ECHEKRATES, PHAIDON
[1. Der Aufschub der
Hinrichtung und sein Grund]
Echekrates:
Warst du selbst, o Phaidon, bei dem Sokrates
an jenem Tage,
als er das Gift trank in dem Gefängnis,
oder hast du es von einem andern gehört?
Phaidon:
Selbst war ich da, o Echekrates.
Echekrates:
Was also hat denn der Mann gesprochen vor seinen
Tode,
und wie ist er gestorben?
Gern hörte ich das.
Denn weder von meinen Landsleuten, den Phliasiern,
reist jetzt leicht einer nach Athen,
noch ist von dort her seit geraumer Zeit ein
Gastfreund angekommen,
der uns etwas Genaues darüber berichten
konnte,
außer nur, daß er das Gift getrunken
hat und gestorben ist,
von dem Übrigen wußte keiner etwas
zu sagen.
Phaidon:
Auch von der Klage also habt ihr nichts erfahren,
wie es dabei hergegangen ist?
Echekrates:
Ja, das hat uns jemand erzählt,
und wir haben uns gewundert, daß, obwohl
sie schon längst abgeurteilt war,
er offen bar erst weit später gestorben
ist.
Wie war doch das, o Phaidon?
Phaidon:
Durch einen Zufall fügte es sich so,
Echekrates.
Es traf sich nämlich,
daß gerade an dem Tage vor dem Gericht
das Schiff bekränzt worden war,
welches die Athener nach Delos senden.
Echekrates:
Was hat es damit auf sich?
Phaidon:
Dies ist das Schiff, wie die Athener sagen, worin
einst Theseus fuhr,
um jene «zweimal sieben» nach Kreta
zu bringen,
die er rettete und sich selbst auch.
Damals hatten sie dem Apollon gelobt, wie man
sagt,
wenn sie gerettet würden, ihm jedes Jahr
einen Festzug nach Delos zu senden,
welchen sie nun seitdem immer und auch jetzt
noch jährlich an den Gott senden.
Sobald nun diese Festzug angefangen hat,
ist es Gesetz, während dieser Zeit die Stadt
rein zu halten
und von Staats wegen niemanden zu töten,
bis da Schiff in Delos angekommen ist und auch
wieder zurück.
Und dies währt bisweilen lange,
wenn widrige Winde einfallen.
Des Festzuges Anfang ist aber,
wenn der Priester des Apollon das Vorderteil
des Schiffes bekränzt;
und dies, wie ich sage, war eben den Tag vor
dem Gerichtstage geschehen.
Daher hätte Sokrates soviel Zeit in dem
Gefängnis zwischen dem Urteil und dem Tode.
[2.
Zustand der beim Tode des S. Gegenwärtigen; ihre Namen]
Echekrates:
Wie war es aber bei seinem Tode selbst, o Phaidon?
Was wurde gesprochen und was getan?
Welche von seinen Vertrauten waren bei dem Manne?
Oder ließ die Behörde sie nicht zu
ihm
und er starb ohne Beisein von Freunden?
Phaidon:
Keineswegs, sondern es waren von ihnen,
und zwar ziemlich viele, zugegen,
Echekrates:
Alles dieses bemühe dich doch uns recht
genau zu erzählen,
wenn es dir nicht etwa an Muße fehlt.
Phaidon:
Nein, ich habe Muße und will versuchendes
euch zu erzählen.
Denn des Sokrates zu gedenken,
sowohl selbst von ihm redend als auch anderen
zuhörend,
ist mir immer von allem das Erfreulichste.
Echekrates:
Und eben solche, o Phaidon, hast du jetzt auch
zu Hörern.
Also versuche nur alles, so genau du immer kannst,
uns vorzutragen.
Phaidon:
Mir meinesteils war ganz wunderbar zumute dabei.
Bedauern nämlich kam mir gar nicht ein als
wie einem,
der bei dem Tode eines vertrauten Freundes zugegen
sein soll;
denn glückselig erschien mir der Mann, o
Echekrates,
in seinem Benehmen und seinen Reden,
wie standhaft und edel er endete,
so daß ich vertraute,
er gehe auch in die Unterwelt nicht ohne göttliche
Schickung,
sondern auch dort werde er sich wohlbefinden,
wenn jemals einer sonst.
Darum nun trat mich weder etwas Weichherziges
an,
wie man doch denken sollte bei solchem Trauerfall,
noch auch waren wir fröhlich,
wie in unsern philosophischen Beschäftigungen
nach gewöhnlicher Weise,
obwohl unsere Unterredungen auch von dieser Art
waren;
sondern in einem gar nicht festzulegenden Zustande
befand ich mich
und in einer ungewohnten Mischung,
die aus Lust zugleich und Betrübnis zusammengemischt
war,
wenn ich bedachte, daß er nun gleich sterben
würde.
Und alle Anwesenden waren fast in derselben Gemütsstimmung,
bisweilen lachend, dann wieder weinend,
ganz vorzüglich aber einer unter uns, Apollodoros.
Du kennst ja wohl den Mann und seine Weise.
Echekrates:
Wie sollte ich nicht.
Phaidon:
Der war nun ganz vorzüglich so;
aber auch ich war gleichermaßen bewegt
und die übrigen,
Echekrates:
Welche aber waren denn gerade da, Phaidon?
Phaidon:
Eben dieser Apollodoros war von den Einheimischen
zugegen
und Kritobulos mit seinem Vater Kriton;
dann noch Hermogenes und Epigenes und Aischines
und Antisthenes.
Auch Ktesippos, der Paeanier, war da und Menexenos
und einige andere von den Landsleuten;
Platon aber, glaube ich, war krank.
Echekrates:
Waren auch noch Fremde zugegen?
Phaidon:
Ja, Simmias, der Thebaner, und Kebes und Phaidondes,
und aus Megara Eukleides und Terpsion.
Echekrates:
Wie aber Aristippos und Kleombrotos, waren die
da?
Phaidon:
Nein, es hieß, sie wären in Aigina.
Echekrates:
War noch sonst jemand gegenwärtig?
Phaidon:
Ich glaube, dies waren sie ziemlich alle.
Echekrates:
Und wie nun weiter?
Was für Reden, sagst du, wurden geführt?
[3.
Der Eintritt in das Gefängnis;
S. über die notwendige Verbindung des
sogenannten Angenehmen mit seinem Gegenteil]
Phaidon:
Ich will versuchen, dir alles von Anfang an zu
erzählen.
Wir pflegten nämlich auch schon die Tage
vorher immer zum Sokrates zu gehen,
ich und die andern,
und versammelten uns des Morgens im Gerichtshause,
wo auch das Urteil gefällt worden war;
denn dies ist nahe bei dem Gefängnis.
Da warteten wir jedesmal, bis das Gefängnis
geöffnet wurde,
und unterredeten uns unterdessen.
Denn es wurde nicht sehr früh geöffnet;
sobald es aber offen war, gingen wir hinein zum
Sokrates
und brachten meist den Tag bei ihm zu.
Auch damals nun hatten wir uns noch früher
versammelt,
weil wir tags zuvor, als wir abends aus dem Gefängnis
gingen,
erfahren hatten, daß das Schiff aus Delos
angekommen sei.
Wir gaben uns also einander das Wort,
auf das früheste an dem gewohnten Ort zusammenzukommen.
Das taten wir auch,
und der Türsteher, der uns aufzumachen pflegte,
kam heraus und sagte, wir sollten warten
und nicht eher kommen, bis er uns riefe.
Denn, sprach er, die Elf lösen jetzt den
Sokrates und kündigen ihm an,
daß er heute sterben soll.
Nach einer kleinen Weile kam er dann und hieß
uns hineingehen.
Als wir nun hineintraten, fanden wir den Sokrates
eben entfesselt,
und Xanthippe, du kennst sie doch,
sein Söhnchen auf dem Arm haltend, saß
neben ihm.
Als uns Xanthippe nun sah, wehklagte sie
und redete allerlei dergleichen, wie die Frauen
es pflegen,
nämlich: O Sokrates,
nun reden diese deine Freunde zum letzten Male
mit dir, und du mit ihnen.
Da wendete sich Sokrates zum Kriton und sprach:
O Kriton, laß doch jemand diese nach Hause führen.
Da führten einige von Kritons Leuten sie
heulend und sich übel gebärdend fort.
Sokrates aber, auf dem Bette sitzend,
zog das Bein an sich und rieb sich den Schenkel
mit der Hand,
indem er zugleich sagte:
Was für ein eigenes Ding, ihr Männer, ist es doch um das,
was die Menschen angenehm nennen;
wie wunderlich verhält es sich zu dem,
was ihm entgegengesetzt zu sein scheint, dem Unangenehmen,
daß nämlich beide zu gleicher Zeit zwar nie in dem Menschen
sein wollen,
doch aber, wenn einer dem einen nachgeht und es erlangt,
er meist immer genötigt ist, auch das andere mitzunehmen,
als ob sie zu zweit an einer Spitze zusammengeknüpft wären;
und ich denke, wenn Aisopps dies bemerkt hätte,
würde er eine Fabel daraus gemacht haben,
daß Gott beide, da sie im Kriege begriffen sind, habe aussöhnen
wollen,
und weil er dies nicht gekonnt, sie an den Enden zusammengeknüpft
habe,
und deshalb nun, wenn jemand das eine hat, komme ihm das andere nach.
So scheint es nun auch mir gegangen zu sein;
weil ich von der Fessel in dem Schenkel vorher Schmerz hatte,
so kommt mir nun die angenehme Empfindung hintennach.
[4. Der Traum des S.;
seine zwiefache Beschäftigung mit der Musik]
Darauf nahm Kebes das Wort und sagte:
Beim Zeus, Sokrates das ist gut, daß du
mich daran erinnerst.
Denn nach deinen Gedichten, die du gemacht hast,
indem du die Fabeln des Aisopos in Verse gebracht,
und nach dem Vorgesang an den Apollon,
haben mich auch andere schon gefragt,
und noch neulich Euenos, wie es doch zu gehe,
daß, seitdem du dich hier befindest, du
Verse machst,
da du es zuvor nie getan hast.
Ist dir nun etwas daran gelegen,
daß ich dem Euenos zu antworten weiß,
wenn er mich wieder fragt,
und ich weiß gewiß, das wird er:
so sprich, was ich ihm sagen soll. —
Sage ihm denn, sprach er, o Kebes, die Wahrheit,
daß ich es nicht tue, um etwa gegen ihn und seine Gedichte aufzutreten,
denn das, wüßte ich wohl, wäre nicht leicht,
sondern um zu versuchen, was wohl ein gewisser Traum meine,
und mich vor Schaden zu hüten,
wenn etwa dies die Musik wäre, die er mir anbefiehlt.
Es war nämlich dieses:
es ist mir oft derselbe Traum vorgekommen in dem nun vergangenen Leben,
der mir bald in dieser, bald in jener Gestalt erscheinend immer dasselbe
sagte:
O Sokrates, sprach er, mach und treibe Musik.
Und ich dachte sonst immer, nur zu dem, was ich schon tat, ermuntere
er mich
und treibe mich noch mehr an, wie man die Laufenden anzutreiben pflegt,
so ermuntere mich auch der Traum zu dem, was ich schon tat,
Musik zu machen,
weil nämlich die Philosophie die vortrefflichste Musik ist und
ich diese doch trieb.
Jetzt aber, seit das Urteil gefällt ist und die Feier des Gottes
meinen Tod noch verschoben hat,
dachte ich doch, ich müsse, falls etwa der Traum mir doch beföhle,
mit dieser gewöhnlichen Musik mich zu beschäftigen,
auch dann nicht ungehorsam sein, sondern es tun.
Denn es sei doch sicherer, nicht zu gehen,
bis ich mich auch so vorgesehen und Gedichte gemacht,
um dem Traum zu gehorchen.
So habe ich denn zuerst auf den Gott gedichtet, dem das Opfer eben
gefeiert wurde,
und nächst dem Gott,
weil ich bedachte, daß ein Dichter, wenn er ein Dichter sein
wolle,
Fabeln dichten müsse und nicht vernünftige Reden
und ich selbst nicht erfindsam bin in Fabeln,
so habe ich deshalb von denen, die bei der Hand waren und die ich kannte,
den Fabeln des Aisopos, welche mir eben vorkamen, in Verse gebracht.
[5.
Auftrag des S. an Euenos und jeden Philosophen, ihm zum Tode zu folgen]
Dieses also, o Kebes, sage dem Euenos,
und er solle Wohlleben und, wenn er klug wäre, mir nachkommen.
Ich gehe aber, wie ihr seht, heute,
denn die Athener befehlen es. —
Da sagte Simmias:
Was läßt du doch da dem Euenos sagen,
o Sokrates! Ich habe schon viel mit dem Manne
verkehrt;
aber soviel ich gemerkt, wird er auch nicht die
mindeste Lust haben, dir zu folgen. —
Wieso? fragte er,
ist Euenos nicht ein Philosoph? —
Das dünkt mich doch, sprach Simmias. —
Nun, so wird er auch wollen, er
und jeder, der würdig an diesem Geschäfte teilnimmt.
Nur Gewalt wird er sich doch nicht selbst antun;
denn dies, sagen sie, sei nicht recht.
Und als er dies sagte,
ließ er seine Beine von dem Bett wieder
herunter auf die Erde,
und so sitzend sprach er das Übrige. —
Kebes fragte ihn nun:
Wie meinst du das, o Sokrates, daß es nicht
recht sei, sich selbst Leides zu tun,
daß aber doch der Philosoph dem Sterbenden
zu folgen wünsche? —
Wie, Kebes? Habt ihr über diese Dinge nichts gehört,
du und Simmias, als ihr mit dem Philolaos zusammenwart? —
Nichts Genaues wenigstens, Sokrates. —
Auch ich kann freilich nur vom Hörensagen davon reden;
was ich aber gehört, bin ich gar nicht abgünstig euch zu
sagen.
Auch ziemt es sich ja wohl am besten,
daß der, welcher im Begriff ist, dorthin zu wandern,
nachsinne und sich Bilder mache über die Wanderung dorthin,
wie man sie sich wohl zu denken habe.
Was könnte einer auch wohl noch weiter tun in der Zeit bis zum
Untergang der Sonne! —
[6. Unerlaubtheit
eines gewaltsamen Todes]
Weshalb also sagen sie,
es sei nicht recht, sich selbst zu töten,
o Sokrates?
Denn ich habe dies, wonach du eben fragtest, auch
vom Philolaos gehört,
als er sich bei uns aufhielt, und auch schon
von andern,
daß man dies nicht tun dürfe.
Genaues aber habe ich von keinem jemals etwas
darüber gehört. —
So mußt du dich noch weiter bemühen, sagte er,
du kannst es ja wohl noch hören.
Vielleicht aber kommt es dir auch wunderbar vor,
daß dies allein unter allen Dingen schlechthin so sein soll
und auf keine Weise, wie doch sonst überall, bisweilen und einigen,
besser zu sterben als zu leben.
Und denen nun besser wäre zu sterben,
wird dir wunderbar vorkommen,
daß es diesen Menschen nicht erlaubt sein solle, sich selbst
wohlzutun,
sondern daß sie einen andern Wohltäter erwarten sollen.
—
Da sagte Kebes etwas lächelnd und in seiner
Mundart:
Das mag Gott wissen. —
Es kann freilich so scheinen, unvernünftig zu sein,
sprach Sokrates,
aber es hat doch wohl auch einigen Grund.
Denn was darüber in den Geheimnissen gesagt wird,
daß wir Menschen wie in einer Feste sind
und man sich aus dieser nicht selbst losmachen und davongehen dürfe,
das erscheint mir doch als eine gewichtige Rede und gar nicht leicht
zu durchschauen.
Wie denn auch dieses, o Kebes, mir ganz richtig gesprochen scheint,
daß die Götter unsere Hüter
und wir Menschen eine von den Herden der Götter sind.
Oder dünkt es dich nicht so? —
Allerdings wohl, sagte Kebes. —
Also auch du würdest gewiß, wenn ein Stück aus deiner
Herde sich selbst tötete,
ohne daß du angedeutet hättest, daß du wolltest, es
solle sterben,
diesem zürnen,
und wenn du noch eine Strafe wüßtest, es bestrafen? —
Ganz gewiß, sagte er. —
Auf diese Weise nun wäre es also wohl nicht unvernünftig,
daß man nicht eher sich selbst töten dürfe,
als bis der Gott irgendeine Notwendigkeit dazu verfügt hat,
wie die jetzt uns gewordene. —
[7. Gründe des
Kebes und Simmias gegen das behauptete Sterbenwollen des Philosophen]
Dieses freilich, sagte Kebes, scheint ganz billig.
Was du jedoch vorher sagtest, daß jeder
Philosoph gern werde sterben wollen,
dieses, o Sokrates, kommt dann ungereimt heraus;
wenn doch, was wir eben sagten, sich richtig
so verhält,
daß Gott es ist, der unser hütet,
und wir zu seiner Herde gehören.
Denn daß nicht die Vernünftigsten
gerade am unwilligsten aus dieser Pflege sich entfernen sollten,
wo diejenigen für sie sorgen, welche die
besten Versorger sind für alles, was ist, die Götter,
das ist gar nicht zu denken.
