Immanuel Kant : Kritik der reinen Vernunft
Elementarlehre : II. Teil : II. Abteilung : II. Buch : II. Hauptstück : II. Abschnitt
Die Antithetik der reinen Vernunft
Erste, zweite, dritte, vierte Antinomie
siehe auch: Die Beweise für die transzendentale Idealität des Raumes und der Zeit
 
(A 434 / B 462) 
Der Antinomie 
Zweiter Widerstreit
 
Thesis 
    Eine jede zusammengesetzte  
      Substanz in der Welt  
        besteht aus einfachen Teilen, 
    und es existiert überall  
      nichts als das Einfache, 
    oder das, was aus diesem  
      zusammengesetzt ist. 
(A 435 / B 463) 
der reinen Vernunft  
der transzendentalen Ideen  
 
Antithesis 
    Kein zusammengestztes  
      Ding in der Welt  
        besteht aus einfachen Teilen, 
    und es existiert überall  
      nichts Einfaches in derselben.  
          
         
Beweis 
 
Denn, nehmet an, 
die zusammengesetzten Substanzen 
beständen nicht aus einfachen Teilen; 
    so würde, wenn alle Zusammensetzung in Gedanken aufgehoben würde, 
    kein zusammengesetzter Teil, 
    und (da es keine einfachen Teile gibt) auch kein einfacher, 
    mithin gar nichts übrigbleiben, 
    folglich keine Substanz sein gegeben worden. 
     
    Entweder also läßt sich unmöglich alle Zusammensetzung in Gedanken aufheben, 
    oder es muß nach deren Aufhebung 
    etwas ohne alle Zusammensetzung Bestehendes, 
    d. i. das Einfache, übrigbleiben. 
     
    Im ersteren Falle aber 
    würde das Zusammengesetzte 
    wiederum nicht aus Substanzen bestehen 
    (weil bei diesen die Zusammensetzung 
    nur eine zufällige Relation der Substanzen ist, 
    ohne welche diese als für sich beharrliche Wesen 
    bestehen müssen). 
     
    Da nun (A 436 / B464) dieser Fall der Voraussetzung widerspricht, 
    so bleibt nur der zweite übrig: 
    daß nämlich das substantielle Zusammengesetzte 
    in der Welt aus einfachen Teilen bestehe. 
Beweis 
 
Setzet: 
ein zusammengesetztes Ding (als Substanz) 
bestehe aus einfachen Teilen. 
    Weil alles äußere Verhältnis, 
    mithin auch alle Zusammensetzung 
    aus Substanzen, 
    nur im Raume möglich ist: 
    so muß, 
    aus so viel Teilen das Zusammengesetzte besteht, 
    aus ebensoviel Teilen auch der Raum bestehen, 
    den es einnimmt. 
     
    Nun besteht der Raum nicht aus einfachen Teilen, sondern aus Räumen. 
    Also muß jeder Teil des Zusammengesetzten einen Raum einnehmen. 
     
    Die schlechthin ersten Teile aber 
    alles Zusammengesetzten 
    sind einfach. 
    Also nimmt das Einfache 
    einen Raum ein. 
     
     
     
     
     
     
     
     
    Hieraus folgt unmittelbar, 
    daß die Dinge der Welt insgesamt 
    einfache Wesen sind, 
    daß die Zusammensetzung 
    nur ein äußerer Zustand derselben sei, 
    und daß, 
    wenn wir die Elementarsubstanzen gleich niemals 
    völlig aus diesem Zustande der Verbindung setzen 
    und isolieren können, 
    doch die Vernunft sie als die ersten Subjekte 
    aller Komposition, 
    und mithin, vor derselben, 
    als einfache Wesen denken müsse. 
    Da nun alles Reale, 
    was einen Raum einnimmt, 
    ein außerhalb einander befindliches 
    Mannigfaltiges in sich faßt, 
    mithin zusammengesetzt ist, 
    und zwar als ein reales Zusammengesetztes, 
    nicht aus Akzidenzen 
    (denn die können nicht 
    ohne Substanz außereinander sein) 
    mithin aus Substanzen; 
    so würde das Einfache 
    ein substantielles Zusammengesetztes sein, 
    welches sich widerspricht. 
     
