Text,
Übersetzung und über hundert
kommentierende Anmerkungen
zum Herrscherbild der
OTIA IMPERIALIA
- einer Weltbeschreibung,
Weltgeschichte und Mirabiliensammlung in drei Büchern
für die „Mußestunden des Kaisers"
-
von Gervasius von Tilbury (Gervauius
Tilleberiensis,
„imperialis aule marescallus in regno Arelatensi")
die dieser dem Kaiser Otto IV. zur Zeit von dessen Resignation
(etwa zwischen 1210 und 1214) widmete:
Einleitende prefatio
des Werkes: collatio sacerdotii et regni
herausgegeben nach dem Manuskript
Vat.Lat.933,
übersetzt aus dem Lateinischen
und
kommentiert mit Bezug auf die
Belegstellen und Quellen des
Gervasius:
Constitutum Constantini, Honorius
Augustod.: Imago Mundi
und
Petrus Comestor:
Historia Scholastica
von
Hans Zimmermann – bibliographische und weitere Angaben
s.o. zu Beginn und Ende der Einleitung
Diese
prefatio – "collatio sacerdotii et regni"
- der OTIA IMPERIALIA
gibt eine vergleichende Argumentation zu Rolle, Ableitung und Legitimation
des Kaiser- und Königtums im Verhältnis zum Papst- und Priestertum,
typisch für die typologische Quellenauslegung des Mittelalters
1.
Teilseite:
A) invocatio,
intitulatio, inscriptio
B) COLLATIO
SACERDOTII ET REGNI
I.
Körper und Seele
II.
Salbung der Schulter und Stab-Typologie
2.
Teilseite:
III. Typologie
des rex-sacerdos-Verhältnisses
a) Petrus als Protokaiser
b) Ninus als Protokönig
3.
Teilseite:
IV.
Alttestamentliche Prototypen
a) Moses und Aaron
b) Saul und Samuel
4.
Teilseite:
V.
Der Stifter steht über dem Beschenkten
a) Petrus-Constantin und Silvester
b) Synthese in Christus
5.
Teilseite:
C) Umwidmung des Werkes
auf Otto IV., Segensgruß
D) Kapitelüberschriften
des Werkes
Text
Manuskript Vat.Lat.933 (= N) mit autoriellen Marginalien (= Nc),
verglichen mit Leibnizens
Edition (= L).
Übersetzung
abschnittweise; Kommentar und Stellenangaben
in durchnummerierten Anmerkungen.
A) invocatio, intitulatio,
inscriptio
f.1ra
(In nomine [?] Domini [?] amen
Incipit) liber a magistro Geruasio Tilleberiensi editus [?]
intitulatur (otia imperialia) (a)
a) In
nomine ... otia imperialia aus Pelzers Beschreibung des Vatikanmanuskripts
(N) im Katalog der Codices Vaticani Latini, zitiert bei Caldwell, The Autograph
manuscript S.88; in der mir vorliegenden Manuskriptkopie ist nur das nicht
Eingeklammerte erkennbar; Pelzers Zweifelzeichen in eckigen Klammern. Grund
der Unlesbarkeit s. ebd. Pelzer: praeeunt v. miniata partim evanida
In nomine (...). Vgl.L:
In nomine Domini nostri JEsu Christi
incipit liber à magistro Gervasio Tilleberiensi editus,
& intitulatur OTIA IMPERIALIA, Amen. L
Im Namen des Herrn. Amen.
Hier beginnt das von Meister Gervasius von Tilbury herausgegebene Buch
mit dem Titel: Die kaiserlichen Mußestunden.
(serenissimo domino suo) (b)
Dei gratia (c)
Ottoni quarto (1)
Romanorum imperatori semper augusto.
Geruasius Tilleberiensis (2)
vestri dignatione marescallus regni Arelatensis.
humilis deuotus et fidelis
salutem. victoriam et pacem
interiorem et exteriorem.
b) laut Pelzer (a.a.O.) in Nc; in N-Kopie nicht erkennbar c) L beginnt OTtoni quarto, Romanorum Imperatori ...
(Euch,) Seinem überaus huldreichen Herrn,
Otto IV., von Gottes Gnaden (1)
Kaiser der Römer (und) immer Mehrer (des Reiches),
(wünscht) Gervasius von Tilbury, (2)
durch Eure Gunst Marschall des Arelats,
demütig, ergeben und treu
Heil, Sieg und Frieden,
inneren wie äußeren.