Denn sie können ja nicht glauben,
daß sie sich selbst besser hüten werden,
wenn sie frei geworden sind;
sondern nur ein unvernünftiger Mensch könnte
das vielleicht glauben,
daß es gut wäre, von seinem Herrn
zu fliehen,
und könnte nicht bedenken, daß man
ja von dem Guten nicht fliehen muß,
sondern sich soviel als möglich daran halten,
und daß er also unvernünftigerweise
fliehen würde;
der Vernünftige aber würde immer streben,
bei dem zu sein, der besser wäre als er.
Und so käme ja wohl, o Sokrates, das Gegenteil
von dem heraus, was eben gesagt ward,
den Vernünftigen nämlich ziemte es,
ungern zu sterben,
und nur den Unvernünftigen, gern. —
Als dies Sokrates angehört hatte,
schien er mir seine Freude zu haben an des Kebes
Eifer in der Sache,
und indem er uns ansah, sagte er:
Immer spürt doch Kebes irgend Gründe aus
und will sich gar nicht leicht überreden lassen von dem,
was einer behauptet. —
Darauf sagte Simmias:
Aber jetzt, o Sokrates, scheint auch mir etwas
an dem zu sein,
was Kebes vorbringt,
Denn weshalb doch sollten wohl wahrhaft weise
Männer
von besseren Herren, als sie selbst sind,
fliehen und sie gern loswerden?
Und zwar scheint mir Kebes mit seiner Rede auf
dich zu zielen,
daß du es so leicht erträgst, uns
zu verlassen
und auch jene guten Herrscher, wie du selbst
gestehst, die Götter. —
Ihr habt recht, sprach er.
Ich denke nämlich, ihr meint,
ich solle mich hierüber verteidigen wie vor Gericht. —
Allerdings, sagte Simmias. —
[8. Hoffnungen für
den Tod und Entschluß, sich deswegen zu rechtfertigen]
Wohlan denn, sprach er, laßt mich versuchen,
ob ich mich mit besserem Erfolg vor euch verteidigen kann als vor den
Richtern.
Nämlich, sprach er, o Simmias und Kebes, wenn ich nicht glaubte,
zuerst zu andern Göttern zu kommen, die auch weise und gut sind,
und dann auch zu verstorbenen Menschen, welche besser sind als die
hiesigen,
so täte ich vielleicht unrecht, nicht unwillig zu sein über
den Tod.
Nun aber wißt nur, daß ich zu wackeren Männern zu
kommen hoffe;
und wenn ich auch das nicht so ganz sicher behaupten wollte:
daß ich zu Göttern komme, die ganz treffliche Herren sind,
wißt nur, wenn irgend etwas von dieser Art, will ich dieses gewiß
behaupten.
So daß ich eben deshalb nicht so unwillig bin, sondern der frohen
Hoffnung,
daß es etwas gibt für die Verstorbenen,
und, wie man ja schon immer gesagt hat,
etwas weit Besseres für die Guten als für die Schlechten.
—
Wie nun? sagte Simmias.
Gedenkst du, diese Meinung für dich zu behalten
und so von uns zu gehen,
oder möchtest du auch uns davon mitteilen?
Mich wenigstens dünkt,
dies müsse ein gemeinsames Gut sein auch
für uns;
und zugleich wird ja eben das deine Verteidigung
sein,
wenn du uns von dem, was du sagst, überzeugst.
—
So will ich es denn versuchen, sprach er.
Zuvor aber laßt uns von unserm Kriton hören,
was es doch ist, was er mir schon lange sagen will. —
Was sonst, o Sokrates, sprach Kriton,
als daß der, welcher dir den Trank bereiten
soll, mir schon lange zuredet,
man müsse dir andeuten, doch ja so wenig
als möglich zu sprechen.
Denn er sagt, durch das Reden erhitze man sich,
und das vertrage sich nicht mit dem Trank;
wenn aber doch,
so hätten die bisweilen auch zwei- und dreimal
trinken müssen,
die dergleichen getan. —
Darauf sagte Sokrates:
Laß ihn laufen!
Mag er nur seinerseits sich anschicken, mir auch zweimal zu geben,
und wenn es nötig wäre, auch dreimal. —
Das wußte ich wohl fast vorher,
sagte Kriton;
aber er ließ mir schon lange keine Ruhe.
—
Laß ihn, sprach er. Euch Richtern aber will ich nun Rede darüber
stehen,
daß ich mit Grund der Meinung bin,
ein Mann, welcher wahrhaft philosophisch sein Leben vollbracht,
müsse getrost sein, wenn er im Begriff ist zu sterben,
und der frohen Hoffnung,
daß er dort Gutes in vollem Maß erlangen werde, wenn er
gestorben ist.
Wie das nun so sein möge, o Simmias und Kebes,
das will ich versuchen euch deutlich zu machen.
[9. Das verborgene Sterben
der wahren Philosophen:
Ablösung der Seele vom Leib]
Nämlich diejenigen, die sich auf rechte Art mit der Philosophie
befassen,
mögen wohl, ohne daß es freilich die andern merken,
nach gar nichts anderm streben
als nur zu sterben und tot zu sein.
Ist nun dieses wahr: so wäre es ja wohl wunderlich,
wenn sie zwar ihr ganzes Leben hindurch sich um nichts anderes bemühten
als um dieses,
wenn es nun aber selbst käme,
dann unwillig sein wollten über das,
wonach sie lange gestrebt und sich bemüht haben. —
Da lachte Kebes und sagte:
Beim Zeus, Sokrates,
wiewohl ich jetzt eben nicht im mindesten
lachlustig bin,
hast du mich doch lachen gemacht.
Ich denke nämlich, wenn die Leute dies so
hörten,
würden sie glauben, es sei ganz vortrefflich
gesagt gegen die Philosophen,
und würden gewiß gewaltig beistimmen
— die bei uns ganz besonders —,
es sei so,
die Philosophen sehnten sich wirklich zu sterben,
und sie ihrerseits wüßten auch,
daß sie wohl verdienten, dies zu erlangen.
—
Da würden sie auch ganz wahr sprechen, o Simmias,
das eine ausgenommen, daß sie das recht gut wußten.
Denn weder wissen sie, wie die wahrhaften Philosophen den Tod wünschen,
noch wie sie ihn verdienen und was für einen Tod.
Laßt uns nun, sprach er, jenen den Abschied geben,
zu uns selbst aber sagen,
ob wir wohl glauben, daß der Tod etwas sei? —
Allerdings, fiel Simmias ein. —
Und wohl etwas andres als die Trennung der Seele von dem Leibe?
Und daß das heiße tot sein,
wenn abgesondert von der Seele der Leib für sich allein
ist
und auch die Seele abgesondert von dem Leibe für sich allein
ist?
Oder sollte wohl der Tod etwas anderes sein als dieses? —
Nein, sondern eben dieses. —
So bedenke denn, Guter, ob auch dich dasselbe bedünkt wie mich;
denn hieraus, glaube ich, werden wir das besser erkennen, wonach wir
fragen.
Scheint dir, daß es sich für einen philosophischen
Mann gehöre,
sich Mühe zu geben um die sogenannten Lüste,
wie um die am Essen und Trinken? —
Nichts weniger wohl, o Sokrates, sprach Simmias.
—
Oder um die aus dem Geschlechtstriebe? —
Keineswegs. —
Und die übrige Besorgung des Leibes,
glaubst du, daß ein solcher sie groß achte?
Wie schöne Kleider und Schuhe und andere Arten von Schmuck
des Leibes zu haben,
glaubst du, daß er es achte oder verachte,
mehr als höchst nötig ist sich hierum zu kümmern? —
Verachten, dünkt mich wenigstens, wird
es der wahrhafte Philosoph. —
Dünkt dich also nicht überhaupt ei nes solchen ganze Beschäftigung
nicht um den Leib zu sein,
sondern soviel nur möglich von ihm abgekehrt und der Seele
zugewendet? —
Das dünkt mich. —
Also hierin zuerst zeigt sich der Philosoph
als seine Seele von der Gemeinschaft mit dem Leibe ablösend
vor den übrigen Menschen allen. —
Offenbar. —
Und die meisten Menschen meinen doch, o Simmias,
wem dergleichen nicht süß ist und wer daran keinen Teil
hat,
dem lohne es nicht zu leben,
sondern ganz nahe sei der am Totsein,
der sich um die angenehmen Empfindungen nicht bekümmere,
welche durch den Leib kommen. —
Du sprichst vollkommen recht. —
[10. Das Treffen der
Wahrheit mit der Seele allein]
Wie aber nun mit dem Erwerb der richtigen Einsicht selbst,
ist dabei der Leib im Wege oder nicht,
wenn ihn jemand bei dem Streben danach zum Gefährten mit aufnimmt?
Ich meine es so:
Gewähren wohl Gesicht und Gehör den Menschen einige Wahrheit?
Oder singen uns selbst die Dichter das immer vor,
daß wir nichts genau hören noch sehen?
Und doch, wenn unter den Wahrnehmungen, die dem Leibe angehören,
diese nicht genau sind und sicher:
dann die andern wohl gar nicht;
denn alle sind ja wohl schlechter als diese;
oder dünken sie dich das nicht? —
Freilich, sagte er. —
Wann also trifft die Seele die Wahrheit?
Denn wenn sie mit dem Leibe versucht, etwas zu betrachten,
dann offenbar wird sie von diesem hintergangen. —
Richtig. —
Wird also nicht in dem Denken, wenn irgendwo,
ihr etwas von dem Seienden offenbar? —
Ja. —
Und sie denkt offenbar am besten, wenn nichts von diesem sie trübt,
weder Gehör noch Gesicht noch Schmerz und Lust,
sondern sie am meisten ganz für sich ist,
den Leib gehen läßt und soviel irgend möglich
ohne Gemeinschaft und Verkehr mit ihm dem Seienden nachgeht. —
So ist es. —
Also auch dabei verachtet des Philosophen Seele am meisten den Leib,
flieht von ihm und sucht für sich allein zu sein? —
So scheint es. —
Wie nun hiermit, o Simmias?
Sagen wir, daß das Gerechte selbst etwas sei oder nichts? —
Wir behaupten es ja freilich beim Zeus. —
Und nicht auch das Schöne und Gute? —
Wie sollte es nicht? —
Hast du nun wohl schon jemals hiervon das Mindeste mit Augen gesehen?
—
Keineswegs, sprach er. —
Oder mit sonst einer Wahrnehmung, die vermittels des Leibes erfolgt,
es getroffen?
Ich meine aber alles dieses,
Größe, Gesundheit, Stärke,
und, mit einem Worte, von allem insgesamt das Wesen, was jegliches
wirklich ist;
wird etwa vermittels des Leibes hiervon das eigentlich Wahre geschaut,
oder verhält es sich so:
wer von uns am meisten und genauesten es darauf anlegt,
jegliches unmittelbar selbst zu denken, was er untersucht,
der kommt auch am nächsten daran, jegliches zu erkennen? —
Allerdings. —
Und der kann doch jenes am reinsten ausrichten,
der am meisten mit dem Gedanken allein zu jedem geht,
ohne weder das Gesicht mit anzuwenden beim Denken,
noch irgendeinen anderen Sinn mit zuzuziehen bei seinem Nachdenken,
sondern, sich des reinen Gedankens allein bedienend,
auch jegliches rein für sich zu fassen trachtet,
soviel wie möglich geschieden von Augen und Ohren
und, um es kurz zu sagen, von dem ganzen Leibe,
der nur verwirrt und die Seele nicht Wahrheit und Einsicht erlangen
läßt,
wenn er mit dabei ist.
Ist es nicht ein solcher, o Simmias,
der, wenn irgendeiner, das Wahre treffen wird? —
Über die Maßen hast du recht, o Sokrates,
sprach Simmias. —
[11. Der
Leib als Hindernis beim Erkennen des Reinen und Ungetrübten]
Ist es nun nicht natürlich,
daß durch dieses alles eine solche Meinung bei den wahrhaft Philosophierenden
aufkommt,
so daß sie auch dergleichen unter sich reden wie:
«Es wird uns ja wohl gleichsam ein Fußsteig heraustragen,
weil, solange wir noch den Leib haben neben der Vernunft bei dem Erforschen
und unsere Seele mit diesem Übel im Gemenge ist,
wir nie befriedigend erreichen können wonach uns verlangt;
und dieses, sagen wir doch, sei das Wahre.
Denn der Leib macht uns tausenderlei zu schaffen wegen der notwendigen
Nahrung,
dann auch, wenn uns Krankheiten zustoßen,
verhindern uns diese, das Wahre zu erjagen,
und auch mit Gelüsten umd Begierden,
Furcht und mancherlei Schattenbildern und vielen Kindereien erfüllt
er uns;
so daß recht in Wahrheit, wie man auch zu sagen pflegt,
wir um seinetwillen nicht einmal dazu kommen,
auch nur irgend etwas richtig einzusehen.
Denn auch Kriege und Unruhen und Schlachten
erregt uns nichts anderes als der Leib und seine Begierden.
Denn über den Besitz von Geld und Gut entstehen alle Kriege,
und dieses müssen wir haben des Leibes wegen,
weil wir seiner Pfleg dienstbar sind,
und daher fehlt es uns an Muße, der Weisheit nach zu trachten,
um aller dieser Dinge willen.
Und endlich noch, wenn er uns auch einmal Muße läßt
und wir uns anschicken, etwas zu untersuchen:
so fällt er uns wieder bei den Untersuchungen selbst beschwerlich,
macht uns Unruhe und Störung und verwirrt uns,
so daß wir seinetwegen nicht das Wahre sehen können.
Sondern es ist uns wirklich ganz klar,
daß, wenn wir je etwas rein erkennen wollen,
wir uns von ihm losmachen
und mit der Seele selbst die Dinge selbst schauen müssen.
Und offenbar dann erst werden wir haben,
was wir begehren und wessen Liebhaber wir zu sein behaupten,
die Weisheit, wenn wir tot sein werden, wie die Rede uns andeutet,
solange wir leben aber nicht.
Denn wenn es nicht möglich ist,
mit dem Leibe irgend etwas rein zu erkennen:
so können wir nur eines von beiden,
entweder niemals zum Wissen gelangen
oder nach dem Tode.
Den alsdann wird die Seele für sich allein sein,
abgesondert vom Leib vorher aber nicht.
Und solange wir leben,
werden wir, wie sich zeigt, nur dann dem Erkennen am nächsten
sein,
wenn wir, soviel möglich, nichts mit dem Leibe zu schaffen
noch gemein haben, was nicht höchst nötig ist,
und wenn wir mit seiner Natur uns nicht anfüllen,
sondern uns von ihm rein halten,
bis der Gott selbst uns befreit.
Und so rein der Torheit des Leibes entledigt,
werden wir wahrscheinlich mit ebensolchen zusammen sein
und durch uns selbst alles Ungetrübte erkennen,
und dies ist eben wohl das Wahre.
Dem Nichtreinen aber mag Reines zu berühren wohl nicht vergönnt
sein.»
Dergleichen, meine ich, o Simmias,
werden notwendig alle wahrhaft Wißbegierigen denken
und untereinander reden.
Oder dünkt dich nicht so? —
Auf alle Weise, o Sokrates. —
[12.
Furchtlosigkeit des wahrhaft Philosophierenden vor dem Tod]
Wenn nun, sprach Sokrates, dieses wahr ist, o Freund,
so ist ja große Hoffnung,
daß, wenn ich dort angekommen bin, wohin ich jetzt gehe,
ich dort, wenn irgendwo, zur Genüge dasjenige erlangen werde,
worauf alle unsere Bemühungen in dem vergangenen Leben gezielt
haben;
so daß die mir jetzt aufgetragene Wanderung
mit guter Hoffnung anzutreten ist auch für jeden andern,
der nur glauben kann dafür gesorgt zu haben, daß seine Seele
rein ist. —
Allerdings, sprach Simmias. —
Und wird nicht das eben die Reinigung sein,
was schon immer in unserer Rede vorgekommen ist,
daß man die Seele möglichst vom Leibe absondere und sie
gewöhne,
sich von allen Seiten her aus dem Leibe für sich zu sammeln und
zusammenzuziehen
und soviel als möglich, sowohl gegenwärtig wie hernach,
für sich allein zu bestehen,
befreit wie von Banden von dem Leibe? —
Allerdings, sagte er. —
Heißt aber dies nicht Tod,
Erlösung und Absonderung der Seele von dem Leibe? —
Allerdings, sagte jener. —
Und sie zu lösen streben immer am meisten, sagte er, und allein
die wahrhaft Philosophierenden;
und eben dies also ist das Geschäft der Philosophen,
Befreiung und Absonderung der Seele von dem Leibe;
oder nicht? —
Offenbar. —
Also wäre es ja, wie ich anfänglich sagte, lächerlich,
wenn ein Mann, der sich in seinem ganzen Leben darauf eingerichtet
hätte,
so nahe als möglich an dem Gestorbensein zu leben,
hernach, wenn eben dieses kommt, sich ungebärdig stellen wollte.