    Der zweite Satz der Antithesis, daß in der Welt gar nichts Einfaches existiere, soll hier nur so viel (A 437 / B 465) bedeuten, als: Es könne das Dasein des schlechthin Einfachen aus keiner Erfahrung oder Wahrnehmung, weder äußeren, noch inneren, dargetan werden, und das schlechthin Einfache sei also eine bloße Idee, deren objektive Realität niemals in irgend einer möglichen Erfahrung kann dargetan werden, mithin in der Exposition der Erscheinungen ohne alle Anwendung und Gegenstand. 
    Denn wir wollen annehmen, es ließe sich für diese transzendentale Idee ein Gegenstand der Erfahrung finden: so müßte die empirische Anschauung irgendeines Gegenstandes als eine solche erkannt werden, welche schlechthin kein Mannigfaltiges außerhalb einander, und zur Einheit verbunden, enthält. 
    Da nun von dem Nichtbewußtsein eines solchen Mannigfaltigen auf die gänzliche Unmöglichkeit desselben in irgendeiner Anschauung eines Objekts kein Schluß gilt, dieses letztere aber zur absoluten Simplizität durchaus nötig ist; so folgt, daß diese aus keiner Wahrnehmung, welche sie auch sei, könne geschlossen werden. 
    Da also etwas als ein schlechthin einfaches Objekt niemals in irgend einer möglichen Erfahrung kann gegeben werden, die Sinnenwelt aber als der Inbegriff aller möglichen Erfahrungen angesehen werden muß: so ist überall in ihr nichts Einfaches gegeben. 
     
    Dieser zweite Satz der Antithesis geht viel weiter als der erste, der das Einfache nur von der Anschauung des Zusammengesetzten verbannt, da hingegen dieser es aus der ganzen Natur wegschafft; daher er auch nicht aus dem Begriffe eines gegebenen Gegenstandes der äußeren Anschauung (des Zusammengesetzten), sondern aus dem Verhältnis desselben zu einer möglichen Erfahrung überhaupt hat bewiesen werden können.
 
(A 438 /B 466)
Anmerkung zur zweiten Antinomie
 
I. zur Thesis 
 
Wenn ich von einem Ganzen rede, welches notwendig aus einfachen Teilen besteht, so verstehe ich darunter nur ein substantielles Ganzes als das eigentliche Kompositum, d. i. die zufällige Einheit des Mannigfaltigen, welches abgesondert (wenigstens in Gedanken) gegeben, in eine wechselseitige Verbindung gesetzt wird, und dadurch Eines ausmacht. Den Raum sollte man eigentlich nicht Kompositium, sondern Totum nennen, weil die Teile desselben nur im Ganzen und nicht das Ganze durch die Teile möglich ist. Er würde allenfalls ein compositum ideale, aber nicht reale heißen können. Doch dieses ist nur Subtilität. Da der Raum kein Zusammengesetztes aus Substanzen (nicht einmal aus realen Akzidenzen) ist, so muß, wenn ich alle Zusammensetzung in ihm aufhebe, nichts, auch nicht einmal der Punkt übrigbleiben; denn dieser ist nur als die Grenze eines Raumes, (mithin eines Zusammengesetzten) möglich. Raum und (A 440 / B 468) Zeit bestehen also nicht aus einfachen Teilen. Was nur zum Zustande einer Substanz gehört, ob es gleich eine Größe hat (z. B. die Veränderung), besteht auch nicht aus dem Einfachen, d. i. ein gewisser Grad der Veränderung entsteht nicht durch einen Anwachs vieler einfachen Veränderungen. Unser Schluß vom Zusammengesetzten auf das Einfache gilt nur von für sich selbst bestehenden Dingen. Akzidenzen aber des Zustandes bestehen nicht für sich selbst. Man kann also den Beweis für die Notwendigkeit des Einfachen, als der Bestandteile alles substantiellen Zusammengesetzten, und dadurch überhaupt seine Sache leichtlich verderben, wenn man ihn zu weit ausdehnt und ihn für alles Zusammengesetzte ohne Unterschied geltend machen will, wie es wirklich mehrmalen schon geschehen ist. 
Ich rede übrigens hier nur von dem Einfachen, sofern es notwendig im Zusammengesetzten gegeben ist, indem dieses darin, als in seine Bestandteile, aufgelöst werden kann. Die eigentliche Bedeutung des Wortes (A 441 / B 469) Monas (nach Leibnitzens Gebrauch) sollte wohl nur auf das Einfache gehen, welches unmittelbar als einfache Substanz gegeben ist (z.B. im Selbstbewußtsein) und nicht als Element des Zusammengesetzten, welches man besser den Atomus nennen könnte. Und da ich nur in Ansehung des Zusammengesetzten die einfachen Substanzen, als deren Elemente, beweisen will, so könnte ich die Antithese der zweiten Antinomie die transzendentale Atomistik nennen. Weil aber dieses Wort schon vorlängst zur Bezeichnung einer besonderen Erklärungsart körperlicher Erscheinungen (molecularum) gebraucht worden, und also empirische Begriffe voraussetzt, so mag er der dialektische Grundsatz der Monadologie heißen. 
 
