelle»
ist ein selbständiges Wesen. Dieses ist für den Menschen nicht
vorhanden, bevor die entsprechende Entwickelungsstufe von ihm erreicht
ist. Nur einige der wesentlichsten Eigentümlichkeiten desselben können
hier verzeichnet werden.
Es soll zunächst versucht werden, in erzählender
Form die Begegnung des Geheimschülers mit dem Hüter der Schwelle
darzustellen. Erst durch diese Begegnung wird der Schüler gewahr,
daß Denken, Fühlen und Wollen bei ihm sich aus ihrer ihnen eingepflanzten
Verbindung gelöst haben.
Ein allerdings schreckliches, gespenstisches Wesen
steht vor dem Schüler. Dieser hat alle Geistesgegenwart und alles
Vertrauen in die Sicherheit seines Erkenntnisweges notwendig, die er sich
während seiner bisherigen Geheimschülerschaft aber hinlänglich
aneignen konnte.
Der «Hüter» gibt seine Bedeutung
etwa in folgenden Worten kund: «Über dir walteten bisher Mächte,
welche dir unsichtbar waren. Sie bewirkten, daß während deiner
bisherigen Lebensläufe jede deiner guten Taten ihren Lohn und jede
deiner üblen Handlungen ihre schlimmen Folgen hatten. Durch ihren
Einfluß baute sich dein Charakter aus deinen Lebenserfahrungen und
aus deinen Gedanken auf. Sie verursachten dein Schicksal. Sie bestimmten
das Maß von Lust und Schmerz, das dir in einer deiner Verkörperungen
zugemessen war, nach deinem Verhalten in früheren Verkörperungen.
Sie herrschten über dir in Form des allumfassenden Karmagesetzes.
Diese Mächte werden nun einen Teil ihrer Zügel von dir loslösen.
Und etwas von der Arbeit, die sie an dir getan haben, mußt du nun
selbst tun. Dich traf bisher mancher schwere Schicksalsschlag. Du wußtest
nicht warum? Es war die Folge einer schädlichen Tat in einem deiner
vorhergehenden Lebensläufe. Du fandest Glück und Freude und nahmest
sie hin. Auch sie waren die Wirkung früherer Taten. Du hast in deinem
Charakter manche schöne Seiten, manche häßliche Flecken.
Du hast beides selbst verursacht durch vorhergehende Erlebnisse und Gedanken.
Du hast bisher die letzteren nicht gekannt; nur die Wirkungen waren dir
offenbar. Sie aber, die karmischen Mächte, sahen alle deine vormaligen
Lebenstaten, deine verborgensten Gedanken und Gefühle. Und sie haben
danach bestimmt, wie du jetzt bist und wie du jetzt lebst.
Nun aber sollen dir selbst offenbar werden alle
die guten und alle die schlimmen Seiten deiner vergangenen Lebensläufe.
Sie waren bis jetzt in deine eigene Wesenheit hineinverwoben, sie waren
in dir, und du konntest sie nicht sehen, wie du physisch dein eigenes Gehirn
nicht sehen kannst. Jetzt aber lösen sie sich von dir los, sie treten
aus deiner Persönlichkeit heraus. Sie nehmen eine selbständige
Gestalt an, die du sehen kannst, wie du die Steine und Pflanzen der Außenwelt
siehst. Und – ich bin es selbst, die Wesenheit, die sich einen Leib gebildet
hat aus deinen edlen und deinen üblen Verrichtungen. Meine gespenstige
Gestalt ist aus dem Kontobuche deines eigenen Lebens gewoben. Unsichtbar
hast du mich bisher in dir selbst getragen. Aber es war wohltätig
für dich, daß es so war. Denn die Weisheit deines dir verborgenen
Geschickes hat deshalb auch bisher an der Auslöschung der häßlichen
Flecken in meiner Gestalt in dir gearbeitet. Jetzt, da ich aus dir herausgetreten
bin, ist auch diese verborgene Weisheit von dir gewichen. Sie wird sich
fernerhin nicht mehr um dich kümmern. Sie wird die Arbeit dann nur
in deine eigenen Hände legen. Ich muß zu einer in sich vollkommenen,
herrlichen Wesenheit werden, wenn ich nicht dem Verderben anheimfallen
soll. Und geschähe das letztere, so würde ich auch dich selbst
mit mir hinabziehen in eine dunkle, verderbte Welt. – Deine eigene Weisheit
muß nun, wenn das letztere verhindert werden soll, so groß
sein, daß sie die Aufgabe jener von dir gewichenen verborgenen Weisheit
übernehmen kann. – Ich werde, wenn du meine Schwelle überschritten
hast, keinen Augenblick mehr als dir sichtbare Gestalt von deiner Seite
weichen. Und wenn du fortan Unrichtiges tust oder denkst, so wirst du sogleich
deine Schuld als eine häßliche, dämonische Verzerrung an
dieser meiner Gestalt wahrnehmen. Erst wenn du all dein vergangenes Unrichtiges
gutgemacht und dich so geläutert hast, daß dir weiter Übles
ganz unmöglich ist, dann wird sich mein Wesen in leuchtende Schönheit
verwandelt haben. Und dann werde ich mich zum Heile deiner ferneren Wirksamkeit
wieder mit dir zu einem Wesen vereinigen können.