Wäre das nicht lächerlich? —
Wie sollte es nicht? —
In der Tat also, o Simmias,
trachten die richtig Philosophierenden danach zu sterben,
und tot zu sein, ist ihnen unter allen Menschen am wenigsten furchtbar.
Erwäge es nur so.
Wenn sie auf alle Weise mit dem Leibe entzweit sind
und begehren, die Seele für sich allein zu haben,
geschieht dieses aber,
dann sich fürchten und unwillig sein wollten;
wäre das nicht die größte Torheit,
wenn sie dann nicht mit Freuden dahin gehen wollten,
wo sie Hoffnung haben, dasjenige zu erlangen,
was sie im Leben liebten — sie liebten aber die Weisheit —,
und des Zusammenseins mit demjenigen endledigt zu werden,
was ihnen zuwider war?
Oder sollten nur viele,
denen menschliche Geliebte und Weiber und Kinder gestorben sind,
freiwillig haben in die Unterwelt gehen wollen,
von dieser Hoffnung getrieben,
daß sie dort die wiedersehen würden, nach denen sie sich
sehnten,
und mit ihnen umgehen;
wer aber die Weisheit wahrhaft liebt und eben diese Hoffnung kräftig
aufgefaßt hat,
daß er sie nirgend anders nach Wunsch erreichen werde als in
der Unterwelt,
den sollte es verdrießen zu sterben,
und er sollte nicht freudig dorthin gehen?
Das muß man ja wohl glauben, Freund,
wenn er nur wahrhaft ein Weisheitsliebender ist.
Denn gar stark wird ein solcher dieses glauben,
daß er nirgend anders die Wahrheit rein antreffen werde als nur
dort.
Wenn sich aber dies so verhält, wie ich eben sagte,
wäre es nicht große Unvernunft, wenn ein solcher den Tod
fürchtete? —
Gar große, beim Zeus, sagte jener. —
[13. Die Tugend der Menge
und die der wahren Philosophen]
Also, sagte er, ist.dir das wohl ein hinlänglicher Beweis
von einem Manne, den du unwillig siehst, wenn er sterben soll,
daß er nicht die Weisheit liebte,
sondern den Leib irgendwie;
denn wer den liebt,
derselbe ist auch geldsüchtig und ehrsüchtig,
entweder eines von beiden oder beides. —
Vollkommen verhält es sich so, wie du sagst.
—
Wird nun nicht auch, o Simmias, sagte er,
was man Tapferkeit nennt, den so Gesinnten vorzüglich zukommen?
—
Ganz gewiß wohl, antwortete er. —
Nicht auch die Besonnenheit,
was auch alle Leute Besonnenheit nennen,
sich von Begierden nicht fortreißen lassen,
sondern sich gleichgültig gegen sie verhalten und sittsam,
kommt nicht auch sie denen allein zu,
welche den Leib am meisten geringschätzen und in der Liebe zur
Weisheit leben? —
Notwendig, sagte er. —
Denn, fügte jener hinzu, wenn du nur recht betrachten willst
die Tapferkeit und Besonnenheit der andern,
so wird sie dir ganz wunderlich vorkommen. —
Wie das, o Sokrates? —
Du weißt doch, sagte er, daß den Tod die andern alle unter
die großen Übel rechnen. —
Allerdings. —
Ist es also nicht aus Furcht vor noch größeren Übeln,
daß die Tapferen unter ihnen den Tod erdulden, wenn sie ihn erdulden?
—
So ist es. —
Also weil sie sich fürchten und aus Furcht sind alle tapfer,
bis auf die, welche die Weisheit lieben.
Wiewohl das doch ungereimt ist,
daß einer aus Furcht und Feigheit tapfer sein soll. —
Freilich wohl. —
Und wie die Sittsamen unter ihnen?
Hat es mit denen nicht dieselbe Bewandtnis?
Aus irgendeiner Zügellosigkeit sind sie besonnen,
wiewohl wir freilich sagen, dies sei unmöglich,
aber doch geht es ihnen wirklich ganz ähnlich bei dieser einfältigen
Besonnenheit.
Denn aus Besorgnis, einiger Lust beraubt zu werden,
und weil sie diese begehre enthalten sie sich der einen,
weil von anderen beherrscht,
und wiewohl man das Zügellosigkeit nennt, von Lüsten beherrscht
werden,
begegnet ihnen doch, daß sie, von Lüsten beherrscht, andere
Lüste beherrschen,
und dies ist doch dem ganz ähnlich, was eben gesagt wurde,
auf gewisse Weise aus Zügellosigkeit besonnen geworden zu sein.
—
Das leuchtet ein. —
O bester Simmias,
daß uns also nur nicht dies gar nicht der rechte Tausch ist,
um Tugend zu erhalten,
Lust gegen Lust und Unlust gegen Unlust und Furcht gegen Furcht austauschen,
Größeres gegen Kleineres,
wie Münze;
sondern jenes die einzige rechte Münze ist,
gegen die man alles dieses vertauschen muß,
die Vernünftigkeit,
und daß nur mit dieser in Wahrheit Tapferkeit besteht
und Besonnenheit und Gerechtigkeit und überhaupt wahre Tugend,
mit Vernünftigkeit,
mag nun Lust und Furcht und alles übrige der Art dabei sein oder
nicht dabei sein;
werden aber diese abgesondert von der Vernünftigkeit gegeneinander
umgetauscht,
eine solche Tugend dürfte dann wohl immer nur ein Schattenbild
sein
und in der Tat knechtisch,
nichts Gesundes und Wahres an sich habend,
das Wahre aber gerade Reinigung von dergleichen allem sein,
und Besonnenheit und Gerechtigkeit und Tapferkeit und die Vernünftigkeit
selbst Reinigungen.
Und so mögen auch diejenigen, welche uns die Weihen angeordnet
haben,
gar nicht schlechte Leute sein,
sondern schon seit langer Zeit uns andeuten,
wenn einer ungeweiht und ungeheiligt in der Unterwelt anlangt,
daß der in den Schlamm zu liegen kommt,
der Gereinigte aber und Geweihte, wenn er dort angelangt ist,
bei den Göttern wohnt.
«Denn», sagen die, welche mit den Weihen zu tun haben,
«Thyrsusträger sind viele, doch echte Begeisterte wenig».
Diese aber sind, nach meiner Meinung, keine anderen,
als die sich auf rechte Weise der Weisheit beflissen haben,
deren einer auch ich nach Vermögen im Leben nicht versäumt,
sondern mich auf alle Weise bemüht habe zu werden.
Ob ich mich aber auf die rechte Weise bemüht und etwas vor mich
gebracht,
das werden wir, dort angekommen, sicher erfahren,
wenn Gott will, binnen kurzem, wie mich dünkt.
Dieses nun, sprach er, o Simmias und Kebes, ist meine Verteidigung
darüber,
daß euch zu verlassen und die hiesigen Gebieter,
mir mit Recht nicht schwerfällt noch mich verdrießt,
weil ich dafür halte, auch dort nicht minder vortreffliche Gebieter
und Freunde anzutreffen als hier.
Bin ich also für euch überzeugender gewesen in meiner Verteidigung
als für die Athenischen Richter,
so ist es gut.
[14. Zweifel des
Kebes, ob die Seele nach dem Tode noch ist und Einsicht hat]
Als Sokrates dieses geredet, fiel Kebes ein und
sprach:
O Sokrates, das andere dünkt mich alles
gar schön gesagt,
nur das von der Seele findet großen Unglauben
bei den Menschen,
ob sie nicht, wenn sie vom Leibe getrennt ist,
nirgend mehr ist,
sondern an jenem Tage umkommt und untergeht,
an welchem der Mensch stirbt,
und sobald sie von dem Leibe sich trennt und
ausfährt wie ein Hauch oder Rauch,
auch zerstoben ist und verflogen.
Denn wäre sie noch wo,
für sich bestehend und zusammenhaltend,
wenn erlöst von diesen Übeln, die du
eben beschrieben hast:
so wäre ja große und schöne Hoffnung,
o Sokrates,
daß alles wahr sei, was du sagst.
Aber dies bedarf vielleicht nicht geringer Überredungsgründe
und Beweise,
daß die Seele noch ist nach dem Tode des
Menschen
und noch irgend Kraft und Einsicht hat. —
Du sprichst ganz wahr, sagte Sokrates, o Kebes;
aber was sollen wir machen?
Sollen wir eben das miteinander durchsprechen,
ob es wahrscheinlich ist, daß es sich so verhalte,
oder ob nicht? —
Ich mindestens, sagte Kebes, möchte gern
hören,
was für eine Meinung du hierüber hast.
—
Wenigstens glaube ich nicht, sprach Sokrates,
daß irgendeiner, der es hört, und wäre es auch ein
Komödienschreiber,
sagen dürfte, daß ich leeres Geschwätz treibe
und Reden führe über ungehörige Dinge.
Dünkt es euch nun gut,
dann müssen wir die Sache genau betrachten.
[15.
S. über das Entstehen aller Dinge aus ihrem Gegenteil]
Laßt es uns aber so betrachten,
ob die Seelen, nachdem die Menschen gestorben, in der Unterwelt sind
oder ob nicht.
Eine alte Rede gibt es nun freilich, die, deren wir erwähnt haben,
daß, wie sie von hier dorthin gekommen sind,
sie auch wieder hierher zurückkehren und wiedergeboren werden
aus den Toten.
Und wenn sich dies so verhält,
daß die Lebenden wiedergeboren werden aus den Gestorbenen:
so sind ja wohl unsere Seelen dort?
Denn sie könnten nicht wiedergeboren werden,
wenn sie nicht wären.
Und ein hinreichender Beweis wäre dies, daß es so ist,
wenn wirklich offenbar würde,
daß die Lebenden nirgend anders herkämen als von den Toten.
Wenn dies aber nicht so ist,
dann bedürften wir eines anderen Grundes. —
Gewiß, sagte Kebes. —
Betrachte es nun nicht allein an Menschen,
fuhr jener fort,
wenn du dessen eher innewerden willst,
sondern auch an den Tieren insgesamt und den Pflanzen;
und überhaupt an allem, was eine Entstehung hat,
laß uns zusehen, ob etwa alles so entsteht,
nirgend anders her als jedes aus seinem Gegenteil,
was nur ein solches hat,
wie doch das Schöne von dem Häßlichen das Gegenteil
ist
und das Gerechte von dem Ungerechten,
und ebenso tausend anderes sich verhält.
Dieses also laß uns sehen, ob nicht notwendig, was nur ein Entgegengesetztes
hat,
nirgend anders her selbst entsteht als aus die sem ihm Entgegengesetzten.
So wie, wenn etwas größer wird,
muß es doch notwendig aus irgend vorher kleiner Gewesenem
hernach größer werden? —
Ja. —
Nicht auch, wenn es kleiner wird, wird es aus vorher Größerem
hernach kleiner? —
So ist es, sagte er. —
Und eben so aus Stärkerem das Schwächere
und aus Langsamerem das Schnellere? —
Gewiß. —
Und wie?
Wenn etwas schlechter wird, nicht aus Besserem,
und wenn gerechter, nicht aus Ungerechterem? —
Wie sonst? —
Dies also, sprach er, haben wir sicher genug,
daß alle Dinge so entstehen,
das Entgegengesetzte aus dem Entgegengesetzten. —
Freilich. —
Und wie?
Gibt es nicht auch so etwas dabei,
wie zwischen jeglichem Entgegengesetzten, was doch immer zwei sind,
auch ein zwiefaches Werden von dem einen zu dem andern
und von diesem wieder zu jenem zurück?
Wie zum Beispiel zwischen dem Größeren und Kleineren
Wachstum und Abnahme ist,
und so nennen wir auch das eine wachsen, das andere abnehmen. —
Ja, sagte er. —
Nicht auch aussondern und vermischen, abkühlen und erwärmen,
und so alles, wenn wir auch bisweilen die Worte dazu nicht haben,
muß sich doch der Sache nach überall so verhalten,
daß eines aus dem andern entsteht
und daß es ein Werden von jedem zu dem andern gibt. —
Gewiß. —
[16.
Anwendung dieses Satzes auf Leben und Tod
und Schluß, daß die Seelen der Verstorbenen irgendwo
sind]
Wie nun, fuhr er fort, ist dem Leben auch etwas entgegengesetzt,
wie dem Wachen das Schlafen? —
Gewiß, sagte er. —
Und was? —
Das Totsein, sagte er. —
Also entstehen diese auch aus einander, wenn sie entgegengesetzt sind,
und es gibt zwischen ihnen zweien ein zwiefaches Werden. —
Wie sollte es nicht? —
Die Verknüpfungen nun des einen Paares von den eben genannten
Dingen
will ich dir aufzeigen, sprach Sokrates,
und das dazugehörige Werden,
du aber mir die andern.
Ich sage nämlich, das eine sei Schlafen und das andere Wachen,
und aus dem Schlafe werde das Wachen und aus dem Wachen das Schlafen,
und dies Werden beider sei das Einschlafen und das Aufwachen;
habe ich es dir hinlänglich erklärt oder nicht? —
Vollkommen. —
Sage du mir also nun ebenso von Leben und Tod.
Sagst du nicht, dem Leben sei das Totsein entgegengesetzt? —
Das sage ich. —
Und daß beides aus einander entstehe? —
Ja. —
Aus dem Lebenden also, was entsteht? —
Das Tote, sprach er. —
Und was aus dem Toten? —
Notwendig, sprach er, muß man eingestehen,
das Lebende. —
Aus dem Gestorbenen also, o Kebes,
entsteht das Lebende und die Lebenden? —
So zeigt es sich, sprach er. —
Also sind, sprach er, unsere Seelen in der Unterwelt. —
So scheint es. —
Und nicht wahr, auch von dem Werden, was hierzu gehört,
ist das eine deutlich genug?
Denn Sterben ist doch deutlich genug, oder nicht? —
Freilich, sagte er. —
Was wollen wir aber nun machen? sprach er.
Wollen wir nicht auch das entgegengesetzte Werden hinzunehmen,
sondern soll dieNatur von dieser Seite lahm sein?
Oder müssen wir nicht notwendig auch ein dem Sterben entgegengesetztes
Werden annehmen? —
Auf alle Weise, sagte er. —
Und was für eines? —
Das Aufleben. —
Also, sprach er, wenn es ein Aufleben gibt,
so wäre eben dieses das Werden der Lebenden aus den Toten, das
Aufleben? —
Freilich. —
Also auch auf diese Weise kommt es uns heraus,
daß die Lebenden aus den Toten entstanden sind,
nicht weniger als die Toten aus den Lebenden.
Ist dies nun so, so schien es uns ja ein hinreichender Beweis,
daß die Seelen der Verstorbenen irgendwo sein müssen,
woher sie wieder lebend werden. —
Mich dünkt, o Sokrates, dem Eingestandenen
gemäß müsse es sich so verhalten. —
[17.
Notwendigkeit, daß es ein Wiederaufleben des Toten gibt]
Siehe nun auch, o Kebes, sprach er,
daß wir nichts mit Unrecht eingestanden haben, wie mich dünkt.
Denn wenn nicht dem auf die eine Art Gewordenen immer das auf die andere
entspräche
und das Werden wie im Kreise herumginge,
sondern es ein gerade fortschreitendes Werden gäbe nur aus dem
einen in das Gegenüberstehende,
ohne daß dies sich wieder wendete und zum andern zurückkäme:
so siehst du wohl,
daß am Ende alles einerlei Gestalt haben und in einerlei Zustand
sich befinden
und aufhören würde zu werden. —
Wie meinst du das? fragte er. —
Es ist gar nicht schwer, sagte er, zu begreifen, was ich meine;
sondern wie wenn das Einschlafen zwar wäre,
ein Aufwachen aber entspräche ihm nicht, das aus dem Schlafenden
würde,
so, weißt du wohl, würde am Ende alles beweisen,
Endymion sei nur eine Posse und nichts Besonderes,
weil es auch allem andern ebenso erginge wie ihm, daß es schliefe;
und wie, wenn alles immer vermischt würde und nicht gesondert,
bald jenes Anaxagoreische sich einstellen würde,
«Alle Dinge zusammen» sein.
Würde nicht ebenso auch, lieber Kebes,
wenn alles zwar stürbe, was am Leben Anteil hat,
nachdem es aber gestorben wäre,
das Tote immer in dieser Gestalt bliebe und nicht wieder auflebte,
ganz notwendig zuletzt alles tot sein und nichts leben?
Denn wenn zwar aus dem andern das Lebende würde,
das Lebende aber stürbe:
wie wäre dann zu helfen, daß nicht zuletzt alles im Totsein
aufginge? —
Gar nicht, denke ich, o Sokrates, sagte Kebes,
sondern du scheinst mir durchaus richtig zu reden.
—
Es ist auch, o Kebes, sagte er, wie mich dünkt, auf alle Weise
so,
und nicht etwa überlistet gestehen wir dieses ein,
sondern es gibt in der Tat ein Wiederaufleben und ein Werden der Lebenden
aus den Toten
und ein Sein der Seelen der Gestorbenen. —
[18. Die Wiedererinnerungslehre
als Beweis für Unsterblichkeit;
Begriff der Wiedererinnerung]
Und eben das auch, sprach Kebes einfallend,
nach jenem Satz, o Sokrates, wenn er richtig ist, den du oft vorzutragen
pflegtest,
daß unser Lernen nichts anderes ist als Wiedererinnerung
und daß wir deshalb notwendig in einer früheren Zeit gelernt
haben müßten,
wessen wir uns wiedererinnern,
und daß dies unmöglich wäre,
wenn unsere Seele nicht schon war, ehe sie in diese menschliche Gestalt
kam;
so daß auch hiernach die Seele etwas Unsterbliches sein muß.