 
 
 
 
 
 
 
 
(A 439 / B 467) 
 II. Anmerkung zur Antithesis 
 
Wider diesen Satz einer unendlichen Teilung der Materie, dessen Beweisgrund bloß mathematisch ist, werden von den Monadisten Einwürfe vorgebracht, welche sich dadurch schon verdächtig machen, daß sie die klarsten mathematischen Beweise nicht für Einsichten in die Beschaffenheit des Raumes, sofern er in der Tat die formale Bedingung der Möglichkeit aller Materie ist, wollen gelten lassen, sondern sie nur als Schlüsse aus abstrakten aber willkürlichen Begriffen ansehen, die auf wirkliche Dinge nicht bezogen werden könnten. Gleich als wenn es auch nur möglich wäre, eine andere Art der Anschauung zu erdenken, als die in der ursprünglichen Anschauung des Raumes gegeben wird, und die Bestimmungen desselben a priori nicht zugleich alles dasjenige beträfen, was dadurch allein möglich ist, daß es diesen Raum erfüllt. Wenn man ihnen Gehör gibt, so müßte man, außer dem mathematischen Punkte, der einfach, aber kein Teil, sondern bloß die Grenze eines Raumes ist, sich noch physische Punkte denken, die zwar auch einfach sind, aber den Vorzug haben, als Teile des Raumes, durch ihre bloße Aggregation denselben zu erfüllen. Ohne nun hier die gemeinen und klaren Widerlegungen dieser Ungereimtheit, die man in Menge antrifft, zu wiederholen, wie es denn gänzlich umsonst ist, durch bloß diskursive Begriffe die Evidenz der Mathematik weg vernünfteln zu wollen, so bemerke ich nur, daß, wenn die Philosophie hier mit der Mathematik (A 442 / B 470) schikaniert, es darum geschehe, weil sie vergißt, daß es in dieser Frage nur um Erscheinungen und deren Bedingung zu tun sei. Hier ist es aber nicht genug, zum reinen Verstandesbegriffe des Zusammengesetzten den Begriff des Einfachen, sondern zur Anschauung des Zusammengesetzten (der Materie) die Anschauung des Einfachen zu finden, und dieses ist nach Gesetzen der Sinnlichkeit, mithin auch bei Gegenständen der Sinne, gänzlich unmöglich. Es mag also von einem Ganzen aus Substanzen, welches bloß durch den reinen Verstand gedacht wird, immer gelten, daß wir vor aller Zusammensetzung desselben das Einfache haben müssen; so gilt dieses doch nicht vom totum substantiale phaenomenôn, welches, als empirische Anschauung im Raume, die notwendige Eigenschaft bei sich führt, daß kein Teil desselben einfach ist, darum, weil kein Teil des Raumes einfach ist. Indessen sind die Monadisten fein genug gewesen, dieser Schwierigkeit dadurch ausweichen zu wollen, daß sie nicht den Raum als eine Bedingung der Möglichkeit der Gegenstände äußerer Anschauung (Körper), sondern diese, und das dynamische Verhältnis der Substanzen überhaupt, als die Bedingung der Möglichkeit des Raumes voraussetzen. Nun haben wir von Körpern nur als Erscheinungen einen Begriff, als solche aber setzen sie den Raum als die Bedingung der Möglichkeit aller äußeren Erscheinung notwendig voraus, und die Ausflucht ist also vergeblich, wie sie denn auch oben in der transzendentalen Ästhetik hinreichend ist abgeschnitten worden. Wären sie Dinge an sich selbst, so würde der Beweis der Monadisten allerdings gelten. 
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