Meine Schwelle aber ist gezimmert aus einem jeglichen
Furchtgefühl, das noch in dir ist, und aus einer jeglichen Scheu vor
der Kraft, die volle Verantwortung für all dein Tun und Denken selbst
zu übernehmen. Solange du noch irgendeine Furcht vor der selbsteigenen
Lenkung deines Geschickes hast, so lange ist in diese Schwelle nicht alles
hineingebaut, was sie erhalten muß. Und solange ihr ein einziger
Baustein noch fehlt, so lange müßtest du wie gebannt an dieser
Schwelle stehenbleiben oder stolpern. Versuche nicht früher diese
Schwelle zu überschreiten, bis du ganz frei von Furcht und bereit
zu höchster Verantwortlichkeit dich fühlst.
Bisher trat ich nur aus deiner eigenen Persönlichkeit
heraus, wenn der Tod dich von einem irdischen Lebenslauf abberief. Aber
auch da war meine Gestalt dir verschleiert. Nur die Schicksalsmächte,
welche über dir walteten, sahen mich und konnten, nach meinem Aussehen,
in den Zwischenpausen zwischen dem Tode und einer neuen Geburt, dir Kraft
und Fähigkeit ausbilden, damit du in einem neuen Erdenleben an der
Verschönerung meiner Gestalt zum Heile deines Fortkommens arbeiten
konntest. Ich selbst war es auch, dessen Unvollkommenheit die Schicksalsmächte
immer wieder dazu zwang, dich in eine neue Verkörperung auf die Erde
zurückzuführen. Starbest du, so war ich da; und meinetwegen bestimmten
die Lenker des Karma deine Wiedergeburt. Erst wenn du durch immer wieder
erneuerte Leben in dieser Art mich unbewußt ganz zur Vollkommenheit
umgeschaffen gehabt hättest, wärest du nicht den Todesmächten
verfallen, sondern du hättest dich ganz mit mir vereint und wärest
in Einheit mit mir in die Unsterblichkeit hinübergegangen.
So stehe ich heute sichtbar vor dir, wie ich stets
unsichtbar neben dir in der Sterbestunde gestanden habe. Wenn du meine
Schwelle überschritten haben wirst, so betrittst du die Reiche, die
du sonst nach dem physischen Tode betreten hast. Du betrittst sie mit vollem
Wissen und wirst fortan, indem du äußerlich sichtbar auf Erden
wandelst, zugleich im Reiche des Todes, das ist aber im Reiche des ewigen
Lebens, wandeln. Ich bin wirklich auch der Todesengel; aber ich, ich bin
zugleich der Bringer eines nie versiegenden höheren Lebens. Beim lebendigen
Leibe wirst du durch mich sterben, um die Wiedergeburt zum unzerstörbaren
Dasein zu erleben.
Das Reich, das du nunmehr betrittst, wird dich bekannt
machen mit Wesen übersinnlicher Art. Die Seligkeit wird dein Anteil
in diesem Reiche sein. Aber die erste Bekanntschaft mit dieser Welt muß
ich selbst sein, ich, der ich dein eigenes Geschöpf bin. Früher
lebte ich von deinem eigenen Leben; aber jetzt bin ich durch dich zu einem
eigenen Dasein erwacht und stehe vor dir als sichtbares Richtmaß
deiner künftigen Taten, vielleicht auch als dein immerwährender
Vorwurf. Du konntest mich schaffen; aber du hast damit auch zugleich die
Pflicht übernommen, mich umzuschaffen.»
Was hier, in eine Erzählung gekleidet, angedeutet
ist, hat man sich nicht etwa als etwas Sinnbildliches vorzustellen, sondern
als ein im höchsten Grade wirkliches Erlebnis des Geheimschülers.
[Es ist aus obigem klar, daß der geschilderte «Hüter
der Schwelle» eine solche (astrale) Gestalt ist, welche dem erwachenden
höheren Schauen des Geheimschülers sich offenbart. Und zu dieser
übersinnlichen Begegnung führt die Geheimwissenschaft. Es ist
eine Verrichtung niederer Magie, den «Hüter der Schwelle»
auch sinnlich sichtbar zu machen. Dabei handelte es sich um die Herstellung
einer Wolke feinen Stoffes, eines Räucherwerkes, das aus einer Reihe
von Stoffen in bestimmter Mischung hergestellt wird. Die entwickelte Kraft
des Magiers ist dann imstande, gestaltend auf das Räucherwerk zu wirken
und dessen Substanz mit dem noch unausgeglichenen Karma des Menschen zu
beleben. – Wer genügend vorbereitet für das höhere Schauen
ist, braucht dergleichen sinnliche Anschauung nicht mehr; und wem sein
noch unausgeglichenes Karma ohne genügende Vorbereitung als sinnlich
lebendiges Wesen vor Augen träte, der liefe Gefahr, in schlimme Abwege
zu geraten. Er sollte nicht danach streben. In Bulwers «Zanoni»
wird romanhaft eine Darstellung dieses «Hüters der Schwelle»
gegeben.]
Der Hüter soll ihn warnen, ja nicht weiter
zu gehen, wenn er nicht die Kraft in sich fühlt, den Forderungen zu
entsprechen, die in der obigen Anrede enthalten sind. So schrecklich die
Gestalt dieses Hüters auch ist, sie ist doch nur die Wirkung des eigenen
vergangenen Lebens des Schülers, ist nur sein eigener Charakter, zu
selbständigem Leben außer ihm erweckt. Und diese Erweckung geschieht
durch die Auseinanderlösung von Wille, Denken und Gefühl. – Schon
das ist ein Erlebnis von tief bedeutungsvoller Art, daß man zum ersten
Male fühlt, man habe einem geistigen Wesen selbst den Ursprung gegeben.