—
Aber, o Kebes, sprach Simmias einfallend, welche
sind davon die Beweise?
Erinnere mich daran, denn in diesem Augenblick
besinne ich mich nicht recht darauf. —
Nur an den einen, schönsten, sagte Kebes,
daß, wenn die Menschen gefragt werden und
einer sie nur recht zu fragen versteht,
sie alles selbst sagen, wie es ist,
da doch, wenn ihnen keine Erkenntnis einwohnte
und richtige Einsicht,
sie nicht imstande sein würden, dieses zu
tun.
Und wenn man sie zu den geometrischen Figuren
führt oder etwas Ähnlichem,
so zeigt sich dabei am deutlichsten, daß
sich dies so verhält. —
Wenn du es aber so nicht glaubst, o Simmias, sagte Sokrates,
so sieh zu, ob du uns, wenn du etwa folgendermaßen betrachtest,
beistimmen wirst.
Du zweifelst nämlich,
wie doch das sogenannte Lernen könne Erinnerung sein? —
Ich zweifle zwar, sprach Simmias, gerade nicht;
nur eben dieses, wovon die Rede ist, bedarf ich,
erinnert zu werden;
und fast schon aus dem, was mir Kebes versucht
hat zu sagen,
habe ich mich besonnen und glaube es.
Nichtsdestoweniger aber würde ich jetzt
gern hören,
wie du es vorgetragen hast. —
Auf diese Weise ich, sprach er.
Wir gestehen doch wohl,
daß, wenn sich einer an etwas erinnern soll,
er dies vorher schon wissen muß. —
Gewiß wohl. —
Gestehen wir etwa auch dieses,
daß, wenn einem Erkenntnis auf folgende Weise kommt,
dies Erinnerung sei?
Ich meine aber diese Art,
wenn jemand irgend etwas sieht oder hört oder anderswie wahrnimmt,
und dann nicht nur jenes erkennt,
sondern dabei noch ein anderes vorstellt,
dessen Erkenntnis nicht dieselbe ist, sondern eine andere,
ob wir dann nicht mit Recht sagen, daß er sich dessen erinnere,
wovon er so eine Vorstellung bekommen hat? —
Wie meinst du das? —
So wie dergleichen:
Eine ganz andere Vorstellung ist doch die von einem Menschen
und die von einer Leier? —
Wie sollte sie nicht? —
Du weißt aber doch, daß Liebhabern,
wenn sie eine Leier sehen, oder ein Kleid oder sonst etwas, was ihr
Liebling zu gebrauchen pflegt,
es so ergeht:
sie erkennen die Leier,
und in ihrer Seele nehmen sie zugleich das Bild des Knaben auf, dem
die Leier gehört,
und das ist nun Erinnerung;
so wie auch einer, wenn er den Simmias sieht wohl leicht an den Kebes
denkt,
und tausenderlei dergleichen. —
Tausenderlei, beim Zeus, sagte Simmias. —
Und nicht wahr, sprach er,
dergleichen ist nun Erinnerung,
vorzüglich, wenn es einem bei solchen Dingen begegnet, die ihm,
weil sie ihm seit langer Zeit schon nicht vorgekommen und er nicht
an sie gedacht,
in Vergessenheit geraten waren. —
Allerdings, sagte er. —
Wie nun, kann man sich auch wohl,
wenn man ein gemaltes Pferd sieht oder eine gemalte Leier,
eines Menschen dabei erinnern,
und wenn man den Simmias gemalt sieht,
sich des Kebes dabei erinnern? —
Auch das freilich. —
Auch wenn man den Simmias gemalt sieht,
sich des Simmias selbst erinnern? —
Das kann man freilich, sagte er. —
[19. Der Vorgang
der Wiedererinnerung und seine Voraussetzung]
Und nicht wahr, in allen diesen Fällen entsteht uns Erinnerung,
das eine Mal aus ähnlichen Dingen,
das andere Mal aus unähnlichen? —
So entsteht sie. —
Aber wenn nun einer bei ähnlichen Dingen sich an etwas erinnert,
muß ihm nicht auch das noch dazu begegnen, daß er inne
wird,
ob diese etwas zurückbleiben in der Ähnlichkeit
oder nicht hinter dem, dessen er sich erinnert? —
Notwendig, sagte er. —
Wohlan denn, sprach jener,
sieh zu, ob sich dies so verhält.
Wir nennen doch etwas gleich — ich meine nicht ein Holz dem andern
oder einen Stein dem andern noch irgend etwas dergleichen,
sondern außer diesem allen etwas anderes,
das Gleiche selbst;
sagen wir, daß das etwas ist oder nichts? —
Etwas, beim Zeus, sprach Simmias,
ganz stark. —
Erkennen wir auch dieses, was es ist? —
Allerdings, sprach er. —
Woher nahmen wir aber seine Erkenntnis?
Nicht aus dem, was wir eben sagten,
wenn wir Hölzer oder Steine oder irgend andere gleiche Dinge sahen,
haben wir nicht bei diesen uns jenes vorgestellt,
was doch verschieden ist von diesen?
Oder scheint es dir nicht verschieden zu sein?
Bedenke es nur auch so:
Erscheinen dir nicht gleiche Steine oder Hölzer,
ganz dieselben bleibend,
bisweilen als gleich und dann wieder nicht? —
O ja. —
Wie aber?
Das Gleiche selbst erschien dir auch das bisweilen als ungleich,
oder die Gleichheit als Ungleichheit? —
Nimmermehr wohl, Sokrates. —
Also, sprach er, sind jene gleichen Dinge und dieses Gleiche selbst
nicht dasselbe. —
Offenbar keineswegs, o Sokrates. —
Doch aber bei jenen gleichen, verschieden von diesem Gleichen,
hast du die Erkenntnis des letzteren vorgestellt und erhalten? —
Vollkommen richtig. —
Wie aber weiter, sprach er,
begegnet uns wohl so etwas bei den gleichen Hölzern und andern,
von denen wir eben sprachen?
Scheinen sie uns ebenso gleich zu sein, wie das Gleiche selbst,
oder fehlt etwas daran, daß sie so sind wie das Gleiche,
oder nichts? —
Gar viel, sprach er, fehlt daran. —
Müssen wir nun nicht gestehen,
wenn jemand, der etwas sieht, bemerkt:
dieses, was ich hier sehe, will zwar sein wie etwas gewisses anderes,
es bleibt aber zurück und vermag nicht so zu sein wie jenes, sondern
ist schlechter —
daß der, welcher dies bemerkt, notwendig jenes vorher kennen
muß,
dem er sagt daß das andere zwar gleiche, aber doch dahinter zurückbleibe?
—
Notwendig. —
Und wie?
Geht es uns nun so mit den gleichen Dingen und dem Gleichen selbst?
—
Auf alle Weise. —
Notwendig also kennen wir das Gleiche schon vor jener Zeit,
als wir zuerst, Gleiches erblickend, bemerkten,
daß alles dergleichen strebe zu sein wie das Gleiche,
aber doch dahinter zurückbleibe. —
So ist es. —
Aber auch das geben wir doch zu,
daß wir eben dieses nirgend anders her bemerkt haben noch imstande
sind zu bemerken
als bei dem Sehen oder Berühren oder irgendeiner andern Wahrnehmung,
denn diese sind mir alle einerlei. —
Sie sind auch einerlei, o Sokrates, für
das, wohin unsere Rede will. —
Aber doch an den Wahrnehmungen muß man bemerken,
daß alles so in den Wahrnehmungen Vorkommende
jenem nachstrebt, was das Gleiche ist,
und daß es dahinter zurückbleibt.
Oder wie wollen wir sagen? —
So. —
Ehe wir also anfingen zu sehen oder zu hören oder die anderen
Sinne zu gebrauchen,
mußten wir schon irgendwoher die Erkenntnis bekommen haben
des eigentlich Gleichen, was es ist,
wenn wir doch das Gleiche in den Wahrnehmungen auf jenes beziehen sollten,
daß dergleichen alles zwar strebt zu sein wie jenes,
aber doch immer schlechter ist. —
Notwendig nach dem vorher Gesagten, o Sokrates.
—
Nun aber haben wir doch gleich von unserer Geburt an gesehen, gehört
und die anderen Sinne gebraucht? —
Freilich. —
Und wir mußten, sagen wir, schon ehe dieses geschah,
die Erkenntnis des Gleichen bekommen haben? —
Ja. —
Ehe wir also geboren wurden, müssen wir sie, wie sich zeigt, bekommen
haben. —
So zeigt es sich. —
[20. Besitz der
Erkenntnis des Wesens vor der Geburt]
Wenn wir sie also vor unserer Geburt empfangen haben
und in ihrem Besitz geboren worden sind:
so erkannten wir auch schon,
ehe wir wurden und sobald wir da waren,
nicht das Gleiche nur und das Größere und Kleinere,
sondern alles dieser Art insgesamt.
Denn es ist uns ja jetzt nicht mehr von dem Gleichen die Rede
als auch von dem Schönen selbst und dem Guten selbst
und dem Rechten und Frommen
und wie ich sage, von allem, was wir bezeichnen als «dies selbst,
was ist»,
in unsern Fragen, wenn wir fragen,
und in unsern Antworten wenn wir antworten.
So daß wir notwendig von diesem allen die Erkenntnisse,
schon ehe wir geboren wurden, erhalten haben. —
So ist es. —
Und daß wir, wenn wir sie nicht immer wieder vergäßen,
nachdem wir sie bekommen,
auch immer wissen
und uns ihrer das ganze Leben hindurch bewußt sein würden.
Denn das heißt ja wissen,
eine empfangene Erkenntnis besitzen und nicht verloren haben.
Oder heißt das nicht vergessen, o Simmias, Verlust einer Erkenntnis?
—
Auf alle Weise, sagte er, o Sokrates. —
Und wenn wir, meine ich,
vor unserer Geburt sie besaßen und sie bei der Geburt verloren
haben,
hernach aber beim Gebrauch unserer Sinne
an solchen Gegenständen eben jene Erkenntnisse wieder aufnahmen,
die wir einmal schon vorher hatten:
ist dann nicht, was wir lernen heißen,
das Wiederaufnehmen einer uns schon angehörigen Erkenntnis?
Um wenn wir dies «wiedererinnern» nennen,
werden wir es nicht richtig benennen? —
Gewiß. —
Denn das hatte sich uns doch als möglich gezeigt,
daß, wer etwas wahrnimmt,
es sei nun durch Gesicht um Gehör oder irgendeinen anderen Sinn,
dabei etwas anderes vorstellen könne, was er vergessen hatte
und was diesem nahe kam als unähnlich oder als ähnlich.
Also, wie ich sage, eines von beiden,
entweder sind wir dieses wissend geboren worden und wissen es unser
Leben lang alle,
oder die, von denen wir sagen, daß sie hernach erst lernen,
erinnern sich dessen nur,
und das Lernen ist eine Erinnerung. —
Wohl gar sehr verhält es sich so, Sokrates.
—
[21.
Schluß: Die Seelen waren auch vor der Geburt und hatten Einsicht]
Welches nun wählst du, o Simmias?
Daß wir wissend geboren werden
oder daß wir uns hernach dessen erinnern,
wovon wir schon vorher eine Erkenntnis gehabt hatten? —
So im Augenblick, o Sokrates, weiß ich
nicht zu wähle. —
Wie aber? Kannst du hier wählen, oder was dünkt dich hiervon?
Muß ein wissender Mann von dem, was er weiß,
Rechenschaft geben können oder nicht? —
Ganz notwendig, o Sokrates, sprach er. —
Und dünkt dich denn,
daß alle Rechenschaft zu geben imstande sind
von dem, was wir eben anführten? —
Das wünschte ich wohl, sprach Simmias;
aber ich fürchte vielmehr, es möchte
uns schon morgen hierzulande
keiner mehr gefunden werden,
der dies gehörig zu tun vermöchte.
—
Du meinst also nicht, o Simmias, daß alle dieses wissen? —
Keineswegs. —
Also erinnern sie sich dessen, was sie einst gelernt hatten? —
Notwendig. —
Wann aber hatten unsere Seelen die Erkenntnis davon bekommen?
Doch wohl nicht, seitdem wir als Menschen geboren sind? —
Nicht füglich. —
Früher also? —
Ja. —
Also waren, o Simmias, die Seelen, auch ehe sie in menschlicher Gestalt
waren,
ohne Leiber, und hatten Einsicht. —
Wenn wir nicht etwa bei der Geburt diese Erkenntnisse
empfangen, o Sokrates,
denn diese Zeit bleibt uns noch übrig. —
Gut, o Freund! Aber in welcher andern Zeit verlieren wir sie denn?
Denn wir haben sie nicht, wenn wir geboren werden, wie wir eben eingestanden.
Oder verlieren wir sie in derselben Zeit, in welcher wir sie auch empfangen?
Oder weißt du noch eine andere Zeit anzugeben? —
Keineswegs, o Sokrates, sondern ich merkte nur
nicht, daß ich nichts sagte. —
[22. Das vorgeburtliche
Sein der Seele ist so notwendig wie das Sein der Ideen]
Also verhält es sich nun so, sprach er, o Simmias?
Wenn das ist, was wir immer im Munde führen,
das Schöne und Gute und jegliches Wesen dieser Art,
und wir hierauf alles, was uns durch die Sinne kommt, beziehen,
als auf ein vorher Gehabtes, was wir als das unsrige wieder auffinden,
und diese Dinge damit vergleichen:
so muß notwendig, ebenso wie dieses ist,
so auch unsere Seele sein,
auch ehe wir noch geboren worden sind.
Wenn aber alles dieses nicht ist,
so wäre dann auch diese Rede vergeblich geredet.
Verhält es sich wohl so, und ist es die ganz gleiche Notwendigkeit,
daß jenes ist
und daß auch unsere Seelen sind auch vor unserer Geburt
und daß, wenn jenes nicht, dann auch nicht dieses? —
Über die Maßen, o Sokrates, sprach
Simmias,
dünkt es mich dieselbe Notwendigkeit zu
sein;
und an einen sichern Ort rettet sich unser Satz,
dahin nämlich,
daß unsere Seele auf dieselbe Weise ist,
ehe wir noch geboren werden,
wie jenes alles, wovon du eben sprachst.
Denn ich habe gar nichts, was mir so klar wäre
wie eben dieses,
daß alles dergleichen wahrhaft in dem allerhöchsten
Sinne ist,
das Schöne und das Gute und was du sonst
eben anführtest;
und mir wenigstens genügt der Beweis vollkommen.
—
Wie aber dem Kebes? sprach Sokrates.
Denn wir müssen auch den Kebes überzeugen. —
Gewiß auch ihn, sprach Simmias, wie ich
glaube,
wiewohl er der hartnäckigste Mensch ist
im Unglauben an anderer Reden.
Allein davon, glaube ich, ist er nun hinreichend
überzeugt,
daß, ehe wir geboren wurden, unsere Seele
war.
[23. Bedenken
des Kebes und Simmias, ob die Seele auch nach dem Tode ist]
Ob aber auch, nachdem wir gestorben sind, sie
noch sein wird,
das scheint auch mir selbst, o Sokrates, noch
nicht bewiesen zu sein,
sondern es steht noch entgegen, wie auch Kebes
eben sagte, jene Rede der Vielen,
ob nicht, indem der Mensch stirbt, die Seele
zerstiebt
und auch ihr dieses das Ende des Seins ist.
Denn was hindert doch,
daß sie zwar anderwärts her werde
und bestehe und sei,
auch ehe sie in menschlichen Leib gelangt,
daß aber doch, nachdem sie in diesen gelangt
ist,
wenn sie von ihm getrennt wird,
alsdann auch sie selbst endet und untergeht?
—
Wohl gesprochen, o Simmias, sagte Kebes.
Denn es scheint gleichsam die eine Hälfte
von dem bewiesen zu sein,
was wie brauchen,
daß nämlich, ehe wir geboren wurden,
unsere Seele war;
aber man muß noch dazu beweisen,
daß auch, wenn wir tot sind,
sie um nichts weniger sein wird als vor unserer
Geburt,
wenn der Beweis seine Vollendung bekommen soll.
—
Es ist doch, o Simmias und Kebes, sprach Sokrates,
auch jetzt schon bewiesen,
wenn ihr diesen Satz zusammenbringen wollt mit jenem,
den wir vorher zugestanden hatten,
daß nämlich alles Lebende aus dem Gestorbenen entsteht.
Denn wenn die Seele auch vorher ist
und wenn sie notwendig, indem sie ins Leben geht und geboren wird,
nirgend andersher kommen kann als aus dem Tode und dem Gestorbensein:
wie sollte sie dann nicht notwendig, auch nachdem sie gestorben ist,
sein,
wenn sie doch wiederum geboren werden soll?