1) Adressat der einleitenden
Widmung: Otto IV. röm.-dt. Kaiser aus dem Welfenhause mit der Sippschaft
eines Parzival ("Anschevin"), aufgewachsen an den angevinisch-plantagenetischen
Höfen seines Großonkels Heinrich I. von England und seines Onkels
Richard Löwenherz, der ihm die Grafschaft Poitou gab; 1198 gegen Philipp
von Schwaben im Reich zum König gekrönt, nach dessen Ermordung
1208 auch von der staufischen Ministeralität gestützt, Kaiserkrönung
in Rom 1209, päpstlicher Bann seitens Innocenz' III. wegen vertragsbrüchiger
Fortsetzung der "staufischen" Reichsgebietsansprüche, Machtverlust
mit Ankunft des jungen Friedrich-Roger von Sizilien (Friedrich II.) 1214,
d.h. in der Zeit der Endredaktion der Otia imperialia, – hier noch ohne
Brechung (vgl. aber die Wiederaufnahme der Widmung gegen Schluß der
collatio) als Kaiser invoziert. – Das fünffache Homoioptoton auf -o
in reimender Endstellung der Appositionsglieder zum Widmungsdativ hier
am Anfang findet im dreizehnfachen Echo der gleichen Klangendung zu Abschluß
dieser Vorrede seine Entsprechung: Das Hors d'oeuvre des dreiteiligen Werkes,
die vergleichende Untersuchung der typologischen Legitimationsgrundlage
von Priestertum und Königtum, wird von der Widmung umrahmt, in der
dem Addressaten die Extremposition und dem Autor die bescheidenere Innenposition
der Rahmensymmetrie zukommt. Hier wie dort im Abschluß der Vorrede
ein komplexes Gefüge von Homoioteleuta, die die Satzglieder in Blöcken
ordnen, die wiederum in sich mit dem gleichen Mittel gegliedert sind. Hier
straff, fast jedes Wort in die Klangparallelismen einbezogen, im Abschluß
dann lockerer gefügt, statt durch satzgliedernde Blockbildung in einer
langen Reimschlange, fast wie in der persisch-arabischen Ornamentik, von
der es heißt: "Daß du nicht enden kannst
..."; und
"Dein Lied ist drehend wie das Sterngewölbe:
Anfang und Ende immerfort dasselbe" (Goethe,
West-östl. Diw.)
aber ohne metrische Bindung,
also Reimprosa, vergleichbar dem Predigtstil
Innocenz' III., dem zeitgenössischen
Meister der parallelisierenden Klanggliederung nach Augustinus.
2)
Adressat im Dativ, Autor folgend im Nominativ und die Akkusativobjekte
(salutatio) im Ende dieses verblosen Grußes kennzeichnen ihn als
Briefformular, vergleichbar dem Protokoll von Urkundenbriefen; dem entspricht
auch das Ende der prefatio (nur das Datum fehlt) und die direkte Anrede,
die allerdings auch innerhalb des Otto IV. gewidmeten Werkes vorkommt (s.
Anm.15 oder die Werkbegründungen gegen
Ende und wiederum zu Beginn der 1.dec. c.1.
Erweiterte inscriptio nach dem Muster der christlichen Briefliteratur (Orientalisch-jüdisches
Briefformular der Paulusepisteln,
kappadokischen Kirchenväter) und Cassiodors;
die collatio könnte als Gutachten im Sinne einer theologisch-juristisch
begründeten Antwort auf Fragen und Probleme der Legitimation des faktisch
gestürzten Kaisers durchaus als offener Brief gedacht sein; in der
Umwidmung gegen Ende der collatio allerdings eine bis zum Anakolouth überspannte,
barock anmutende Satzperiodik, passend zu Beruf und Berufung des Autors:
Gervasius von Tilbury
(*um 1160-+1234/1235); Erzieher des Prinzen Heinrich, des Sohnes Heinrichs
II. von England, des 1183 verstorbenen Onkels Ottos IV.; 1176/1180 clericus
im Dienste des Erzbischofs Wilhelm von Reims; 1189 im Dienst Wihelms II.
von Sizilien; 1194/1195 im Arelat, heiratet dort eine Verwandte des Erzbischofs
von Arles Humbert von Eyguières; seit 1202 Richter des Grafen von
Provence. Seit Ottos IV. Kaiserkrönung 1209 ist Gervasius imperialis
aule marescallus in regno Arelatensi; zu seinem Selbstverständnis
vgl. das Ende der prefatio; er bleibt auch Marschall nach dem Vordringen
Friedrichs II. 1214, erscheint als Richter aber nach 1217 nur noch 1221
in Arles. Vielleicht identisch mit Gervasius, dem Notar Ottos von Lüneburg
bei Otto IV. in Helmstedt im August/September 1215 und dem Propst von Ebstorf
im Lüneburgischen (s. Uhden, Gervasius von Tilbury
und die Ebstorfer
Weltkarte) etwa seit 1219; s. Hucker,
Otto IV. S.407f (Prosopograph. Verz. Nr.38).