– Es muß nun die Vorbereitung des Geheimschülers dahin zielen,
daß er ohne eine jegliche Scheu den schrecklichen Anblick aushält
und daß er im Augenblicke der Begegnung seine Kraft wirklich so gewachsen
fühlt, daß er es auf sich nehmen kann, die Verschönung
des «Hüters» mit vollem Wissen auf sich zu laden.
Eine Folge der glücklich überstandenen
Begegnung mit dem «Hüter der Schwelle» ist, daß
der nächste physische Tod dann für den Geheimschüler ein
ganz anderes Ereignis ist, als vorher die Tode waren. Er erlebt bewußt
das Sterben, indem er den physischen Körper ablegt, wie man ein Kleid
ablegt, das abgenutzt oder vielleicht auch durch einen plötzlichen
Riß unbrauchbar geworden ist. Dieser sein physischer Tod ist dann
sozusagen eine erhebliche Tatsache nur für die anderen, welche mit
ihm leben und die mit ihren Wahrnehmungen noch ganz auf die Sinnenwelt
beschränkt sind. Für sie «stirbt» der Geheimschüler.
Für ihn ändert sich nichts von Bedeutung in seiner ganzen Umgebung.
Die ganze übersinnliche Welt, in die er eingetreten ist, stand vor
dem Tode schon in entsprechender Art vor ihm, und dieselbe Welt wird auch
nach dem Tode vor ihm stehen. Nun hängt der «Hüter der
Schwelle» aber noch mit anderem zusammen. Der Mensch gehört
einer Familie, einem Volke, einer Rasse an; sein Wirken in dieser Welt
hängt von seiner Zugehörigkeit zu einer solchen Gesamtheit ab.
Auch sein besonderer Charakter steht damit im Zusammenhange. Und das bewußte
Wirken der einzelnen Menschen ist keineswegs alles, womit man bei einer
Familie, einem Stamme, Volke, einer Rasse zu rechnen hat. Es gibt ein Familien-,
Volks- (und so weiter) Schicksal, wie es einen Familien-, Rassen- (und
so weiter) Charakter gibt. Für den Menschen, der auf seine Sinne beschränkt
ist, bleiben diese Dinge allgemeine Begriffe, und der materialistische
Denker in seinem Vorurteil wird verächtlich auf den Geheimwissenschafter
herabsehen, wenn er hört, daß für diesen letzteren der
Familien- oder der Volkscharakter, das Stammes- oder Rassenschicksal ebenso
wirklichen Wesen zukommen, wie der Charakter und das Schicksal des einzelnen
Menschen einer wirklichen Persönlichkeit zukommen. Der Geheimwissenschafter
lernt eben höhere Welten kennen, von denen die einzelnen Persönlichkeiten
ebenso Glieder sind, wie Arme, Beine und Kopf Glieder des Menschen sind.
Und in dem Leben einer Familie, eines Volkes, einer Rasse wirken außer
den einzelnen Menschen auch die ganz wirklichen Familienseelen, Volksseelen,
Rassengeister. Ja, in einem gewissen Sinne sind die einzelnen Menschen
nur die ausführenden Organe dieser Familienseelen, Rassengeister und
so weiter. In voller Wahrheit kann man davon sprechen, daß sich zum
Beispiel eine Volksseele des einzelnen zu ihrem Volke gehörigen Menschen
bedient, um gewisse Arbeiten auszuführen. Die Volksseele steigt nicht
bis zur sinnlichen Wirklichkeit herab. Sie wandelt in höheren Welten.
Und um in der physisch-sinnlichen Welt zu wirken, bedient sie sich der
physischen Organe des einzelnen Menschen. Es ist in einem höheren
Sinne gerade so, wie wenn sich ein Bautechniker zur Ausführung der
Einzelheiten des Baues der Arbeiter bedient. – Jeder Mensch erhält
im wahrsten Sinne des Wortes seine Arbeit von der Familien-, Volks- oder
Rassenseele zugeteilt. Nun wird der Sinnesmensch jedoch keineswegs in den
höheren Plan seiner Arbeit eingeweiht. Er arbeitet unbewußt
an den Zielen der Volks-, Rassenseelen und so weiter mit. Von dem Zeitpunkte
an, wo der Geheimschüler dem Hüter der Schwelle begegnet, hat
er nicht bloß seine eigenen Aufgaben als Persönlichkeit zu kennen,
sondern er muß wissentlich mitarbeiten an denen seines Volkes,
seiner Rasse. Jede Erweiterung seines Gesichtskreises legt ihm unbedingt
auch erweiterte Pflichten auf. Der wirkliche Vorgang dabei ist der, daß
der Geheimschüler seinem feineren Seelenkörper einen neuen hinzufügt.
Er zieht ein Kleid mehr an. Bisher schritt er durch die Welt mit den Hüllen,
welche seine Persönlichkeit einkleiden. Und was er für seine
Gemeinsamkeit, für sein Volk, seine Rasse und so weiter zu tun hatte,
dafür sorgten die höheren Geister, die sich seiner Persönlichkeit
bedienten. – Eine weitere Enthüllung, die ihm nun der «Hüter
der Schwelle» macht, ist die, daß fernerhin diese Geister ihre
Hand von ihm abziehen werden. Er muß aus der Gemeinsamkeit ganz heraustreten.