Bewiesen also ist dies, wie ich sagte, auch jetzt schon. —
[24. Ein Kind ist in uns,
das der Besprechung bedarf]
Dennoch scheint ihr, du und Simmias,
gern auch diesen Satz noch weiter durcharbeiten zu wollen
und euch zu fürchten wie die Kinder,
daß nicht gar buchstäblich der Wind sie, wenn sie aus dem
Leibe herausfährt,
auseinanderwehe und zerstäube,
zumal wenn einer nicht etwa bei Windstille,
sondern in recht tüchtigem Sturmwinde stirbt. —
Da sagte Kebes lächelnd:
So tue denn so, als fürchteten wir uns,
und versuche, uns zu überreden.
Lieber jedoch nicht, als ob wir selbst uns fürchteten,
aber vielleicht ist auch in uns ein Kind, welches
dergleichen fürchtet.
Dieses also wollen wir versuchen zu überzeugen,
daß es den Tod nicht fürchten müsse
wie ein Gespenst. —
Dieses müßt ihr, sprach Sokrates, täglich besprechen,
bis ihr es herausbannt. —
Woher aber, o Sokrates, sprach er,
sollen wir einen tüchtigen Besprecher zu
solchen Dingen nehmen,
nun du doch von uns scheidest? —
Hellas ist groß, o Kebes, sagte er, und treffliche Männer
sind darin,
und groß sind auch die Geschlechter der Barbaren, die ihr alle
durchsuchen müßt,
um einen solchen Besprecher zu finden, ohne Geld zu scheuen und Mühe.
Denn es gibt wohl nichts, worauf ihr das Geld besser wenden könntet.
Aber auch untereinander müßt ihr euch bemühen,
denn ihr möchtet auch wohl nicht leicht einen finden,
der dies besser als ihr zu tun vermöchte. —
Das soll gewiß geschehen, sprach Kebes,
von wo wir aber abgegangen sind, dahin laß
uns zurückkehren,
wenn es dir recht ist. —
Mir gar sehr recht, wie sollte es nicht? —
Wohl gesprochen, sagte er. —
[25. Zwei Arten des Seienden:
Das sich immer gleich bleibende unsichtbare Beständige
und die sich ändernden sichtbaren Dinge]
Also ungefähr so, sprach Sokrates, müssen wir uns selbst
fragen:
Welcherlei Dingen kommt es wohl zu, dies zu erfahren, das Zerstieben,
und für welche muß man also fürchten, daß ihnen
dieses begegne,
welchen aber kommt es nicht zu,
und für welche nicht?
Dann müssen wir untersuchen,
zu welchen von beiden die Seele gehört,
und hieraus und dem gemäß entweder Mut fassen
oder besorgt sein für unsere Seelen. —
Ganz richtig, sagte er. —
Und nicht wahr,
dem, was man zusammengesetzt hat und was seiner Natur nach zusammengesetzt
ist,
kommt wohl zu,
auf dieselbe Weise aufgelöst zu werden, wie es zusammengesetzt
worden ist;
wenn es aber etwas Unzusammengesetztes gibt,
diesem, wenn sonst irgend einem, kommt wohl zu,
daß ihm dieses nicht begegne? —
Das scheint mir sich so zu verhalten, sprach
Kebes. —
Und nicht wahr,
was sich immer gleich verhält und auf einerlei Weise,
davon ist wohl am wahrscheinlichsten,
daß es das Unzusammengesetzte sei;
was aber bald so, bald anders und nimmer auf gleiche Weise,
dieses das Zusammengesetzte? —
Mir wenigstens scheint es so. —
So laßt uns denn gehen, sprach er, zu dem,
wovon wir auch vorher sprachen.
Jenes Wesen selbst,
welchem wir das eigentliche Sein zuschreiben in unsern Fragen und Antworten,
verhält sich dies wohl immer auf gleiche Weise,
oder bald so, bald anders?
Das Gleiche selbst, das Schöne selbst, und so jegliches, was ist,
selbst,
nimmt das wohl jemals auch nur irgendeine Veränderung an?
Oder verhält sich nicht jedes dergleichen als ein einartiges Sein
an und für sich immer auf gleiche Weise
und nimmt niemals und auf keine Weise irgendwie eine Veränderung
an? —
Auf gleiche Weise, sprach Kebes,
und einerlei verhält es sich notwendig,
o Sokrates. —
Wie aber die vielen Dinge,
wie Menschen, Pferde, Kleider oder sonst irgend etwas dergleichen,
schöne oder gleiche oder sonst einem von jenem gleichnamige,
verhalten sich auch diese immer gleich oder ganz jenem entgegengesetzt,
weder mit sich selbst jedes noch untereinander jemals,
um es kurz zu sagen, auch nur im mindesten gleich? —
Dieses wiederum so, sprach Kebes;
niemals verhält es sich einerlei. —
Und diese Dinge, sprach er, kannst du doch
anrühren, sehen und mit den andern Sinnen wahrnehmen;
aber zu jenen sich gleichseienden Wesenheiten kannst du doch wohl
auf keine Weise irgend anders gelangen als durch das Denken der Seele
selbst,
sondern unsichtbar sind diese und werden nicht gesehen. —
Auf alle Weise, sagte er, hast du recht. —
[26.
Der Leib ist dem sichtbaren Seienden ähnlich, die Seele dem unsichtbaren]
Sollen wir also,.sprach er, zwei Arten des Seienden setzen,
sichtbar die eine und die andere unsichtbar? —
Das wollen wir, sprach er. —
Und die unsichtbare als immer auf gleiche Weise sich verhaltend,
die sichtbare aber niemals gleich? —
Auch das, sagte er, wollen wir setzen. —
Wohlan denn, sprach er, ist nicht von uns selbst das eine Leib
und das andere Seele? —
Allerdings. —
Welcher von jenen beiden Arten nun wollen wir wohl sagen
daß der Leib ähnlicher sei und verwandter? —
Das muß ja jedem deutlich sein, dem Sichtbaren.
—
Wie aber die Seele, ist die unsichtbar oder sichtbar? —
Menschen wenigstens ist sie es nicht, o Sokrates,
sagte er. —
Aber wir sprachen doch von dem Sichtbaren und Unsichtbaren
für die Natur der Menschen,
oder meinst du für irgendeine andere? —
Für die menschliche. —
Was sagen wir also von der Seele,
daß sie sichtbar sei oder nicht sichtbar? —
Nicht sichtbar. —
Also unsichtbar. —
Ja. —
Ähnlicher also als der Leib ist die Seele dem Unsichtbaren,
er aber dem Sichtbaren. —
Ganz notwendig, o Sokrates. —
[27.
Zustand der Seele, wenn sie vermittels des Leibes etwas betrachtet
und wenn sie für sich selbst das ihr verwandte Gleiche schaut]
Und nicht wahr, auch das haben wir schon lange gesagt,
daß die Seele, wenn sie sich des Leibes bedient, um etwas zu
betrachten,
es sei durch das Gesicht oder das Gehör oder irgendeinen andern
Sinn
— denn das heißt vermittels des Leibes, wenn man vermittels eines
Sinnes etwas betrachtet —,
daß sie dann von dem Leibe gezogen wird zu dem, was sich niemals
auf gleiche Weise verhält,
und dann selbst schwankt und irrt und wie trunken taumelt, weil sie
ja eben solches berührt. —
Das haben wir gesagt. —
Wenn sie aber durch sich selbst betrachtet,
dann geht sie zu dem reinen, immer seienden Unsterblichen und sich
stets Gleichen,
und als diesem verwandt hält sie sich stets zu ihm,
wenn sie für sich selbst ist und es ihr vergönnt wird,,
und dann hat sie Ruhe von ihrem Irren
und ist auch in Beziehung auf jenes immer sich selbst gleich,
weil sie ebensolches berührt,
und diesen ihren Zustand nennt man eben die Vernünftigkeit. —
Auf alle Weise, o Sokrates, sagte er, ist dies
schön und wahr gesagt. —
Welcher von beiden Arten also
dünkt dich die Seele nach dem Vorherigen und dem jetzt Gesagten
ähnlicher und verwandter zu sein? —
Jeder, sagte er, dünkt mich, o Sokrates,
müßte nach dieser Darstellungsweise
zugeben, auch der Ungelehrigste,
daß doch in allem und jedem die Seele
dem sich immer gleich Bleibenden ähnlicher
ist als dem nicht solchen. —
Und wie der Leib? —
Dem anderen. —
[28.
Auch als Beherrscherin des Leibes ist die Seele dem Göttlichen ähnlich]
Betrachte es auch von dieser Seite,
daß, solange Leib und Seele zusammen sind,
die Natur ihm gebietet, zu dienen und sich beherrschen zu lassen,
ihr aber, zu herrschen und zu regieren;
auch hiernach nun,
welches von beiden dünkt dich dem Göttlichen ähnlich
zu sein
und welches dem Sterblichen?
Oder dünkt dich nicht das Göttliche so geartet zu sein, daß
es herrscht und regiert,
das Sterbliche aber, daß es sich beherrschen läßt
und dient? —
Das dünkt mich. —
Welchem gleicht nun die Seele? —
Offenbar, o Sokrates, die Seele dem Göttlichen
und der Leib dem Sterblichen. —
Sieh nun zu, sprach er, o Kebes,
ob aus allem Gesagten uns dieses hervorgeht,
daß dem Göttlichen, Unsterblichen, Vernünftigen,
Eingestaltigen, Unauflöslichen
und immer einerlei und sich selbst gleich sich Verhaltenden
am ähnlichsten ist die Seele,
dem Menschlichen aber und Sterblichen und Unvernünftigen
und Vielgestaltigen und Auflöslichen
und nie einerlei und sich selbst gleich Bleibenden,
diesem wiederum der Leib am ähnlichsten ist?
Oder wissen wir hiergegen noch etwas anderes zu sagen, lieber Kebes,
daß es sich nicht so verhalte? —
Wir wissen nichts dergleichen. —
[29. Schluß:
Die Seele geht nach dem Tode, wenn sie rein ist,
in Wahrheit zum unsichtbaren Göttlichen]
Wie nun, wenn sich dieses so verhält,
kommt nicht dem Leibe wohl zu, leicht aufgelöst zu werden,
der Seele hingegen, ganz und gar unauflöslich zu sein oder wenigstens
beinahe so? —
Wie sollte es nicht? —
Und du bemerkst doch, sprach er,
daß, wenn der Mensch stirbt,
auch seinem Sichtbaren, dem Leibe,
der noch im Sichtbaren daliegt, den wir Leichnam nennen
und dem es zukommt, aufgelöst zu werden und zu zerfallen und verweht
zu werden,
nicht gleich etwas hiervon widerfährt,
sondern er noch eine ganz geraume Zeit so bleibt,
und wenn einer bei günstiger Leibesbeschaffenheit stirbt und zu
ebensolcher Zeit,
dann gar lange.
Und wenn der Leib zusammengefallen ist und getrocknet,
wie sie in Ägypten einbalsamiert werden,
so hält er sich fast undenkliche Zeit.
Ja einige Teile des Leibes, wie Knochen, Sehnen und alles dergleichen,
sind, wenn er auch schon verfault ist, sozusagen doch fast unsterblich.
Oder nicht? —
Ja. —
Und die Seele also,
das Unsichtbare und sich an einen andern ebensolchen Ort Begebende,
der edel und rein und unsichtbar ist,
nämlich in die wahre Geisterwelt zu dem guten und weisen Gott,
wohin, wenn Gott will, alsbald auch meine Seele zu gehen hat,
diese, die so beschaffen und geartet ist,
sollte, wenn sie von dem Leibe getrennt ist,
sogleich verweht und untergegangen sein,
wie die meisten Menschen sagen?
Daran fehlt wohl viel, ihr lieben Kebes und Simmias!
Sondern vielmehr verhält es sich so,
wenn sie sich rein losmacht und nichts von dem Leibe mit sich zieht,
weil sie mit gutem Willen nichts mit ihm gemein hatte im Leben,
sondern ihn floh und in sich selbst gesammelt blieb und dies immer
im Sinn hatte
— was nichts anderes heißen will, als daß sie recht philosophierte
und darauf dachte, leicht zu sterben;
oder hieß dies nicht, auf den Tod bedacht sein? —
Allerdings ja. —
Also welche sich so verhält,
die geht zu dem ihr Ähnlichen, dem Unsichtbaren,
zu dem Göttlichen, Unsterblichen, Vernünftigen,
wohin gelangt ihr dann zuteil wird, glückselig zu sein,
von Irrtum und Unwissenheit, Furcht und wilder Liebe
und allen andern menschlichen Übeln befreit,
indem sie, wie es bei den Eingeweihten heißt,
wahrhaft die übrige Zeit mit Göttern lebt.
Wollen wir so sagen, o Kebes, oder anders? —
So, beim Zeus, sprach Kebes. —
[30. Beschaffenheit
der unrein abscheidenden Seelen]
Wenn sie aber, meine ich, befleckt und unrein von dem Leibe scheidet,
weil sie eben immer mit dem Leibe verkehrt und ihn gepflegt und geliebt
hat
und von ihm bezaubert gewesen ist und von den Lüsten und Begierden,
so daß sie auch glaubte, es sei überhaupt gar nichts anderes
wahr als das Körperliche,
was man betastet und sieht, ißt und trinkt und zur Liebe gebraucht,
und weil sie das für die Augen Dunkle und Unsichtbare,
der Vernunft hingegen Faßliche und mit Weisheitsliebe zu Ergreifende
gewohnt gewesen ist zu hassen und zu scheuen und zu fürchten,
meinst du, daß eine so beschaffene Seele sich werde rein für
sich absondern können? —
Wohl nicht im mindesten, sprach er. —
Sondern durchzogen von dem Körperlichen,
womit sie durch den Umgang und Verkehr mit dem Leibe,
wegen des ununterbrochenen Zusammenseins und der vielen Sorge um ihn,
gleichsam zusammengewachsen ist? —
Freilich. —
Und dies, o Freund, muß man doch glauben,
sei unbeholfen und schwerfällig, irdisch und sichtbar,
so daß auch die Seele, die es an sich hat,
schwerfällig ist und wieder zurückgezogen wird in die sichtbare
Gegend
aus Furcht vor dem Unsichtbaren und der Geisterwelt, wie man sagt,
an den Denkmälern und Gräbern umherschleichend,
an denen daher auch allerlei dunkle Erscheinungen von Seelen gesehen
worden sind,
wie denn solche Seelen wohl Schattenbilder darstellen müssen,
welche nicht rein abgelöst sind,
sondern noch teilhaben an dem Sichtbaren,
weshalb sie denn auch gesehen werden. —
Das leuchtet wohl ein, o Sokrates. —
Und freilich leuchtet auch ein, o Kebes,
daß dies nicht die Seelen der Guten sind,
sondern der Schlechten,
welche um dergleichen gezwungen sind herumzuirren,
Strafe leidend für ihre frühere Lebensweise,
welche schlecht war.
Und so lange irren sie,
bis sie durch die Begierde des sie noch begleitenden Körperlichen
wieder gebunden werden in einen Leib.
[31.
Wiedergeburt der unphilosophischen Seelen ihrer Sinnesart nach]
Und natürlich werden sie in einen von solchen Sitten gebunden,
deren sie selbst sich befleißigt hatten im Leben. —
Was meinst du für welche, o Sokrates? —
Wie, die sich ohne alle Scheu der Völlerei
und des Übermuts und Trunkes befleißigten,
solche begeben sich natürlich in Esel und ähnliche Arten
von Tieren.
Oder meinst du nicht? —
Das ist ganz wahrscheinlich. —
Die aber Ungerechtigkeit, Herrschsucht und Raub vorzogen,
diese dagegen in die verschiedenen Geschlechter
der Wölfe, Habichte und Geier.
Oder wohin anders sollen wir sagen, daß solche gehen? —
Ohne weiteres, sprach Kebes, in dergleichen.
—
Und gewiß ist es so doch auch mit den übrigen,
daß jegliche der Ähnlichkeit mit ihren Bestrebungen nachgehen?
—
Gewiß, wie sollten sie nicht. —
Also, sprach er, sind auch wohl die glücklichsten unter diesen
die,
und kommen an den besten Ort,
welche der volksmäßigen und bürgerlichen Tugend nachgestrebt
haben,
die man dann Besonnenheit und Gerechtigkeit nennt,
die aber nur aus Gewöhnung und Übung entsteht
ohne Philosophie und Vernunft? —
Wieso sind diese die glückseligsten? —
Weil doch natürlich ist,
daß diese wiederum in eine solche gesellige und zahme Gattung
gehen,
etwa in Bienen oder Wespen oder Ameisen,
oder auch wieder in diese menschliche Gattung,
und wieder ganz leidliche Männer werden. —
Das ist natürlich. —
[32. Bestimmung
und Weg der philosophischen Seele]
In der Götter Geschlecht aber ist wohl keinem,
der nicht philosophiert hat und vollkommen rein abgegangen ist,
vergönnt zu gelangen,
sondern nur dem Lernbegierigen.