B) COLLATIO SACERDOTII ET REGNI (Nc)(a)
VERGLEICHENDE UNTERSUCHUNG VON PRIESTERTUM UND KÖNIGTUM
I. Körper
und Seele
Duo sunt imperator auguste quibus hic mundus regitur.
(3)
Sacerdocium
et regnum. (4)
Sacerdos orat.
Rex imperat.
Sacerdos debita dimittit.(b)
Rex errata pugnit. (5)
Sacerdos animas ligat et soluit. Rex corpora cruciat et occidit.
(6)
vterque diuine legis executor.
suum iusticie debitum cuique tribuit
malos cohercendo
et bonos remunerando. (c) (7)
a) Collatio Regni & Sacerdotii L b) Sacerdos peccata & debita dimittit L c) et bonos remunerando L; schlecht lesbar interlinear Nc
Zweie sind, Kaiser (und) Mehrer (des Reiches), durch die diese Welt
gelenkt wird: (3)
Priestertum
und Königtum. (4)
Der Priester betet (bittet);
der König herrscht (befiehlt).
Der Priester erläßt Schuld;
der König straft Irrungen. (5)
Der Priester bindet Seelen und löst sie; der König martert
Körper und richtet sie hin. (6)
Beide weisen als Vollstrecker göttlichen Gesetzes
jedem das, was er der Gerechtigkeit schuldig ist,
indem sie die Bösen züchtigen
und den Guten ihren Dienst vergelten. (7)
3)
Programmatische Fanfare: Anfang des berühmten Briefes
Papst Gelasius' I. an den Kaiser Anastasios ep.8 (Migne PL 59 Sp.42 AB,
auch zitiert in Gratian 1.pars dist.96 c.10):
Duo quippe sunt, imperator Auguste, quibus
principialiter mundus hic regitur: auctoritas sacra(ta) pontificum, et
regalis potestas. In quibus tanto gravius est pondus sacerdotum, quanto
etiam pro ipsis regibus (hominum) Domino in divino reddituri sunt examine
rationem.
4)
Für Gervasius liegt der Prototypos des rex
et sacerdos (s. Anm.24) zugrunde; seine
beiden Aspekte sind platonisierend-"ontisch" aufzufassen: die beiden Ideen
geben das Muster; historische Personen füllen diese Wesenheiten nur
aus – vgl. die "Schatten"-Metapher für das Verhältnis von Wesen
und gegenwärtig geteilter Machtausübung des Priesterkönigtums
bei Augustinus, Civ 17,6; 17,10 und die Rede
von den aufeinanderfolgenden "Gliedern" der ewigen civitas Dei Civ
17,1 -, wobei in der nun folgenden Polarisierung der Aufgaben dem
Königtum ein stärkeres Vollzugsgewicht und dem Priestertum die
ideellere Funktion zuerteilt wird. – Rex meint dabei sowenig eine Minderung
des Kaisertitels wie sacerdos eine der Kirchenhierarchie; vgl. aber die
Empörung des Klerus darüber, daß Otto IV. seit 1211 die
höheren Ränge schlicht als "Priester" anredete, s.
MGH SS 30, S.578 Z.11-15 und Hucker, Otto
IV. S.545 ("Säkularisationspläne").
5)
Grundaxiom, Explikandum der Autoritäts-Charakteristik.
Lakonisch-knappe Reimparallelismen. – Das debita dimittere wird Mt
6,12 noch von allen gefordert; vgl. die sakramentale Einengung zum
Beichtgesetz auf dem (hier noch bevorstehenden) vierten Laterankonzil 1215
(s. Feine, Kirchliche Rechtsgeschichte, S.429).