Und er würde sich als Einzelner vollständig in sich verhärten,
er würde dem Verderben entgegengehen, wenn er nun nicht selbst sich
die Kräfte erwürbe, welche den Volks- und Rassengeistem eigen
sind. – Zwar werden viele Menschen sagen: «Oh, ich habe mich ganz
frei gemacht von allen Stammes- und Rassenzusammenhängen; ich will
nur "Mensch" und "nichts als Mensch" sein.» Ihnen muß man aber
sagen: Wer hat dich zu dieser Freiheit gebracht? Hat dich nicht deine Familie
so hineingestellt in die Welt, wie du jetzt darinnen stehst? Hat dich nicht
dein Stamm, dein Volk, deine Rasse zu dem gemacht, was du bist? Sie haben
dich erzogen; und wenn du über alle Vorurteile erhaben, einer der
Lichtbringer und Wohltäter deines Stammes oder selbst deiner Rasse
bist, du verdankst das ihrer Erziehung. Ja, auch wenn du von dir
sagst, du seiest «nichts als Mensch»: selbst daß du so
geworden bist, verdankst du den Geistern deiner Gemeinschaften. – Erst
der Geheimschüler lernt erkennen, was es heißt, ganz verlassen
sein von Volks-, Stammes-, Rassengeistern. Erst er erfährt an sich
selbst die Bedeutungslosigkeit aller solcher Erziehung für das Leben,
das ihm nun bevorsteht. Denn alles, was an ihm herangezogen ist, löst
sich vollständig auf durch das Zerreißen der Fäden zwischen
Wille, Denken und Gefühl. Er blickt auf die Ergebnisse aller bisherigen
Erziehung zurück, wie man auf ein Haus blicken müßte, das
in seinen einzelnen Ziegelsteinen auseinanderbröckelt und das man
nun in neuer Form wieder aufbauen muß. Es ist wieder mehr als ein
bloßes Sinnbild, wenn man sagt: Nachdem der «Hüter der
Schwelle» über seine ersten Forderungen sich ausgesprochen hat,
dann erhebt sich von dem Orte aus, an dem er steht, ein Wirbelwind, der
all die geistigen Leuchten zum Verlöschen bringt, die bisher den Lebensweg
erhellt haben. Und eine völlige Finsternis breitet sich vor dem Geheimschüler
aus. Sie wird nur unterbrochen von dem Schein, den der «Hüter
der Schwelle» selbst ausstrahlt. Und aus der Dunkelheit heraus ertönen
seine weiteren Ermahnungen: «Überschreite meine Schwelle nicht,
bevor du dir klar bist, daß du die Finsternis vor dir selbst durchleuchten
wirst; tue auch nicht einen einzigen Schritt vorwärts, wenn es dir
nicht zur Gewißheit geworden ist, daß du Brennstoff genug in
deiner eigenen Lampe hast. Die Lampen von Führern, welche du bisher
hattest, werden dir in der Zukunft fehlen.» Nach diesen Worten hat
der Schüler sich umzuwenden und den Blick nach hinten zu wenden. Der
«Hüter der Schwelle» zieht nunmehr einen Vorhang hinweg,
der bisher tiefe Lebensgeheimnisse verhüllt hat. Die Stammes-, Volks-
und Rassengeister werden in ihrer vollen Wirksamkeit offenbar; und der
Schüler sieht ebenso genau, wie er bisher geführt worden ist,
als ihm anderseits klar wird, daß er nunmehr diese Führerschaft
nicht mehr haben wird. Dies ist eine zweite Warnung, welche der Mensch
an der Schwelle durch ihren Hüter erlebt.
Unvorbereitet könnte den hier angedeuteten
Anblick allerdings niemand ertragen; aber die höhere Schulung, welche
dem Menschen überhaupt möglich macht, bis zur Schwelle vorzudringen,
setzt ihn zugleich in die Lage, im entsprechenden Augenblicke die notwendige
Kraft zu finden. Ja, diese Schulung kann eine so harmonische sein, daß
dem Eintritt in das neue Leben jeder erregende oder tumultuarische Charakter
genommen wird. Dann wird für den Geheimschüler das Erlebnis an
der Schwelle von einem Vorgefühl jener Seligkeit begleitet sein, welche
den Grundton seines neu erwachten Lebens bilden wird. Die Empfindung der
neuen Freiheit wird alle anderen Gefühle überwiegen; und mit
dieser Empfindung werden ihm die neuen Pflichten und die neue Verantwortung
wie etwas erscheinen, das der Mensch auf einer Stufe des Lebens übernehmen
muß.
LEBEN UND TOD
DER GROSSE HUTER DER SCHWELLE
Es ist geschildert worden, wie bedeutsam für
den Menschen die Begegnung mit dem sogenannten kleineren Hüter der
«Schwelle» dadurch ist, daß er in diesem ein übersinnliches
Wesen gewahr wird, das er gewissermaßen selbst hervorgebracht hat.