Eben deshalb nun, o lieber Simmias und Kebes,
enthalten sich die wahrhaften Philosophen aller von dem Leibe herrührenden
Begierden
und harren aus und geben sich ihnen nicht hin,
nicht etwa weil sie Verderb des Hauswesens und Armut fürchten,
wie die meisten Geldsüchtigen,
noch auch die Ehrlosigkeit und Schmach der Trägheit scheuend,
wie die Herrschsüchtigen und Ehrsüchtigen,
enthalten sie sich ihrer. —
Das würde sich auch für sie nicht ziemen,
o Sokrates, sprach Kebes. —
Freilich nicht, beim Zeus, sagte er.
Darum sagen auch allen solchen, o Kebes, jene alle,
die irgend für ihre Seele Sorge tragen
und nicht für der Leiber Bildung und Bedienung leben, Fahrewohl
und gehen nicht gleichen Schritt mit ihnen,
die ja nicht wissen, wohin sie gehen.
Sie selbst aber, feststellend, daß sie nichts tun dürfen,
was der Philosophie zuwider wäre und der Erlösung und Reinigung
durch sie,
wenden sich dorthin nachfolgend, wohin jene sie führt. —
[33.
Erlösende Wirksamkeit der Philosophie auf die Seele
und Hemmung der sinnlichen Begierden]
Wie das, o Sokrates? —
Das will ich dir sagen, sprach er.
Es erkennen nämlich die Lernbegierigen,
daß die Philosophie,
indem sie ihre Seele übernimmt als ordentlich gebunden im Leibe
und ihm anklebend und gezwungen,
wie durch ein Gitter durch ihn das Sein zu betrachten,
nicht aber für sich allein,
und daher in aller Torheit sich umherwälzend,
und da sie die Gewalt dieses Kerkers erkennt,
daß er durch die Begierde besteht,
auf welche Weise der Gebundene selbst am meisten immer mit angreift,
um gebunden zu werden — wie ich nun sage,
die Lernbegierigen erkennen,
daß, indem die Philosophie in solcher Beschaffenheit ihre Seele
annimmt,
sie ihr gelinde zuspricht und versucht, sie zu erlösen,
indem sie zeigt, daß alle Betrachtung durch die Augen voll Betrug
ist,
voll Betrug auch die durch die Ohren und die übrigen Sinne,
und indem sie überredet, sich von diesen zurückzuziehen,
soweit es nicht notwendig ist, sich ihrer zu bedienen,
und sie ermuntert,
sich vielmehr in sich selbst zu sammeln und zusammenzuhalten
und nichts anderem zu glauben als sich selbst,
was sie für sich selbst von den Dingen an und für sich anschaut;
was sie aber vermittels eines anderen betrachtet,
dieses, weil es in jeglichem anderen wieder ein anderes wird,
für nichts Wahres zu halten,
und solches sei ja eben das Wahrnehmbare und Sichtbare,
was sie aber selbst sieht,
sei das Denkbare und Unsichtbare.
Dieser Befreiung nun glaubt nicht widerstreben zu dürfen des wahrhaften
Philosophen Seele
und enthält sich deshalb der Lust und Begierde, der Unlust und
Furcht, soviel sie kann,
indem sie bedenkt,
daß, wenn jemand sehr heftig sich freut oder fürchtet, trauert
oder begehrt,
er nicht nur ein so großes Übel hiervon erleidet, als er
wohl glaubt,
wenn er etwa erkrankt ist
oder einen Verlust erlitten hat seiner Begierden wegen,
sondern was das größte und äußerste aller Übel
ist,
dieses erleidet er und bringt es nicht in Rechnung. —
Welches ist doch dieses, o Sokrates? sprach Kebes.
—
Daß nämlich jedes Menschen Seele,
sobald sie über irgend etwas sich heftig erfreut oder betrübt,
auch genötigt ist,
von demjenigen, womit ihr dieses begegnet, zu glauben,
es sei das Wirksamste und das Wahrste,
obwohl sich dies doch nicht so verhält.
Und dies sind doch am meisten die sichtbaren Dinge, oder nicht? —
Freilich. —
In diesem Zustande also wird am meisten die Seele von dem Leibe gebunden.
—
Wieso? —
Weil jegliche Lust und Unlust gleichsam einen Nagel hat
und sie an den Leib annagelt und anheftet und sie leibartig macht,
wenn sie dann glaubt,
daß das wahr sei, was auch der Leib dafür aussagt.
Denn dadurch, daß sie gleiche Meinung hat mit dem Leibe und sich
an dem nämlichen erfreut,
wird sie, denke ich, genötigt,
auch gleicher Sitte und gleicher Nahrung wie er teilhaftig zu werden,
so daß sie nimmermehr rein in die Unterwelt kommen kann,
sondern immer des Leibes voll von hinnen geht;
daher sie auch bald wiederum in einen andern Leib fällt
und wie hingesät sich einwurzelt
und daher unteilhaftig bleibt des Umganges
mit dem Göttlichen und Reinen und Eingestaltigen. —
Vollkommen wahr ist, was du sagst, o Sokrates,
sprach Kebes. —
[34.
Die Haltung der Seele eines philosophischen Mannes]
Dieser Ursachen wegen also, o Kebes,
sind die wahrhaft Lernbegierigen sittsam und tapfer,
und nicht weshalb die Leute sagen.
Oder meinst du? —
Nein, ich gewiß nicht. —
Es geht auch nicht anders,
als daß die Seele eines philosophischen Mannes so rechnet
und nicht glauben kann,
sie müsse sich zwar von der Philosophie erlösen lassen,
nachdem diese sie aber erlöst,
sich selbst wiederum der Lust und Unlust hingeben,
um sich wieder festbinden und die vorige Arbeit vergeblich machen zu
lassen,
als wolle sie das Gegenstück treiben zu der Penelope Weberei;
sondern Ruhe von dem allen sich verschaffend,
der Vernunft folgend und immer darin verharrend,
daß sie das Wahre und Göttliche und der Meinung nicht Unterworfene
anschaut
und sich davon nährt,
glaubt sie, solange sie lebt, so leben zu müssen,
nach dem Tode aber, zu dem Verwandten und ebensolchen gelangt,
von allen menschlichen Übeln erlöst zu werden.
Hat sie sich so genährt,
so ist wohl kein Wunder, wenn sie nicht fürchtet,
ob sie nicht doch bei der Trennung von dem Leibe zerrissen,
von ich weiß nicht welchen Winden verweht und zerstäubt
umkommen
und nirgend mehr sein werde. —
[35.
Scheu des Kebes und Simmias, einen Zweifel vorzubringen;
unerschüttert-heitere Stimmung des S., des Genossen der Schwäne]
Eine Stille entstand nun, nachdem Sokrates dieses
gesagt, auf lange Zeit,
und er selbst, Sokrates, war ganz in das Vorgetragene
vertieft, wie man ihm ansehen konnte,
und auch die meisten von uns,
Kebes und Simmias aber sprachen ein weniges miteinander.
Da sah sie Sokrates an und fragte:
Wie? Euch dünkt doch nicht etwa das Gesagte noch mangelhaft gesagt
zu sein?
Denn es gibt wohl noch viel Bedenken und Einwendungen dabei,
wenn einer es ganz genau durchnehmen will.
Hattet ihr nun etwas anderes untereinander, so will ich nichts gesagt
haben;
wenn ihr aber noch hierüber zweifelt,
so tragt nur ja kein Bedenken, es entweder allein zu sagen und anzuführen,
wenn ihr glaubt, daß es so besser werde vorgetragen werden,
oder auch mich mit dazu zu nehmen,
wenn ihr meint, mit mir besser zu fahren. —
Da sagte Simmias:
Ich will dir die Wahrheit sagen, Sokrates.
Wir beide haben schon lange zweifelnd einander
angestoßen und aufgemuntert zu fragen,
weil wir zwar gern hören möchten,
aber doch Bedenken tragen, dir Unruhe zu machen,
daß es dir nicht etwa zuwider wäre
bei dem jetzigen Unglück. —
Als er dies hörte, sagte er mit leisem Lächeln: O weh, Simmias!
wahrlich gar schwer werde ich die übrigen Menschen überzeugen,
daß ich das jetzige Geschick für kein Unglück halte,
da ich nicht einmal euch überzeugen kann,
sondern ihr fürchtet, ich möchte jetzt mißgestimmter
sein als sonst im Leben.
Und wie es scheint,
haltet ihr mich in der Wahrsagung für schlechter als die Schwäne,
welche, wenn sie merken, daß sie sterben sollen,
wie sie schon sonst immer gesungen haben,
dann am meisten und vorzüglichsten singen,
weil sie sich freuen, daß sie zu dem Gott gehen sollen, dessen
Diener sie sind.
Die Menschen aber, wegen ihrer eigenen Furcht vor dem Tode,
lügen auch über die Schwäne und sagen,
daß sie über den Tod jammernd aus Traurigkeit sängen,
ohne zu bedenken, daß kein Vogel singt,
wenn ihn hungert oder friert oder ihm sonst irgend etwas fehlt,
auch selbst nicht einmal die Nachtigall oder die Schwalbe und der Wiedehopf,
von denen sie sagen, daß sie aus Unlust klagend singen;
aber weder diese, glaube ich, singen aus Traurigkeit noch die Schwäne;
sondern weil sie, meine ich, dem Apollon angehören, sind sie wahrsagerisch;
und da sie das Gute in der Unterwelt voraus erkennen,
so singen sie und sind fröhlich an jenem Tage besonders
und mehr als sonst vorher.
Ich halte aber auch mich dafür,
ein Dienerschaftsgenosse der Schwäne zu sein und demselben Gotte
heilig
und nicht schlechter als sie das Wahrsagen zu haben von meinem Gebieter,
also auch nicht unmutiger als sie aus dem Leben zu scheiden.
Also deshalb mögt ihr immer sagen und fragen was ihr wollt,
solange die elf Männer der Athener es gestatten. —
Sehr schön, sagte Simmias;
also will ich dir sagen, was für Zweifel
ich habe,
und dann auch dieser, wiefern er das Gesagte
nicht annimmt.
Denn ich denke über diese Dinge, o Sokrates,
ungefähr wie du,
daß etwas Sicheres davon zu wissen in diesem
Leben
entweder unmöglich ist oder doch gar schwer;
aber was darüber gesagt wird,
nicht auf alle Weise zu prüfen und nicht
eher abzulassen,
bis einer ganz ermüdet wäre vom Untersuchen
nach allen Seiten,
daß das einen gar weichlichen Menschen
verrät.
Denn eines muß man doch in diesen Dingen
erreichen,
entweder, wie es damit steht, lernen oder finden
oder, wenn dies unmöglich ist,
die beste und unwiderleglichste der menschlichen
Meinungen darüber nehmen
und darauf wie auf einem Notkahn versuchen durch
das Leben zu schwimmen,
wenn einer nicht sicherer und gefahrloser auf
einem festeren Fahrzeuge,
einer göttlichen Rede, reisen kann.
So will denn auch ich jetzt mich nicht schämen
zu fragen,
da ja auch du dasselbe sagst,
und nicht hernach mir selbst Vorwürfe zu
machen haben,
daß ich jetzt nicht gesagt habe, was ich
denke.
Mir nämlich, o Sokrates, sowohl wenn ich
bei mir selbst
als wenn ich mit diesem das Gesagte betrachte,
erscheint es gar nicht gründlich genug.
—
[36. Einwand des Simmias:
Ist die Seele etwas wie die Harmonie um Stimmung des Leibes,
dann ist sie zwar unsichtbar und göttlicher als er, muß
aber doch vor ihm vergehen]
Darauf sagte Sokrates:
Vielleicht, o Freund, erscheint es dir ganz recht;
aber sage nur, wiefern nicht gründlich. —
Insofern, sprach er, als auch von der Stimmung
und der Leier und den Saiten
einer ganz auf dieselbe Weist reden könnte,
daß nämlich die Stimmung etwas Unsichtbares
und Unkörperliches
und gar Schönes und Göttliches ist
an der gestimmten Leier,
die Leier selbst aber und die Saiten Körper
sind und Körperliches
und zusammengesetzt und irdisch und dem Sterblichen
verwandt.
Wenn nun einer die Leier zerbräche oder
die Saiten zerschnitte oder zerrisse,
so könnte einer mit derselben Rede wie du
durchführen,
jene Stimmung müsse notwendig noch da sein
und nicht untergegangen.
Denn es wäre doch keine Möglichkeit,
daß die Leier noch da sein sollte, nachdem
die Saiten zerrissen wären,
und die Saiten selbst, die doch dem Sterblichen
ähnlich sind,
die Stimmung aber sollte untergegangen sein,
die doch dem Göttlichen und Unsterblichen
gleichartig und verwandt ist,
und zwar noch vor dem Sterblichen sondern, würde
er sagen,
notwendig muß die Stimmung noch irgendwo
sein,
und eher werden die Hölzer verfaulen und
die Saiten,
als jener etwas begegnen wird.
Nun aber glaube ich, o Sokrates,
du selbst wirst auch dies schon erwogen haben,
daß wir uns die Seele als so etwas vorzüglich
vorstellen,
wenn doch unser Leib eingespannt ist und zusammengehalten
von Warmem und Kaltem,
Trocknern und Feuchtem und dergleichen Dingen,
daß unsere Seele die Mischung und Stimmung
eben dieser Dinge sei,
wenn sie schön und im rechtem Verhältnis
gegeneinander gemischt sind.
Ist nun die Seele eine Stirnmung:
so ist offenbar, daß, wenn unser Leib unverhältnismäßig
erschlafft
oder angespannt wird von Krankheiten und andern
Übeln,
die Seele dann notwendig sogleich umkommt, obgleich
sie das Göttlichste ist,
eben wie alle andern Stimmungen in Tönen
und in allen Werken der Künstler,
die Überreste eines jeden Leibes aber noch
lange Zeit bleiben,
bis sie verbrannt werden oder verwesen.
Sieh nun zu was wir gegen diese Rede sagen wollen,
wenn jemand behauptet,
daß die Seele als die Mischung alles zum
Leibe Gehörigen in dem,
was wir Tod nennen, zuerst untergehe. —
[37. Einwand des Kebes:
Die Seele mag immerhin dauerhafter sei als der Körper,
ihre völlige Unvergänglichkeit folgt aus dem Gesagten
noch nicht]
Da sah sich Sokrates um, wie er oftmals tat,
und sagte lächelnd: Simmias hat ganz recht gesprochen.
Wenn nun einer besseren Rat weiß als ich,
warum antwortet er nicht?
Denn er hat die Sache gewiß gar nicht schlecht angegriffen.
Doch mich dünkt, ehe wir antworten, müssen wir erst auch
den Kebes hören,
was der wieder unserer Rede Schuld gibt,
damit wir Zeit gewinnen und uns beraten können, was wir sagen
wollen,
und dann, wenn wir ausgehört haben,
ihnen entweder einräumen, wenn sie etwas Ordentliches scheinen
angestimmt zu haben,
oder wenn nicht, dann also unsere Rede verfechten.
Also, sagte er, sprich, o Kebes, was denn dich beunruhigt hat. —
Ich will es also sagen, sprach Kebes.
Mir scheint nämlich unsere Rede noch immer
auf demselben Heck zu sein
und an demselben Mangel, dessen wir schon vorher
erwähnten,
auch jetzt noch zu leiden.
Denn daß unsere Seele schon war, ehe sie
in diese Gestalt kam,
das will ich nicht zurücknehmen,
daß es nicht sehr sinnreich und, wenn es
nicht anmaßend ist zu sagen,
ganz befriedigend bewiesen wäre;
daß sie aber auch noch, wenn wir tot sind,
irgendwo sei,
dies scheint mir nicht eben so.
Daß freilich die Seele nicht stärker
und dauerhafter sein sollte als der Leib,
dies gebe ich der Einwendung des Simmias nicht
nach,
denn in diesem allen scheint sie mir sich gar
weit zu unterscheiden.
Warum also, könnte die Rede wohl sagen,
bist du noch ungläubig,
wenn du doch siehst, daß nach des Menschen
Tode das Schwächere noch ist?
Dünkt dich denn nicht,
daß das Dauerhaftere sich gewiß noch
erhalten müsse in eben dieser Zeit?
Dagegen nun überlege, ob ich hiermit etwas
sage.
Denn eines Bildes bedarf ich freilich auch, wie
es scheint,
ebensogut wie Simmias.
Mich dünkt nämlich dies gerade ebenso
gesagt, wie wenn jemand,
wenn ein alter Mann, der ein Weber war, gestorben
wäre,
diese Rede führen wollte:
Der Mensch ist nicht umgekommen, sondern ist
gewiß noch irgendwo,
und zum Beweise dafür wollte er das Kleid
anführen,
was er anhatte und selbst gewebt hatte,
daß das doch noch wohlbehalten wäre
und nicht umgekommen;
und wenn ihm einer nicht glauben wollte, er diesen
dann fragte,
was wohl seiner Natur nach dauerhafter wäre,
ein Mensch oder ein Kleid,
wenn es nämlich im Gebrauch wäre und
getragen würde,
und wenn der dann antworten müßte,
der Mensch bei weitem,
jener dann glaubte bewiesen zu haben,
der Mensch also müsse wohl ganz gewiß
wohlbehalten sein,
da ja das Vergänglichere nicht untergegangen
wäre.