Die Strafwürdigkeit von errata setzt eine Doktrin voraus, der das
Königtum als "weltlicher Arm" dient, z.B. in der Bekämpfung der
Katharer (gefordert seit dem dritten Laterankonzil
1179, konkret in den Albigenserkriegen 1209-1229); dies betrifft
in der Abfassungszeit der Otia allerdings mehr Philipp von Frankreich als
Otto IV. – Denkwürdige Parallele in dec.1
c.2
Bonus in altis sedet
dimittit peccata non punit
dort allerdings als zu widerlegende
Katharerlehre: die Strafgewalt des Königtums wurzelt also dagegen
in einer göttlichen Sühneforderung (gegen alle Paulinischen "Gnaden"-Topoi
- oder ihnen voraus, als der Genugtuungszwang des "Gesetzes" auf der königlichen
Seite, den die priesterlich vermittelte "Gnade" letztendlich überwinden
soll). Das Aufgabenfeld des rex entspricht hier der Funktion des Deus
malus in der genannten Stelle.
6)
anima und corpus
hier als jeweiliges Gerechtigkeits-Gebiet beider; vgl. unten Anm.16;
s. auch unten Anm.79 (Pilatus mit göttlicher
Vollmacht): Gervasius teilt das bedenkliche Verb cruciat
ohne große Bedenken dem corporale ministerium
executionis zu. Ohne eigentliche Parallele auch zum solvit
des Priestertums scheint das Königtum auf die Büttelfunktion
reduziert zu werden, s. vorige Anm. – Klangmalende
Alliterationen charakterisieren die Polarisation.
7) Gerechtigkeit
in der Platonischen Definition des suum cuique
(Politeia 433) ist somit die übergeordnete Idee beider; vgl.
den rex iustitiae (Vulgataübersetzung
des Namens Melchisedek), den Priesterkönig und Prototypos Christi
Hebr 7,2. – Den Reimparallelismus vgl. mit
einem entsprechenden in 1Petr 2,14,
ad vindictam malefactorum,
laudem vero bonorum;
s.u. Anm.84;
vgl. Gratian, 2.pars causa 23 qu.5 c.23: malos
comprimere et bonos sublevare regum officium est. Allgemein, z.B.
im "Streitgespräch zwischen Rom und dem Papst
über die Absetzung Ottos IV." V.55 und 399f, geht die Vergilische
"Bestimmung" der römischen Weltordnung Aen 6,853
parcere subiectis et debellare superbos
mit dem theokratischen Geschichtsverständnis
des Magnifikat-Psalms Lc 1,52
Deposuit potentes de sede
et exaltavit humiles
fast parallel und kann konkurrierende
Ansprüche auf "letzte Instanz" und Legitimität begründen.
Unterhalb der Synthese im rex iustitiae (Melchisedek als Prototypos des
rex et sacerdos Christus) teilt Gervasius allerdings die strafende und
die wiederaufrichtende Seite der Macht auf Königtum und Priestertum
auf (s. vorige Anmerkungen).
Quippe diuisum imperium cum Ioue Cesar habens. (8)
terrena moderatur. et lutea figmenta iudicat (9)
hec probans. ista conterens.(d)
Sacerdos animas informat.
Spiritus(e)
Diuini seminis vbertate recreat. (10)
dum celum celi domino
terram autem dedit filiis hominum.
sane filios hominum decent arma et sagitte. (11)
filios Dei orationes vota ac sacrificia
vt carbones succendantur ab eis. (12)
d) conterans N e) informat spiritu, divini L
Wenn ja "Mit dem Himmelsherrn gleich teilt der Kaiser sein Reich",
(8)
er also das Irdische im Zaum hält und den Erdgebilden Recht spricht,
(9)
dieses billigend, jenes verwerfend,
gibt andererseits der Priester den Seelen Gestalt,
schafft sie neu aus der Fruchtbarkeit des Samenkorns göttlichen Geistes.
(10)
Während "er den Himmel dem Herrn des Himmels läßt,
gab er die Erde allerdings den Menschensöhnen".
Gewiß ziemen sich für die Menschensöhne Waffen und Pfeile;
(11)
für die Gottessöhne aber Gebete und Opfer,
damit die Kohlen von ihnen entzündet werden. (12)
8)
Pseudovergilischer Pentameter (laut Nellmann,
Kreuzzugsappell S.47-53), s. Walther, Lat.