Der Leib dieses Wesens ist zusammengesetzt aus den ihm vorher unsichtbaren
Folgen seiner eigenen Handlungen, Gefühle und Gedanken. Aber diese
unsichtbaren Kräfte sind die Ursachen geworden seines Schicksals und
seines Charakters. Es wird nunmehr dem Menschen klar, wie er in der Vergangenheit
selbst die Grundlagen für seine Gegenwart gelegt hat. Sein Wesen steht
dadurch bis zu einem gewissen Grade offenbar vor ihm. Es sind zum Beispiel
bestimmte Neigungen und Gewohnheiten in ihm. Jetzt kann er sich klarmachen,
warum er diese hat. Gewisse Schicksalsschläge haben ihn getroffen;
nun erkennt er, woher diese kommen. Er wird gewahr, weshalb er das eine
liebt, das andere haßt, warum er durch dies oder jenes glücklich
oder unglücklich ist. Das sichtbare Leben wird ihm durch die unsichtbaren
Ursachen verständlich. Auch die wesentlichen Lebenstatsachen, Krankheit
und Gesundheit, Tod und Geburt, entschleiern sich vor seinen Blicken. Er
merkt, daß er vor seiner Geburt die Ursachen gewoben hat,
die ihn notwendig wieder ins Leben hereinführen mußten. Er kennt
nunmehr die Wesenheit in sich, welche in dieser sichtbaren Welt aufgebaut
ist auf eine unvollkommene Art und die auch nur in derselben sichtbaren
Welt ihrer Vollkommenheit zugeführt werden kann. Denn in keiner anderen
Welt gibt es eine Gelegenheit, an dem Ausbau dieser Wesenheit zu arbeiten.
Und ferner sieht er ein, daß der Tod ihn zunächst nicht f;ir
immer von dieser Welt trennen kann. Denn er muß sich sagen: «Ich
bin dereinst zum ersten Male in diese Welt gekommen, weil ich damals ein
solches Wesen war, welches das Leben in dieser Welt brauchte, um sich Eigenschaften
zu erwerben, die es sich in keiner anderen Welt hätte erwerben können.
Und ich muß so lange mit dieser Welt verbunden sein, bis ich alles
in mir entwickelt habe, was in ihr gewonnen werden kann. Ich werde dereinst
nur dadurch ein tauglicher Mitarbeiter in einer anderen Welt werden, daß
ich mir in der sinnlich sichtbaren alle die Fähigkeiten dazu erwerbe.»
– Es gehört nämlich zu den wichtigsten Erlebnissen des Eingeweihten,
daß er die sinnlich sichtbare Natur in ihrem wahren Werte besser
kennen und schätzen lernt, als er dies vor seiner Geistesschulung
konnte. Diese Erkenntnis wird ihm gerade durch seinen Einblick in die übersinnliche
Welt. Wer einen solchen Einblick nicht getan hat und sich deshalb vielleicht
nur der Ahnung hingibt, daß die übersinnlichen Gebiete die unendlich
wertvolleren sind, der kann die sinnliche Welt unterschätzen. Wer
aber diesen Einblick getan hat, der weiß, daß er ohne die Erlebnisse
in der sichtbaren Wirklichkeit ganz ohnmächtig in der unsichtbaren
wäre. Soll er in der letzteren leben, so muß er Fähigkeiten
und Werkzeuge zu diesem Leben haben. Die kann er sich aber nur in der sichtbaren
erwerben. Er wird geistig sehen müssen, wenn die unsichtbare
Welt für ihn bewußt werden soll. Aber diese Sehkraft für
eine «höhere» Welt wird durch die Erlebnisse in der «niederen»
allmählich ausgebildet. Man kann ebensowenig in einer geistigen Welt
mit geistigen Augen geboren werden, wenn man diese nicht in der sinnlichen
sich gebildet hat, wie das Kind nicht mit physischen Augen geboren werden
könnte, wenn diese sich nicht im Mutterleibe gebildet hätten.
Von diesem Gesichtspunkte aus wird man auch einsehen,
warum die «Schwelle» zur übersinnlichen Welt von einem
«Hüter» bewacht wird. Es darf nämlich auf keinen
Fall dem Menschen ein wirklicher Einblick in jene Gebiete gestattet werden,
bevor er dazu die notwendigen Fähigkeiten erworben hat. Deshalb wird
jedesmal beim Tode, wenn der Mensch, noch unfähig zur Arbeit in einer
anderen Welt, diese betritt, der Schleier vorgezogen vor ihren Erlebnissen.
Er soll sie erst erblicken, wenn er ganz dazu reif geworden ist.
Betritt der Geheimschüler die übersinnliche
Welt, dann erhält das Leben für ihn einen ganz neuen Sinn, er
sieht in der sinnlichen Welt den Keimboden für eine höhere. Und
in einem gewissen Sinne wird ihm diese «höhere» ohne die
«niedere» als eine mangelhafte erscheinen. Zwei Ausblicke eröffnen
sich ihm. Der eine in die Vergangenheit, der andere in die Zukunft. In
eine Vergangenheit schaut er, in welcher diese sinnliche Welt noch nicht
war. Denn über das Vorurteil, daß die übersinnliche Welt
sich aus der sinnlichen entwickelt habe, ist er längst hinweg. Er
weiß, daß das Übersinnliche zuerst war und daß sich
alles Sinnliche aus diesem entwickelt habe. Er sieht, daß er selbst,
bevor er zum ersten Male in diese sinnliche Welt gekommen ist, einer
übersinnlichen angehört hat. Aber diese einstige übersinnliche
Welt brauchte den Durchgang durch die sinnliche. Ihre Weiterentwickelung
wäre ohne diesen Durchgang nicht möglich gewesen. Erst wenn sich
innerhalb des sinnlichen Reiches Wesen entwickelt haben werden mit entsprechenden
Fähigkeiten, kann die übersinnliche wieder ihren Fortgang nehmen.