Ich denke aber, o Simmias, das verhält sich
nicht so.
Sieh aber auch du zu, was ich meine.
Denn jeder würde wohl der Meinung sein,
daß das einfältig gesagt wäre,
wenn es jemand sagen wollte.
Denn dieser Weber hat schon gar viele solche
Kleider verbraucht und gewebt
und ist zwar später umgekommen als jene
vielen,
aber als das letzte, denke ich, doch eher,
und deshalb ist doch wohl ein Mensch
noch immer nicht schlechter oder vergänglicher
als ein Kleid.
Und dieses selbe Bild, meine ich, läßt
sich anwenden auf Seele und Leib;
und wer eben dasselbe sagte von diesen, würde
mir scheinen verständig zu reden,
daß nämlich die Seele zwar dauerhafter
ist und der Leib schwächer und vergänglicher,
doch aber, würde er hinzusetzen, verbrauche
ja jede Seele viele Leiber,
zumal wenn sie viele Jahre lebe.
Denn wenn der Leib immer im Fluß ist und
vergeht, solange der Mensch lebt,
die Seele aber das Verbrauchte immer wieder webt:
so muß ja die Seele wohl, wenn sie umkommt,
diese ihre letzte Bekleidung noch haben
und eher freilich nur als diese einzige umkommen;
und erst wenn die Seele umgekommen ist,
kann dann der Leib die Natur seiner Schwachheit
beweisen,
indem er schnell durch Fäulnis vergeht.
So daß man also diesem Satz noch nicht
zuverlässig trauen darf,
daß, wenn wir tot sind, unsere Seele noch
irgendwo ist.
Denn wenn jemand auch dem, der deine Behauptung
vorträgt,
noch mehr einräumen wollte und zugeben,
unsere Seele sei nicht nur in der Zeit vor unserer
Geburt gewesen,
sondern es hindere auch nichts,
daß nicht auch nach dem Tode die Seelen
einiger noch wären und sein würden
und noch oft würden geboren werden und wieder
sterben
— denn so stark sei sie von Natur, daß
sie dieses gar vielmal aushalten könne;
nur aber, indem er dieses zugäbe, nicht
auch noch jenes einräumte,
daß sie in diesen vielen Geburten gar nicht
von Kräften komme
und auch am Ende nicht in einem von diesen Toden
gänzlich untergehe,
sondern sagte, diesen Tod und diese Auflösung
des Leibes,
welche der Seele den Untergang bringt, wisse
nur keiner,
denn es sei unmöglich, daß irgendeiner
von uns ihn fühle;
wenn sich nun dieses so verhält,
so kann doch von keinem, der über den Tod
guten Mutes ist, gesagt werden,
daß er nicht auf eine unverständige
Weise mutig sei,
wenn er nicht zu beweisen vermag,
daß die Seele ganz und gar unsterblich
und unvergänglich ist;
wo nicht, so muß jeder, der im Begriff
ist zu sterben,
für seine eigene Seele in Sorgen sein,
ob sie nicht gerade in dieser Trennung von dem
Leibe ganz und gar untergehen werde.
[38. Wirkung
der Einwände auf die übrigen Anwesenden und auf Sokrates]
Alle nun, als wir sie beide dieses hatten sagen
gehört,
waren wir, wie wir uns hernach gestanden, auf
unangenehme Weise verstimmt,
weil sie uns, die wir durch die vorigen Reden
stark überzeugt waren,
wieder unruhig zu machen und in Ungewißheit
zurückzuwerfen schienen,
nicht nur über das bereits Gesagte,
sondern auch wegen dessen, was nun noch würde
gesagt werden,
ob nicht wir ganz untaugliche Richter wären
oder auch die Sache selbst gar nicht zu entscheiden.
Echekrates:
Bei den Göttern, o Phaidon, ich verzeihe
euch das.
Denn auch ich, da ich dies jetzt von dir gehört,
habe so zu mir gesprochen:
Welcher Rede soll man nun wohl noch glauben?
Denn die so sehr glaubliche, welche Sokrates
vorgetragen,
ist nun doch um allen Glauben gekommen.
Denn gar wunderbar ergreift mich dieser Satz
jetzt und schon immer,
daß unsere Seele eine Stimmung ist;
und wie er jetzt ausgesagt worden, hat er mir
in Erinnerung gebracht,
daß auch mir das vorher schon so geschienen
hatte.
Und so bedarf ich nun wieder wie anfangs einer
andern Rede,
um mich zu überzeugen, daß mit dem
Sterbenden die Seele nicht mitstirbt.
Sage nun, beim Zeus, wie Sokrates dieses verfolgt
hat
und ob auch ihm, wie du von euch sagst, etwas
Verdrießliches anzumerken war oder nicht,
sondern er seinen Satz ruhig verteidigte,
und ob er es befriedigend getan hat oder unzureichend.
Dies alles berichte uns so genau als möglich.
Phaidon:
Gewiß, o Echekrates, wie oft ich auch schon
den Sokrates bewundert hatte,
nie doch war ich mehr von ihm eingenommen als
damals.
Denn daß er etwas zu erwidern wußte,
ist wohl nichts Besonderes;
aber ich bewunderte ihn zuerst vorzüglich
darüber,
wie freundlich und sanft und beifällig er
die Reden der jungen Männer aufnahm,
dann, wie scharf er bemerkte, wie sie auf uns
gewirkt hatten,
endlich, wie gut er uns heilte und gleichsam
wie Flüchtlinge und Geschlagene zurückrief
und uns zusprach, ihm zu folgen und die Rede
mit ihm zu erwägen.
Echekrates:
Wie also?
Phaidon:
Das will ich dir sagen.
Ich saß nämlich zu seiner Rechten
neben dem Bett auf einem Bänkchen,
er aber saß weit höher als ich.
Nun strich er mir über den Kopf,
faßte die Haare im Nacken zusammen
— denn er pflegte wohl oft in meinen Haaren zu
spielen —
und sagte: Morgen also, o Phaidon, wirst du wohl
diese schönen Locken abscheren? —
So sieht es wohl aus, o Sokrates, sprach ich.
—
Nicht doch, wenn du mir folgst. —
Was denn? fragte ich. —
Heute noch, sagte er, wollen wir, ich meine und du diese, abscheren,
wenn uns nämlich die Rede stirbt und wir sie nicht wieder ins
Leben rufen können.
Und wenn ich du wäre und mir diese Rede abhanden käme,
wollte ich, wie die Argeier, einen Eid darauf ablegen, nicht eher das
Haar wachsen zu lassen,
bis ich in ehrlichem Kampf die Rede des Simmias und Kebes besiegt hätte.
—
Aber, sagte ich, mit zweien kann es ja auch Herakles
nicht aufnehmen. —
So rufe denn mich herbei, sprach er, als deinen Iolaos,
solange es noch Tag ist —
Das tue ich denn, sagte ich,
aber nicht als Herakles, sondern wie Iolaos den
Herakles. —
Das ist gleichviel, sagte er.
[39. Warnung
des S. vor Redefeindschaft;
ihre Entstehung aus Kunstlosigkeit]
Aber daß wir uns ja zuerst hüten, daß uns nicht etwas
Gewisses begegne. —
Was doch? fragte ich. —
Daß wir ja nicht Redefeinde werden, sprach er,
wie andere wohl Menschenfeinde.
Denn unmöglich, sagte er, kann einem etwas Ärgeres begegnen,
als wenn er Reden haßt.
Und die Redefeindschaft entsteht ganz auf dieselbe Weise wie die Menschenfeindschaft.
Nämlich die Menschenfeindschaft entsteht,
wenn man einem auf kunstlose Weise zu sehr vertraut
und einen Menschen für durchaus wahr, gesund und zuverlässig
gehalten hat,
bald darauf aber denselben als schlecht und unzuverlässig findet,
und dann wieder einen;
und wenn einem das öfter begegnet
und bei solchen, die man für die vertrautesten und besten Freunde
hält,
so haßt man dann endlich, wenn man immer wieder anstößt,
alle,
und glaubt, daß nirgend an einem irgend etwas Gesundes ist.
Oder hast du nicht bemerkt, daß das so zu gehen pflegt? —
Jawohl, sagte ich. —
Ist das nun nicht, sprach er, schändlich, und ist nicht offenbar,
daß ein solcher sich ohne die Kunst, die sich auf Menschen versteht,
an den Umgang mit den Menschen wagt?
Denn wenn er dieser Kunst gemäß mit ihnen umginge:
so würde er, wie es sich in der Tat verhält, so auch glauben,
daß die sehr guten und sehr schlechten beide immer nur wenige
sind,
die mittelmäßigen aber am zahlreichsten. —
Wie meinst du das? sprach ich. —
Gerade, sagte er, wie mit dem sehr Großen und sehr Kleinen;
glaubst du, daß es etwas Selteneres gibt, als einen ganz ausgezeichnet
großen
oder ausgezeichnet kleinen Menschen oder Hund oder sonst etwas zu finden?
Und ebenso mit schnell und langsam, häßlich und schön,
weiß und schwarz?
Oder hast du nicht gemerkt,
daß von alledem das Äußerste selten vorkommt und wenig,
das Mittlere aber unendlich häufig? —
Freilich, sprach ich. —
Und meinst du nicht, sagte er,
wenn ein Wettstreit der Schlechtigkeit angestellt würde,
daß auch da nur sehr wenige sich als die ersten zeigen würden?
—
Natürlich, sagte ich. —
Freilich natürlich, sprach er;
aber darin sind eigentlich die Reden nicht den Menschen ähnlich,
sondern nur weil du führtest, bin ich dir hierher gefolgt,
wohl aber darin, daß, wenn jemand einer Rede getraut hat, daß
sie wahr sei,
ohne die Kunst, welche sich auf Reden versteht,
und sie ihm dann bald darauf wieder falsch vorkommt,
manchmal mit Recht, manchmal mit Unrecht,
und so wieder eine und eine andere
— und vorzüglich gilt das, wie du wohl weißt, von denen,
die sich mit Streitreden abgeben,
daß sie am Ende glauben, ganz weise geworden und allein zu der
Einsicht gelangt zu sein,
daß nicht nur an keinem Dinge irgend etwas Gesundes und Richtiges
ist,
sondern auch an den Reden nicht,
vielmehr alles sich ordentlich wie im Euripos von oben nach unten dreht
und keine Zeitlang bei etwas bleibt. —
Vollkommen richtig, sprach ich, redest du. —
Und, o Phaidon, wäre das nun nicht ein Jammer,
wenn es doch wirklich wahre und sichere Reden gäbe, die man auch
einsehen könnte,
wenn einer, weil er auf solche Reden stößt,
die ihm bald wahr zu sein scheinen, bald wieder nicht,
sich selbst nicht die Schuld geben wollte und seiner Kunstlosigkeit,
sondern am Ende aus Mißmut die Schuld gern von sich selbst auf
die Reden hinwälzte
und dann sein übriges Leben in Haß und Schmähungen
gegen alle Reden hinbrächte
und so der Wahrheit und Erkenntnis der Dinge verlustig ginge? —
Beim Zeus, sagte ich, ein großer Jammer.
—
[40. Bereitschaft
des S. zu weiterer Untersuchung]
So laß uns denn, sprach er, zuerst davor uns hüten
und dem in unserer Seele keinen Eingang verstatten,
als ob an allen Reden am Ende wohl gar nichts Tüchtiges wäre;
sondern vielmehr, daß wir nur noch nicht recht tüchtig sind,
aber tapfer sein und trachten müssen, tüchtig zu werden,
du und die übrigen des ganzen künftigen Lebens wegen,
ich aber eben wegen des Todes.
So daß ich vielleicht gar jetzt nicht sonderlich philosophisch
mich in dieser Sache verhalte,
sondern wie die ganz Ungebildeten rechthaberisch.
Denn auch diese, wenn sie über etwas streiten, kümmern sich
nicht darum,
wie sich das wohl eigentlich verhält, wovon die Rede ist,
sondern nur, daß den Anwesenden das annehmlich erscheine,
was sie selbst festgestellt haben, danach trachten sie.
Und ich scheine gegenwärtig nur soviel mich von ihnen zu unterscheiden,
daß ich nicht danach trachten will,
daß den Anwesenden das, was ich behaupte, wahr erscheine, außer
beiläufig,
sondern daß es mir selbst nur recht gewiß sich so zu verhalten
scheine.
Ich berechne nämlich, lieber Freund — und siehe nur, wie eigennützig
—,
wenn das wahr ist, was ich behaupte,
ist es doch vortrefflich, davon überzeugt zu sein;
wenn es aber für die Toten nichts mehr gibt,
werde ich doch wenigstens diese Zeit noch vor dem Tode
den Anwesenden weniger unangenehm sein durch Klagen;
dieser mein Irrtum aber dauert nicht mit aus, denn das wäre ein
Übel,
sondern wird in kurzem untergehen.
So gerüstet also, sprach er, o Simmias und Kebes, mache ich mich
an die Rede.
Ihr aber, wenn ihr mir folgen wollt, kümmert euch wenig um den
Sokrates,
sondern weit mehr um die Wahrheit;
und wenn ich euch dünke etwas Richtiges zu sagen, so stimmt mir
bei,
wenn aber nicht, so widerstrebt mir auf alle Weise,
damit ich nicht, im Eifer mich und euch zugleich betrügend,
wie eine Biene den Stachel zurücklassend davongehe.
[41. Widerlegung
des Einwands des Simmias:
Er stimmt nicht zusammen mit der sicher begründeten Wiedererinnerungslehre]
Wohlan denn, fuhr er fort, erinnert mich zuerst, was ihr sagtet,
wenn ihr vielleicht findet, daß ich es nicht recht behalten habe.
Simmias, denke ich, ist ungewiß und fürchtet,
die Seele möchte, obwohl etwas Göttlicheres und Schöneres
als der Leib,
doch vor ihm untergehen,
indem sie ihrer Natur nach eine Stimmung sei.
Kebes aber schien dieses zwar zuzugeben, daß die Seele dauerhafter
sei als der Leib,
aber das könne doch niemand wissen, ob nicht die Seele,
wenn sie nun viele Leiber oftmals verbraucht hat,
den letzten Leib doch zurückläßt und nun selbst umkommt
und dieses dann eben der Tod ist, der Untergang der Seele,
denn der Leib geht ja doch immer unter ohne Aufhören.
Ist es dieses, o Simmias und Kebes,
was wir jetzt zu betrachten haben? —
Sie gaben beide zu, dieses sei es. —
Und die vorigen Reden, sprach er, nehmt ihr die alle nicht an,
oder einige zwar, andere aber nicht? —
Einige, sprachen sie, andere aber nicht. —
Was sagt ihr also von jener Rede, sprach er,
in welcher wir behaupteten, alles Lernen sei Erinnerung,
und wenn sich dies so verhalte, müsse notwendig unsere Seele anderswo
vorher sein,
ehe sie an den Leib gebunden worden? —
Ich meinesteils, sprach Kebes,
war damals wunderbar überzeugt davon
und bleibe auch jetzt dabei, wie bei nichts anderem.
—
Und mir, sagte Simmias, geht es ebenso,
und es sollte mich wundern, wenn ich jemals hierüber
anders dächte. —
Aber du mußt doch anders denken, o thebanischer Freund, sprach
Sokrates,
wenn nämlich jene Meinung bestehen soll,
daß eine Stimmung ein zusammengesetztes Ding ist
und daß die Seele als eine Stimmung
aus dem, was in dem Leibe unter sich gespannt ist, bestehe.
Denn du wirst doch nicht sagen wollen,
die Stimmung sei eher vorhanden,
als dasjenige da ist, woraus sie hervorgehen muß;
oder willst du das? —
Keineswegs, o Sokrates, sagte er. —
Merkst du nun aber wohl, sagte er, daß nur dieses herauskommt,
wenn du sagst,
die Seele sei auch, ehe sie in eines Menschen Gestalt und Leib komme,
sie sei aber zusammengesetzt aus dem, was dann noch nicht ist?
Die Stimmung wenigstens ist nicht so, der du sie vergleichst;
sondern die Leier und die Saiten und die Töne sind vorher ungestimmt
da,
und zuletzt von allen entsteht die Stimmung und geht zuerst wieder
unter.
Wie kann dir nun diese Rede mit jener zusammenstimmen? —
Gar nicht, sprach Simmias. —
Und doch, sprach er, sollte ja wohl, wenn irgend eine Rede,
die von der Stimmung gut zusammenstimmen. —
Das sollte sie wohl, sagte Simmias. —
Diese aber, sagte er, stimmt dir doch nicht;
also sieh zu, welche von beiden du wählen willst,
die, daß das Lernen Erinnerung ist,
oder die, daß die Seele Stimmung ist. —
Viel lieber jene, o Sokrates, sagte er.
Denn diese letztere ist mir ohne allen Beweis
gekommen,
nur aus einer gewissen Wahrscheinlichkeit und
Angemessenheit,
woher auch die meisten Menschen zu dieser Meinung
kommen;
ich weiß aber, daß die Reden, die
sich nur durch einen solchen Schein bewähren,
leere Prahler sind,
und wenn man sich nicht wohl mit ihnen vorsieht,
einen gar leicht betrügen,
in der Meßkunst und in allem andern.