Sprichwörter 6105a (aus Margalits, Suppl.37). Vgl. Ps
113 b,16 (115,16), hier im folgenden Abschnitt zitiert, sowie Mt
22,21 (=Mc 12,17 =Lc 20,25) und
Ovid Met 15,858ff Pater est et rector uterque. S. Walther
von der Vogelweide Her keiser ich bin frone
botte (Kleine Heidelberger Liederhandschrift
10r, Str.81; ed. Lachmann 12,6-17), V.3:
Ir habt die erde er hant das himelriche.
Allerdings ist diese "Aufteilung"
mehrfach belegt; außer der erwähnten Psalm- und Ovid-Stelle
z.B. die gewagte Iupiter-Anrede in Horaz Carm. 1,12,51f:
... tu secundo/ Caesare regnes!
Vgl. die Distichen in Walther,
Lat. Sprichwörter 2229 und 26489:
Cesar in hoc mundo, celso Deus ethere regnat;
Cesaribus fas est, ferre Deoque
sua; und
Regna gubernat humi Cesar, Deus ardua celi
Sidera; laus istis
iusta duobus eat;
Iupiter
für Gervasius unbedenklich = Deus, s.
die volksetymologische Deutung des Namens dec.1 c.2,
"belegt" mit dem stoischen Lehrstück bei Lucan
9,580:
Iupiter est, quodcumque vides, quocumque moveris
Iupiter enim, quasi iuvans omnium pater, Deus est omnia in omnibus
(Act 17,28; 1Cor15,28).
9)
Der Mensch als Tonplastik des töpfernden Schöpfers
Gen 2,7; Iob 10,9; Sir 17,1. Ps 2,9 tamquam
vas figuli confringes eos delegiert die entsprechende Verfügungsgewalt
an den Gesalbten; s. Apoc 2,27. Zu Macht und
Recht des messianisch-königlichen (in Psalm
2, sonst immer göttlichen) figulus
vgl. auch Is 29,16; 45,9; 64,8; Ier 18,6; Rom 9,20-23.
10)
Die ungewöhnliche Formulierung verbindet Iudith
13,30 (Erweckungsschock des Achior) resumpto
spiritu recreatus est und Ps 103 (104),29f
emittes spiritum tuum et creabuntur, et renovabis
faciem terrae mit 1Petr 1,23
renati non ex semine corruptibili, sed incorruptibili per verbum Dei vivi;
für das Wort-Wirken des Priesters gilt auch das Sämann-Gleichnis
(Mc 4,14; Lc 8,11); s. auch die Menschenschöpfung
divino semine Ovid Met
1,78. Mal 2,15 semen
Dei wie auch sonst biblisch semen für
die Verheißungs-Nachkommenschaft Abrahams, des pater
omnium nostrum, gilt seit Paulus Rom 4,13-25
(s. auch Gal 3,7) für alle durch
den Glauben vom Tode Erweckten (vgl. Mt 3,9);
dann liegt auch der Gegensatz von lex und
iustitia fidei zugrunde (vgl. lex
und gratia in Ioh 1,17);
- die unbiblische ubertas hier in Funktion
des pleroma Ioh 1,16
(u.ö. bei Paulus).
11)
Ps 113 b,16 (115,16); s. die Vergleichsstellen
in Anm.8. – filii hominum
für Könige ist unüblich: im Plural schlicht "Menschenkinder";
Singular (Voc. fili hominis) bei Ezechiel
immer Anrede des Inspirierten von seiten des Inspirators; seltener der
Titel (quasi filius hominis Dan
7,13; Passionsankündigungen in den Evangelien)
des apokalyptischen Messias. Ebenso ist biblisch die Landvergabe als Verheißungsinhalt
heilig (s. noch Mt 5,4: Beati
mites, quoniam ipsi possidebunt terram) – unpassend zu den "geziemenden"
Waffen, vgl. Iudith 5,16 sine
arcu et sagitta (!) et absque scuto et gladio.
12)
Zwar sind in 2Rg (Sam) 22,9 und 13 (entspr. Ps 17,9
und 13) und Ez 1,13 carbones
succensi zunächst göttliche Attribute; der Parallelismus
von sagitte und carbones
als göttlicher Mittel gegen den feindlichen "Lügner" in Ps
119 (120),4 – in Ps 17 (18),13-15 beide
"Waffen" für die Blitze des im Gewitter erscheinenden Helfers -, dann
die berühmten "feurigen Kohlen auf dem Haupt" in Rom
12,20 – hier nun für die Feindesliebe der filii
patris (Mt 5,44f) – belegen die schon
skizzierte Rollenparallele von vergeltendem Königtum und verzeihendem
Priestertum beim Vollzug der Gerechtigkeit.