Und diese Wesenheiten sind die Menschen. Diese sind somit, so wie sie jetzt
leben, einer unvollkommenen Stufe des geistigen Daseins entsprungen und
werden selbst innerhalb derselben zu derjenigen Vollkommenheit geführt,
durch die sie dann tauglich sein werden zur Weiterarbeit an der höheren
Welt. – Und hier knüpft der Ausblick in die Zukunft an. Er weist auf
eine höhere Stufe der übersinnlichen Welt. In dieser werden die
Früchte sein, die in der sinnlichen ausgebildet werden. Die letztere
als solche wird überwunden; ihre Ergebnisse aber einer höheren
einverleibt sein.
Damit ist das Verständnis gegeben für
Krankheit und Tod in der sinnlichen Welt. Der Tod ist nämlich nichts
anderes als der Ausdruck dafür, daß die einstige übersinnliche
Welt an einem Punkte angekommen war, von dem aus sie durch sich selbst
nicht weitergehen konnte. Ein allgemeiner Tod wäre notwendig für
sie gewesen, wenn sie nicht einen neuen Lebenseinschlag erhalten hätte.
Und so ist dieses neue Leben zu einem Kampf gegen den allgemeinen Tod geworden.
Aus den Resten einer absterbenden, in sich erstarrenden Welt erblühten
die Keime einer neuen. Deshalb haben wir Sterben und Leben in der Welt.
Und langsam gehen die Dinge ineinander über. Die absterbenden Teile
der alten Welt haften noch den neuen Lebenskeimen an, die ja aus ihnen
hervorgegangen sind. Den deutlichsten Ausdruck findet das eben im Menschen.
Er trägt als seine Hülle an sich, was sich aus jener alten Welt
erhalten hat; und innerhalb dieser Hülle bildet sich der Keim jenes
Wesens aus, das zukünftig leben wird. Er ist so ein Doppelwesen, ein
sterbliches und ein unsterbliches. Das Sterbliche ist in seinem End-, das
Unsterbliche in seinem Anfangszustand. Aber erst innerhalb dieser
Doppelwelt, die ihren Ausdruck in dem Sinnlich-Physischen findet, eignet
er sich die Fähigkeiten dazu an, die Welt der Unsterblichkeit zuzuführen.
Ja, seine Aufgabe ist, aus dem Sterblichen selbst die Früchte für
das Unsterbliche herauszuholen. Blickt er also auf sein Wesen, wie er es
selbst in der Vergangenheit aufgebaut hat, so muß er sich sagen:
Ich habe in mir die Elemente einer absterbenden Welt. Sie arbeiten in mir,
und nur allmählich kann ich ihre Macht durch die neuauflebenden unsterblichen
brechen. So geht des Menschen Weg vom Tode zum Leben. Könnte er mit
vollem Bewußtsein in der Sterbestunde zu sich sprechen, so müßte
er sich sagen: «Das Sterbende war mein Lehrmeister. Daß ich
sterbe, ist eine Wirkung der ganzen Vergangenheit, mit der ich verwoben
bin. Aber das Feld des Sterblichen hat mir die Keime zum Unsterblichen
gereift. Diese trage ich in eine andere Welt mit hinaus. Wenn es bloß
auf das Vergangene ankäme, dann hätte ich überhaupt niemals
geboren werden können. Das Leben des Vergangenen ist mit der Geburt
abgeschlossen. Das Leben im Sinnlichen ist durch den neuen Lebenskeim dem
allgemeinen Tode abgerungen. Die Zeit zwischen Geburt und Tod ist nur der
Ausdruck dafür, wieviel das neue Leben der absterbenden Vergangenheit
abringen konnte. Und die Krankheit ist nichts als die Fortwirkung der absterbenden
Teile dieser Vergangenheit.»
Aus all dem heraus findet die Frage ihre Antwort,
warum der Mensch erst allmählich sich aus Verirrung und Unvollkommenheit
zu der Wahrheit und dem Guten durcharbeitet. Seine Handlungen, Gefühle
und Gedanken stehen zunächst unter der Herrschaft des Vergehenden
und Absterbenden. Aus diesem sind seine sinnlich-physischen Organe herausgebildet.
Daher sind diese Organe und alles, was sie zunächst antreibt, selbst
dem Vergehen geweiht. Nicht die Instinkte, Triebe, Leidenschaften und so
weiter und die zu ihnen gehörigen Organe stellen ein Unvergängliches
dar, sondern erst das wird unvergänglich sein, was als das Werk dieser
Organe erscheint. Erst wenn der Mensch aus dem Vergehenden alles herausgearbeitet
hat, was herauszuarbeiten ist, wird er die Grundlage abstreifen können,
aus welcher er herausgewachsen ist und die ihren Ausdruck in der physisch-sinnlichen
Welt findet.
So stellt der erste «Hüter der Schwelle»
das Ebenbild des Menschen in seiner Doppelnatur dar, aus Vergänglichem
und Unvergänglichem gemischt. Und klar zeigt sich an ihm, was noch
fehlt bis zur Erreichung der hehren Lichtgestalt, welche wieder die reine
geistige Welt bewohnen kann.
Der Grad der Verstricktheit mit der physisch-sinnlichen
Natur wird dem Menschen durch den «Hüter der Schwelle»
anschaulich. Diese Verstricktheit drückt sich zunächst in dem
Vorhandensein der Instinkte, Triebe, Begierden, egoistischen Wünsche,
in allen Formen des Eigennutzes und so weiter aus. Sie kommt dann in der
Angehörigkeit zu einer Rasse, einem Volke und so weiter zum Ausdruck.
Denn Völker und Rassen sind nur die verschiedenen Entwickelungsstufen
zur reinen Menschheit hin. Es steht eine Rasse, ein Volk um so höher,
je vollkommener ihre Angehörigen den reinen, idealen Menschheitstypus
zum Ausdrucke bringen, je mehr sie sich von dem physisch Vergänglichen
zu dem übersinnlich Unvergänglichen durchgearbeitet haben. Die
Entwickelung des Menschen durch die Wiederverkörperungen in immer
höher stehenden Volks-und Rassenformen ist daher ein Befreiungsprozeß.
Zuletzt muß der Mensch in seiner harmonischen Vollkommenheit erscheinen.
– In einer ähnlichen Art ist der Durchgang durch immer reinere sittliche
und religiöse Anschauungsformen eine Vervollkommnung. Denn jede sittliche
Stufe enthält noch die Sucht nach dem Vergänglichen neben den
idealistischen Zukunftskeimen.
Nun erscheint in dem geschilderten «Hüter
der Schwelle» nur das Ergebnis der verflossenen Zeit. Und von den
Zukunftskeimen ist nur dasjenige darinnen, was in dieser verflossenen Zeit
hineingewoben worden ist. Aber der Mensch muß in die zukünftige
übersinnliche Welt alles mitbringen, was er aus der Sinnenwelt herausholen
kann. Wollte er nur das mitbringen, was in sein Gegenbild bloß aus
der Vergangenheit hinein verwoben ist, so hätte er seine irdische
Aufgabe nur teilweise erfüllt. Deshalb gesellt sich nun zu dem «kleineren
Hüter der Schwelle» nach einiger Zeit der größere.
Wieder soll in erzählender Form dargelegt werden, was sich als Begegnung
mit diesem zweiten «Hüter der Schwelle» abspielt.
Nachdem der Mensch erkannt hat, wovon er sich befreien
muß, tritt ihm eine erhabene Lichtgestalt in den Weg. Deren Schönheit
zu beschreiben ist schwierig in den Worten unserer Sprache. – Diese Begegnung
findet statt, wenn sich die Organe des Denkens, Fühlens und Wollens
auch für den physischen Leib so weit voneinander gelöst haben,
daß die Regelung ihrer gegenseitigen Beziehungen nicht mehr durch
sie selbst, sondern durch das höhere Bewußtsein geschieht, das
sich nun ganz getrennt hat von den physischen Bedingungen. Die Organe des
Denkens, Fühlens und Wollens sind dann die Werkzeuge in der Gewalt
der menschlichen Seele geworden, die ihre Herrschaft über sie aus
übersinnlichen Regionen ausübt. – Dieser so aus allen sinnlichen
Banden befreiten Seele tritt nun der zweite «Hüter der Schwelle»
entgegen und spricht etwa folgendes:
«Du hast dich losgelöst aus der Sinnenwelt.
Dein Heimatrecht in der übersinnlichen Welt ist erworben. Von hier
aus kannst du nunmehr wirken. Du brauchst um deinetwillen deine physische
Leiblichkeit in gegenwärtiger Gestalt nicht mehr. Wolltest du dir
bloß die Fähigkeit erwerben, in dieser übersinnlichen Welt
zu wohnen, du brauchtest nicht mehr in die sinnliche zurückzukehren.
Aber nun blicke auf mich. Sieh, wie unermeßlich erhaben ich über
all dem stehe, was du heute bereits aus dir gemacht hast. Du bist zu der
gegenwärtigen Stufe deiner Vollendung gekommen durch die Fähigkeiten,
welche du in der Sinnenwelt entwickeln konntest, solange du noch auf sie
angewiesen warst. Nun aber muß für dich eine Zeit beginnen,
in welcher deine befreiten Kräfte weiter an dieser Sinnenwelt arbeiten.
Bisher hast du nur dich selbst erlöst, nun kannst du als ein Befreiter
alle deine Genossen in der Sinnenwelt mitbefreien. Als einzelner hast du
bis heute gestrebt; nun gliedere dich ein in das Ganze, damit du nicht
nur dich mitbringst in die übersinnliche Welt, sondern alles andere,
was in der sinnlichen vorhanden ist. Mit meiner Gestalt wirst du dich einst
vereinigen können, aber ich kann kein Seliger sein, solange es noch
Unselige gibt! Als einzelner Befreiter möchtest du immerhin schon
heute in das Reich des Übersinnlichen eingehen. Dann aber würdest
du hinabschauen müssen auf die noch unerlösten Wesen der Sinnenwelt.
Und du hättest dein Schicksal von dem ihrigen getrennt. Aber ihr seid
alle miteinander verbunden. Ihr mußtet alle hinabsteigen in die Sinnenwelt,
um aus ihr heraufzuholen die Kräfte für eine höhere. Würdest
du dich von ihnen trennen, so mißbrauchtest du die Kräfte, die
du doch nur in Gemeinschaft mit ihnen hast entwickeln können. Wären
sie nicht hinabgestiegen, so hättest es auch du nicht können;
ohne sie fehlten dir die Kräfte zu deinem übersinnlichen Dasein.
Du mußt diese Kräfte, die du mit ihnen errungen hast,
auch mit ihnen teilen. Ich wehre dir daher den Einlaß in die höchsten
Gebiete der übersinnlichen Welt, solange du nicht alle deine
erworbenen Kräfte zur Erlösung deiner Mitwelt verwendet hast.