Dum vita pastoris. doctrina pascualis est ouibus (13)
et rigor punientis pax est popularis.
Porro sacerdocio regnum se nouerit
adesse non preesse. (14)
adici. non prefici.
in executionem dari. per adiutorium.
non in maioritatem efferri per dominationis auctoritatem. (15)
Constituens enim Dominus in homine corpus et animam
in vtroque per preuaricationem suam senciens lesam maiestatem (16)
corpori dedit legem talionis (17)
et anime satisfactionem contricionis
cum adiuncta verecundia confessionis.
secundum illud apostoli.
Quem enim fructum tunc habuistis.
in quibus nunc erubescitis? (18)
sicut ergo prius corpus ex lutea formatur materia (19)
et ex hinc anima vasi infunditur.
nec tamen anima corporis /
inclusa carcere (20)
f.1rb
corpori debet subesse
sed carnis opera regendo ad mensuram rationis disponere
ita Rex sacerdocium ante tempora legis Mosaice (21)
in Belo et Nino Assiriorum rege primo precedens.
ad hominum studens oppressionem.
non antefertur dignitate
sed etate. (22)
Wenn das Leben des Hirten den Schafen nahrhafte Lehre
(13)
und die Strenge des Strafenden Frieden im Volk bedeuten,
wird das Königtum wissen,
daß es dem Priestertum beisteht, nicht vorsteht, (14)
beigeordnet, nicht vorgeordnet wird,
nur durch Unterstützung zum Vollzug gebracht,
aber nicht durch die Autorität der Gewaltherrschaft zu größerer
Macht entwickelt wird. (15)
Als der Herr nämlich im Menschen Leib und Seele beschloß,
bedenkend, daß in beiden durch Gebotsübertretung seine Majestät
verletzt werde, (16)
gab er dem Körper das Gesetz der Vergeltung (17)
und der Seele die Genugtuung der Buße
unter Bedingung derReue in der Beichte,
gemäß dem Wort des Apostels:
"Was für eine Frucht habt Ihr damals erbracht,
in deren Scham Ihr jetzt noch erwacht?" (18)
Wie folglich zuerst der Körper aus irdischer Materie geformt wurde
(19)
und erst daraufhin die Seele dem Gefäß eingegossen wurde
und dennoch die Seele nicht, eingekammert im Kerker des Körpers,
(20)
dem Körper untertan sein muß,
sondern die Werke des Körpers durch Lenkung gemäß dem Maß
der Vernunft ordnen muß,
so wird der König, der doch dem Priestertum noch vor den Zeiten des
Mosaischen Gesetzes (21)
in Belus und Ninus, dem ersten König der Assyrer, vorangeht
und die Unterdrückung der Menschen erstrebt,
nicht aufgrund seiner Würde vorangestellt,
sondern nur aufgrund seines Alters. (22)
13) Ioh 10,11: Bonus
pastor animam suam dat pro ovilibus suis.
14) S. Gratian 1.pars dist.96 c.11 Imperatores
debent pontificibus subesse, non preesse.
15) Vgl. die Antithesen dec.1 c.20 Mitte
(L S.902, Z.19f):
Hic duo tibi princeps sacratissime
notanda sunt quod boni regis est
populum seruare non dissipare
saluare non perdere
parcere non seruituti
iugoque immisericordi subiugare.
Vorsichtige Anmutung in
der "Belehrung": Tendenz der Besänftigung oder weitergehenden Kultivierung
des in archaischer Wildheit wurzelnden Königtums (vgl. Anm.22
und 53 zu Belus und Ninus), gemäß
der "milderen" Autoritätsform des Priestertums.
16) Körper und Seele zugleich als Grundmodell der Funktion
wie auch als Felder einer bis in den Sündenfall zurückgreifenden
Gerechtigkeitsausübung beider Herrschaftsstiftungen, die dabei die
göttliche Majestät vertreten. Vgl. auch Innocenz
III. an den byzantinischen Kaiser Alexius: Unde
quanto dignior est anima corpore, tanto dignius est sacerdotium quam sit
regnum; Migne PL 216 Sp.1180 C.
17) Lev 24,17-22 per Moses, vgl.
unten Anm.57.
18) Rom 6,21; zu einem reimenden
Parallelismus umgestellt.