Du magst mit dem schon Erlangten dich in den unteren Gebieten der übersinnlichen
Welt aufhalten; vor der Pforte zu den höheren stehe ich aber "als
der Cherub mit dem feurigen Schwerte vor dem Paradiese" und wehre dir den
Eintritt so lange, als du noch Kräfte hast, die unangewendet geblieben
sind in der sinnlichen Welt. Und willst du die deinigen nicht anwenden,
so werden andere kommen, die sie anwenden; dann wird eine hohe übersinnliche
Welt alle Früchte der sinnlichen aufnehmen; dir aber wird der Boden
entzogen sein, mit dem du verwachsen warst. Die geläuterte Welt wird
sich über dich hinausentwickeln. Du wirst von ihr ausgeschlossen sein.
So ist dein Pfad der schwarze, jene aber, von welchen du dich gesondert
hast, gehen den weißen Pfad.»
So kündigt sich der «große Hüter»
der Schwelle bald an, nachdem die Begegnung mit dem ersten Wächter
erfolgt ist. Der Eingeweihte weiß aber ganz genau, was ihm bevorsteht,
wenn er den Lockungen eines vorzeitigen Aufenthaltes in der übersinnlichen
Welt folgt. Ein unbeschreiblicher Glanz geht von dem zweiten Hüter
der Schwelle aus; die Vereinigung mit ihm steht als ein fernes Ziel vor
der schauenden Seele. Doch ebenso steht da die Gewißheit, daß
diese Vereinigung erst möglich wird, wenn der Eingeweihte alle Kräfte,
die ihm aus dieser Welt zugeflossen sind, auch aufgewendet hat im Dienste
der Befreiung und Erlösung dieser Welt. Entschließt er sich,
den Forderungen der höheren Lichtgestalt zu folgen, dann wird er beitragen
können zur Befreiung des Menschengeschlechts. Er bringt seine Gaben
dar auf dem Opferaltar der Menschheit. Zieht er seine eigene vorzeitige
Erhöhung in die übersinnliche Welt vor, dann schreitet die Menschheitsströmung
über ihn hinweg. Für sich selbst kann er nach seiner Befreiung
aus der Sinnenwelt keine neuen Kräfte mehr gewinnen. Stellt er ihr
seine Arbeit doch zur Verfügung, so geschieht es mit dem Verzicht,
aus der Stätte seines ferneren Wirkens selbst für sich noch etwas
zu holen. Man kann nur nicht sagen, es sei selbstverständlich, daß
der Mensch den weißen Pfad wählen werde, wenn er so vor die
Entscheidung gestellt wird. Das hängt nämlich ganz davon ab,
ob er bei dieser Entscheidung schon so geläutert ist, daß keinerlei
Selbstsucht ihm die Lockungen der Seligkeit begehrenswert erscheinen läßt.
Denn diese Lockungen sind die denkbar größten. Und auf der anderen
Seite sind eigentlich gar keine besonderen Lockungen vorhanden. Hier spricht
gar nichts zum Egoismus. Was der Mensch in den höheren Regionen des
Übersinnlichen erhalten wird, ist nichts, was zu ihm kommt, sondern
lediglich etwas, das von ihm ausgeht: die Liebe zu seiner Mitwelt. Alles,
was der Egoismus verlangt, wird nämlich durchaus nicht entbehrt auf
dem schwarzen Pfade. Im Gegenteil: die Früchte dieses Pfades sind
gerade die vollkommenste Befriedigung des Egoismus. Und will jemand nur
für sich die Seligkeit, so wird er ganz gewiß diesen schwarzen
Pfad wandeln, denn er ist der für ihn angemessene. – Es darf daher
niemand von den Okkultisten des weißen Pfades erwarten, daß
sie ihm eine Anweisung zur Entwickelung des eigenen egoistischen Ich geben
werden. Für die Seligkeit des einzelnen haben sie nicht das allergeringste
Interesse. Die mag jeder für sich erreichen. Sie zu beschleunigen
ist nicht die Aufgabe der weißen Okkultisten. Diesen liegt lediglich
an der Entwickelung und Befreiung aller Wesen, die Menschen und Genossen
des Menschen sind. Daher geben sie nur Anweisungen, wie man seine Kräfte
zur Mitarbeit an diesem Werke ausbilden kann. Sie stellen daher die selbstlose
Hingabe und Opferwilligkeit allen anderen Fähigkeiten voran. Sie weisen
niemand geradezu ab, denn auch der Egoistischste kann sich läutern.
Aber wer nur für sich etwas sucht, wird, solange er das tut, bei den
Okkultisten nichts finden. Selbst wenn diese ihm nicht ihre Hilfe entziehen;
er, der Suchende, entzieht sich den Früchten der Hilfeleistung. Wer
daher wirklich den Anweisungen der guten Geheimlehrer folgt, wird nach
dem Übertreten der Schwelle die Forderungen des großen Hüters
verstehen; wer diesen Anweisungen aber nicht folgt, der darf auch gar nicht
hoffen, daß er je zur Schwelle durch sie kommen werde. Ihre Anweisungen
führen zum Guten oder aber zu gar nichts. Denn eine Führung zur
egoistischen Seligkeit und zum bloßen Leben in der übersinnlichen
Welt liegt außerhalb der Grenzen ihrer Aufgabe. Diese ist von vornherein
so veranlagt, daß sie den Schüler so lange von der überirdischen
Welt femhält, bis dieser sie mit dem Willen zur hingebenden Mitarbeit
betritt.