19) Gen 2,7, s. Anm.9. Die inspiratio
des Geistes in den limus terrae
Gen 2,7 wird von Gervasius als infusio
freier dem Gefäßmotiv angepaßt, vgl. effundam
de spiritu meo Ioel 3,1f in Act 2,17f;
entspr. Petrus Comestor, Historia scholastica 1 (Genesis),12
(gegen Ende): anima corpori prius formato
infusa. – Widersprechend Iohannes Damaskenos,
Pege gnoseos 3 (Ekdosis),2,12: Körper und Seele simultan geschaffen,
die entsprechende Formel s.u. 1.dec.
cap.2.
20) Durch seine Beziehungen zum Arelat (schon vor dem Marschalltitel)
muß die Tuchfühlung und Auseinandersetzung mit den Katharern
und ihrem Leib-Geist-Dualismus sehr eng gewesen sein; s. den großen
Einschub in dec.1 c.2; Körper als Kerker
der Seele, sogar mit einem entsprechenden Wortspiel, seit Platon
Krat 400 ("Orphiker"-Zitat); bei Gervasius aber kaum aus Platon
rezipiert, eher aus Augustins (genauso "klanghart"
alliterierender) Deutung Civ 14,3 des Vergilzitats
Aen 6,733f:
Hinc metuunt cupiuntque dolent gaudentque nec auras
suscipiunt clausae tenebris et carcere caeco;
tamen aliter se habet fides nostra.
Nam corruptio corporis, quae adgravat animam,
non peccati primi est causa, sed poena.
Nec caro corruptibilis animam peccatricem,
sed anima peccatrix fecit esse corruptibilem carnem. -
Nicht biblisch, wo carcer
weniger für das "Fleisch" als für das Totenreich und dessen Väterlimbus
(1Petr 3,19) steht: vgl.
Sap 17,2 u. 15; 18,4.
21) Moses selbst gibt das Beispiel für gottgestiftetes
regnum, s. unten Anm.54-62.
22) Der Mythos von den ersten Welteroberern Belus, Ninus und
Semiramis ist Anfangskapitel der immer benutzten Iustinischen
Epitome der verschollenen Weltgeschichte des Pompeius
Trogus; Anfangstopos der Weltreich-Chronologien in der Weltchronistik
(s. für Gervasius besonders Orosius Hist 1,1,1f;
1,4,1f; Eusebios/Hieronymus, Beginn der Chronologie lib.2, PL 19 Sp.349f
wie schon lib.1,12-15, PL 19 Sp.132-139; Augustinus Civ 16,17; 18,2):
Ninus Erbauer Ninives und Welteroberer, dessen Gattin Semiramis nach dessen
Tod noch India und Aithiopia dem protoalexandrischen Reich einverleibt
habe; Belus dessen Vater, der babylonisch-kanaanäische Baal (gr. Belos),
euhemeristisch "umgekehrt" in einen assyrischen Eroberer Ägyptens
und dann götzenhaft – eben als Bel – angebeteten Gründerkönig.
S. Anm.53. – Abraham, der im 43. Regierungsjahr des Ninus geboren sein
soll (Or. Hist 7,2,13; Aug. Civ 16,17 Ende),
hier merkwürdigerweise unerwähnt; gleichfalls Melchisedech, rex
iustitiae, der als Priester dem Hirtenkönig Brot und Wein spendet,
der "etate" als ungeboren (Hebr
7,3) voranschritte oder in Person zumindest gleichzeitig anzusetzen
wäre, von den "Opferern" Abel, Seth, Henoch, Noe im Gegensatz zu den
"Städtegründern" der Kain-Nachkommen ganz abgesehen; vgl. die
Priesterreihe im Dekret Innocenz III. an Ottos
früheren Gegenkönig Philipp von Schwaben, Quod
sacerdotium maius sit regno, Migne PL 216 Sp.1181. – Bei Augustinus
Civ 15,1 der natus prior Cain als Gründerkönig
der hominum civitas:
prior est natus civis huius saeculi,
posterius autem isto peregrinus in saeculo
et pertinens ad civitatem Dei (...)
Prius autem factum est vas in contumeliam,
post vero alterum in honorem,
quia et in ipso uno, sicut iam dixi, homine
prius est reprobum,
unde necesse est incipiamus
et ubi non est necesse ut remaneamus,
posterius vero probum,
quo proficientes veniamus
et quo pervenientes maneamus. -
Innocenz
widerspricht mit einer hieratischen Ursprungsthese dem Entwicklungsmotiv
des Augustinus:
Porro sicut sacerdotium dignitate precellit,
sic et antiquitate precedit. (!)
Utrumque, tam regnum quam sacerdotium,
constitutum fuit in populo Dei;
sed sacerdotium per ordinationem divinam,
regnum autem per extorsionem humanam.
Ebenso auch in Widerlegung
der Argumente des byzantinischen Kaisers Alexios,
daß doch Moses dem Aaron, David dem Abiathar vorgehe, a.a.O.
Sp.1183f. – Den weitestmöglichen typologischen Rückgang
machte der, der Adam für seinen Stand vindizierte; das wäre die
"Schatzhöhle" der Schule des Syrers
Ephraim 2,23f: "Adam! Ich machte dich jetzt
zum König, Priester und Propheten sowie zum Herrn, Haupt und Führer
aller geschaffenen Wesen und Geschöpfe. Dir dienen sie alle und sollen
dein eigen sein; ich gab dir die Herrschaft über alles, was ich geschaffen
habe", nach Gen 1,28; mit Gelasius'
"Gewaltenteilung" jedoch vermieden, zugleich mit dem rex-et-sacerdos-Motiv
überzielt und mit dem Motiv des "neuen Adam" Rom
5,12-21; 1Cor 15,21f; 15,45-49 generalisiert und in alle Menschen
verpflanzt.
Und noch stärker hat jener höchste König
und Priester Christus nach der Ordnung des Melchisedech (23)
durch seine Herrschaft das Priestertum geweiht,
indem er seinen Stand im Klerus aufbaute,
durch dessen Verdienst die Kleriker
gleichsam als in den Stand des Herrn Berufene ihren Namen haben.
(24)
Folglich hat der Schöpfer und Herr beider
die Kleriker in die Teilhabe an seinem Anteil berufen
und gewollt, daß die Laien in das körperliche Amt des Vollzugs
kommen sollten. (25)
23) Das Priesterkönigtum Christi: Synthese von Hebr
5,6, der typologischen Deutung von Ps 110
(111),4: sacerdos in aeternum secundum ordinem
Melchisedech, und Hebr 7,2 (rex
iustitiae) mit Apoc 19,16 (rex
regum) gemäß Mt 28,18 (data
est mihi omnis potestas in caelo et in terra), s. Anm.95. Vgl. Innocenz'
III. Ansprüche auf diese Doppelfunktion: RNI
(ed. Kempf) besonders Nr.18 S.46 Z.3-10; u.ö.:
S.6 Z.14-15, S.46 Z.3-4, S.63 Z.19-20, S.109 Z.28, S.333 Z.13, S.409 Z.16-18.
- S. die "Versöhnung" der beiden Rangstrittigen gegen Ende,
Anm.89. – Vgl. auch das Spottlied auf
Otto den IV. "Rex et sacerdos prefuit" in
der Einleitung.
24) Act 1,17 – darauf bezieht sich
auch Gratian 1.pars dist.21 c.1 (zit. Isidor, Etym
7,12,1): Cleros et clericos hinc appellatos
credimus, quia Mathias sorte electus est, quem primum per apostolos legimus
ordinatum. Kleros enim Grece, Latine sors vel hereditas dicitur. Propterea
ergo dicti sunt clerici, quia de sorte sunt Domini, vel quia Domini partem
habent. Generaliter autem clerici nuncupantur omnes, qui in ecclesia Christi
deserviunt; biblisch bedeutet die entsprechende Prädestination
allerdings keine Absonderung, vgl. Act 26,18,
sondern eschatologische Gesamtintegration, s. Sap
5,5; Eph 1,4 u. 11; Col 1,12. – Lev 16,8
sors domino über
den Opferwidder, dessen Blut zur Expiation des Volkes am Versöhnungstag
dient.
25)
Mit dem körperlichen Amt des Vollzugs vgl. das Selbstverständnis
des Klerikers im Staatsdienst gegen Ende
der collatio:
quod ex officio marescalcie sub debito armorum
ministerio exequi teneor, acute lingue gladio ducam in ministerium;
der angebotene Ersatz des Vasallendienstes durch propagandistische oder
literarische Leistungen trägt die klerikale "Wort"-Verwaltung ins
weltliche Feld.
weiter zur 2.
Teilseite, 3. Teilseite, 4.
Teilseite, 5. Teilseite