Jene Rede aber von dem Lernen und der Erinnerung
beruht auf einem annehmungswürdigen Grunde;
denn es war gesagt worden,
daß unsere Seele, auch ehe sie in den Leib
komme,
ebenso sei, wie jenes Wesen selbst ist,
welches den Beinamen führt dessen «was
ist».
Und dieses habe ich, wie ich mich selbst überzeuge,
ganz mit Recht und mit gutem Grunde angenommen.
Daher ist nun notwendig, wie ich sehe,
daß ich es weder mir noch einem andern
gelten lasse,
welcher sagt, die Seele sei eine Stimmung. —
[42. Eine als
Stimmung gefaßte Seele ließe nicht Grade der Tugend und des
Lasters zu]
Und was, sprach er, o Simmias, sagst du hierzu?
Scheint dir wohl der Stimmung oder irgendeiner andern Zusammensetzung
zuzukommen,
daß sie sich anders verhalten könne als jenes, woraus sie
besteht? —
Keineswegs. —
Auch nicht irgend etwas anderes tun, wie ich denke,
oder leiden außer dem, was jenes tut und leidet? —
Er stimmte ein. —
Also kommt auch wohl der Stimmung nicht zu,
das anzuführen, woraus sie zusammengesetzt ist,
sondern zu folgen? —
Das dünkte ihn auch so. —
Weit gefehlt also, daß die Stimmung entgegengesetzt sich bewegen
oder klingen
oder sonstwie entgegengesetzt sein könnte ihren Teilen. —
Weit gefehlt, sagte er. —
Und wie,
ist nicht ihrer Natur nach jede Stimmung gerade so Stimmung,
wie sie gestimmt ist? —
Das verstehe ich nicht, sagte er. —
Nicht, sagte er,
wenn sie besser gestimmt ist oder in höherem Grade, falls dieses
geschehen kann,
wird sie dann nicht auch mehr Stimmung sein und in höherem Grade,
wenn aber in geringerem und weniger,
dann auch nicht so sehr und weniger? —
Freilich. —
Findet nun das wohl auch bei der Seele statt,
daß eine Seele auch nur im allergeringsten mehr und in höherem
Grade
oder weniger und in geringerem als die andere
eben dieses, Seele, sein kann? —
Nicht im mindesten, sagte er. —
Wohlan denn, beim Zeus, sprach er,
von der einen Seele sagt man doch,
daß sie Vernunft hat und Tugend und gut ist,
von der andern aber,
daß sie Unvernunft und Verderben hat und schlecht ist;
und das sagt man doch mit Recht? —
Mit Recht freilich. —
Die nun annehmen, daß die Seele eine Stimmung ist,
was werden die wohl sagen,
daß dieses sei in den Seelen, die Tugend und das Laster?
Etwa wiederum eine andere Stimmung und Verstimmtheit?
So daß die eine gestimmt ist, die gute,
und in ihr selbst, die doch Stimmung ist, eine andere Stimmung hat,
die andere aber wiederum ungestimmt ist
und keine andere in sich hat? —
Ich weiß es nicht zu sagen, sprach Simmias;
offenbar aber mußte so etwas sagen, wer
jenes voraussetzt. —
Darüber aber sind wir ja vorher einig geworden,
daß keine Seele mehr oder weniger Seele ist als die andere,
und dies ist doch ebensoviel,
als daß keine Stimmung mehr oder weniger Stimmung ist als | die
andere;
nicht wahr? —
Freilich. —
Die aber weder mehr noch weniger Stimmung ist,
ist auch weder mehr noch weniger gestimmt.
Ist es so? —
So ist es. —
Die aber weder mehr noch weniger gestimmte,
hat die wohl größeren oder geringeren Anteil an dem Wesen
der Stimmung
oder gleichen? —
Gleichen. —
Also auch die Seele,
wenn die eine eben dieses, Seele, weder mehr noch weniger ist als die
andere,
ist sie also auch weder mehr noch weniger gestimmt? —
So ist es. —
Und steht es so, so hat auch die eine
weder mehr noch weniger Anteil an Verstimmtheit oder Stimmung? —
Freilich nicht. —
Und steht es wiederum so: könnte dann wohl die eine
mehr oder weniger als die andere Anteil haben an Tugend und Laster,
wenn doch das Laster Verstimmtheit ist und die Tugend Stimmung? —
Nicht mehr. —
Oder vielmehr, o Simmias, wenn wir es recht genau nehmen,
wird keine Seele irgend Anteil am Laster haben, wenn sie Stimmung ist.
Denn da die Stimmung immer vollkommen eben dieses ist, Stimmung:
so kann sie an der Verstimmtheit gar niemals Anteil haben. —
Freilich nicht. —
Dann also auch nicht die Seele, da sie vollkommen Seele ist,
am Laster. —
Wie ginge das wohl nach dem Gesagten? —
Nach dieser Rede also werden uns alle Seelen aller Lebendigen gleich
gut sein,
wenn sie doch ihrer Natur nach gleich sehr dieses sind, Seelen. —
So dünkt mich auch, Sokrates, sprach er.
—
Dünkt es dich aber auch recht so gesagt zu sein,
und daß der Rede dieses begegnen würde, wenn die Annahme
richtig wäre,
daß die Seele Stimmung sei? —
Ganz und gar nicht, sagte er. —
[43.
Die Seele als Stimmung könnte den Leib nicht beherrschen]
Und wie, über alles, was an dem Menschen ist, sagst du nicht,
daß eben die Seele herrsche, zumal die vernünftige? —
Gewiß nichts anderes. —
Und etwa immer nachgebend den Zuständen des Leibes,
oder auch ihnen widerstrebend?
Ich meine nämlich so:
wenn dieser Hitze hat oder Durst,
daß sie dennoch auf die entgegengesetzte Seite zieht, zum Nichttrinken,
und wenn Hunger, zum Nichtessen,
und in tausend andern Dingen sehen wir doch die Seele dem Leiblichen
widerstreben.
Oder nicht? —
Allerdings. —
Haben wir aber nicht im vorigen zugegeben,
daß sie niemals, wenn sie Stimmung ist, entgegengesetzt klingen
kann,
als jenes gespannt und nachgelassen und geschwungen wird,
oder was sonst dem widerfährt,
woraus sie hervorgeht;
sondern daß sie jenem folgen muß und niemals anführen?
—
Das haben wir zugegeben; wie sollten wir nicht?
—
Und wie?
Scheint sie uns nun nicht doch ganz das Gegenteil zu tun,
alles jenes zu regieren, woraus man doch sagt, daß sie bestehe,
und dem fast überall das ganze Leben hindurch zu widerstreben
und es zu beherrschen auf alle Weise,
bald härter im Zaum haltend und auf schmerzhafte Weise,
wie in Sachen der Gymnastik und Heilkunst,
bald wieder gelinder?
Und bald drohend, bald verweisend,
mit den Begierden, dem Zorn und der Furcht
wie eine andere mit einem andern redend?
Wie auch Homeros in der Odyssee gedichtet hat, wo er vom Odysseus sagt:
«Aber er schlug an die Brust und strafte das Herz mit den Worten:
Dulde nun aus, mein Herz, noch Härteres hast du geduldet.»
Meinst du wohl, er habe dies gedichtet in der Meinung, sie sei eine
Stimmung
und eigne sich, geleitet zu werden von den Zuständen des Leibes,
und nicht vielmehr selbst sie zu leiten und zu beherrschen,
weil sie nämlich etwas weit Göttlicheres ist als einer Stimmung
zu vergleichen? —
Beim Zeus, Sokrates, so kommt es mir nicht vor.
—
Also, mein Bester, mag es wohl auf keine Weise recht sein von uns,
zu sagen, die Seele sei eine Stimmung.
Denn wir würden, wie wir sehen,
weder mit dem Homeros, dem göttlichen Dichter, eins sein
noch mit uns selbst. —
So verhalte es sich allerdings, sagte er.
[44. Wiederaufnahme
des Einwandes des Kebes]
Gut denn, sagte Sokrates,
mit der Thebanischen Harmonia sind wir, wie es scheint,
noch so leidlich fertiggeworden.
Wie werden wir uns nun aber, o Kebes,
auch mit dem Kadmos einigen und auf welche Weise? —
Das, denke ich, sprach Kebes, wirst du schon
auffinden.
Diese Rede wenigstens gegen die Stimmung
hast du ganz wunderbar über meine Erwartung
durchgeführt.
Denn als Simmias sagte, was für Zweifel
er hätte,
verwunderte es mich gar sehr,
was wohl jemand mit seiner Rede würde anfangen
können,
und doch konnte sie hernach nicht einmal den
ersten Anlauf der deinigen
aushalten, wie mir schien.
So würde ich mich also auch nicht wundern,
wenn dasselbe auch der Rede des Kadmos begegnete.
—
O Guter, sprach Sokrates, nur nicht großsprechen,
damit uns nicht ein Zauber das, was gesagt werden soll, verrufe und
verdrehe.
Doch das soll bei Gott stehen,
wir aber wollen nun gut homerisch näher tretend hieran versuchen,
ob du wohl etwas sagst.
Was du aber suchst, scheint mir der Hauptsache nach zu sein:
du verlangst, es soll gezeigt werden,
daß unsere Seele unvergänglich und unsterblich ist,
wenn doch ein philosophischer Mann, der im Begriff zu sterben guten
Mutes ist
und der Meinung, daß er nach seinem Tode sich dort vorzüglich
wohl befinden werde,
mehr als wenn er einer andern Lebensweise folgend gestorben wäre,
wenn ein solcher nicht ganz unverständig und töricht sein
soll bei seinem guten Mut.
Zu zeigen aber, daß die Seele etwas Starkes und Göttliches
ist,
und daß sie war, ehe wir geboren wurden,
dies alles, behauptest du, könne gar füglich auch nicht Unsterblichkeit
andeuten,
sondern daß die Seele zwar etwas lange Beharrendes ist
und wer weiß wie lange Zeit vorher irgendwo gewesen ist
und vielerlei gewußt und getan hat,
aber deshalb doch noch nicht unsterblich wäre,
sondern eben dieses, daß sie in menschlichen Leib gekommen,
könne schon der Anfang ihres Unterganges gewesen sein, gleichsam
als eine Krankheit,
und so könne sie in Jammer und Not dieses Leben leben
und am Ende desselben in dem, was man Tod nennt, untergehen.
Und ob sie einmal in den Leib kommt oder oft,
dies, behauptest du, könne keinen Unterschied darin machen,
daß doch jeder von uns besorgt sein müsse.
Denn es gehöre sich gar wohl,
daß jeder, wer nicht unverständig sein wolle, sich fechte,
der nicht wisse und keine Rechenschaft davon geben könne,
daß sie unsterblich ist.
Dies ist es ungefähr, glaube ich, o Kebes, was du meinst,
und absichtlich wiederhole ich es öfter,
damit uns nichts davon entgeht und auch du, wenn du willst,
etwas hinzusetzen und davontun kannst. —
Darauf sagte Kebes:
Für jetzt habe ich wohl nichts davon-zutun
oder hinzuzusetzen; sondern dies ist es,
was ich sagen will.
[45.
Unbefriedigtheit des S. über die von den Naturphilosophen behaupteten
Ursachen des Entstehens und Vergehens]
Darauf hielt Sokrates einige Zeit inne, als ob er etwas bei sich bedächte,
und sagte dann:
Es ist keine schlechte Sache, o Kebes, welche du aufspürst.
Denn wir müssen nun im allgemeinen vom Entstehen und Vergehen
die Ursache behandeln.
Ich also will dir, wenn du willst, darlegen, wie es mir damit ergeht.
Dünkt dich dann etwas von dem, was ich sage,
brauchbar zu sein zur Überzeugung von dem, wonach du fragst:
so brauche es. —
Allerdings, sprach Kebes, das will ich. —
So höre denn, was ich sagen werde.
In meiner Jugend nämlich, o Kebes,
hatte ich ein wundergroßes Bestreben nach jener Weisheit,
welche man die Naturkunde nennt;
denn es dünkte mich etwas Herrliches, die Ursachen von allem zu
wissen,
wodurch jegliches entsteht und wodurch es vergeht und wodurch es besteht,
und hundertmal wendete ich mich bald hier-, bald dorthin,
indem ich bei mir selbst zuerst dergleichen überlegte:
ob, wenn das Warme und Kalte in Fäulnis gerät,
wie Einige gesagt haben, dann Tiere sich bilden?
Und ob es wohl das Blut ist, wodurch wir denken,
oder die Luft oder das Feuer?
Oder keines von diesen, sondern das Gehirn bringt uns alle Wahrnehmungen
hervor,
die des Sehens und Hörens und Riechens,
und aus diesen entsteht dann Gedächtnis und Vorstellung,
und aus Erinnerung und Vorstellung, wenn sie zur Ruhe kommen,
entstehe dann auf diese Weise Erkenntnis?
Und wenn ich wiederum das Vergehen von all diesem betrachtete
und die Veränderungen am Himmel und auf der Erde,
so kam ich mir am Ende zu dieser ganzen Untersuchung so untauglich
vor,
daß gar nichts darübergeht.
Und davon will ich dir hinreichenden Beweis geben.
Nämlich was ich schon vorher ganz genau wußte,
wie es mir und den andern vorkam,
darüber erblindete ich nun bei dieser Untersuchung so gewaltig,
daß ich auch das verlernte,
was ich vorher zu wissen glaubte von vielen andern Dingen
und so auch davon, wodurch der Mensch wächst.
Denn dies, glaubte ich vorher, wisse jeder,
daß es vom,Essen und Trinken herkäme.
Denn wenn aus den Speisen zum Fleische Fleisch hinzukommt
und zu den Knochen Knochen,
und ebenso nach demselben Verhältnis auch
zu allem übrigen das Verwandte sich hinzufindet,
dann würde natürlich die Masse, die vorher wenig gewesen
war,
hernach viel und so der kleine Mensch groß.
So glaubte ich damals;
dünkt dich das nicht ganz leidlich? —
Ei wohl, sagte Kebes. —
Bedenke auch noch dies.
Ich glaubte genug an der Vorstellung zu haben,
wenn ein Mensch neben einem anderen kleinen stehend groß schien,
daß er gerade um den Kopf größer wäre,
und so auch ein Pferd neben dem andern,
und was noch deutlicher ist als dieses,
Zehn schien mir mehr als Acht zu sein,
weil noch zwei dabei sind,
und das Zweifüßige großer als das Einfüßige,
weil es um die Hälfte dieses überragt. —
Und jetzt, sprach Kebes, was dünkt dich
hiervon? —
Daß ich, sagte er, beim Zeus, gar weit entfernt bin, auch nur
zu glauben,
daß ich zu irgend etwas hiervon die Ursache wisse,
da ich mir ja das nicht einmal gelten lasse,
daß, wenn jemand eins zu einem hinzunimmt,
dann entweder das eine, zu welchem hinzugenommen worden,
zwei geworden ist
oder das Hinzugenommene und das, zu welchem hinzugenommen worden,
eben weil eins zu dem andern hinzugekommen, zwei geworden sind.
Denn ich wundere mich, wie doch, als jedes für sich war,
jedes von ihnen soll eines gewesen sein
und sie damals nicht zwei waren,
nun sie aber einander nahe gekommen, dieses die Ursache gewesen ist,
daß sie zwei geworden sind,
die Vereinigung, daß man sie nebeneinander gestellt hat.
Und ebensowenig, wenn jemand eines zerspaltet,
kann ich mich noch überreden,
daß wiederum dieses, die Spaltung, Ursache wurde,
daß zwei geworden sind.
Denn dies wäre ja eine ganz entgegengesetzte Ursache des Zweiwerdens
als damals.
Damals nämlich,
weil sie einander näher gebracht wurden und eines zum andern hinzugesetzt,
nun aber,
weil eines vom andern hinweggeführt und getrennt wird.
Auch nicht, warum eines wird, getraue ich mich noch zu wissen,
noch sonst irgend etwas mit einem Wort,
warum es wird oder vergeht oder ist,
nämlich nach dieser Art und Weise der Untersuchung,
sondern ich mische mir eine andere auf gut Glück zusammen,
diese aber lasse ich auf keine Weise gelten.
[46.
Hoffnungen auf die ordnende Vernunft des Anaxagoras
als eine Ursache, die das Beste jeden Dings zum Erklärungsgrund
macht]
Aber als ich einmal einen hörte,
aus einem Buche, wie er sagte, vom Anaxagoras, lesen,
daß die Vernunft das Anordnende ist und aller Dinge Ursache,
an dieser Ursache erfreute ich mich,
und es schien mir auf gewisse Weise sehr richtig,
daß die Vernunft von allem die Ursache ist,
und ich gedachte, wenn sich dies so verhält,
so werde die ordnende Vernunft auch alles ordnen und jegliches stellen,
so wie es sich am besten befindet.
Wenn nun einer die Ursache von jeglichem finden wollte,
wie es entsteht oder vergeht oder besteht,
so müsse er nur dieses daran finden,
wie es gerade diesem am besten sei zu bestehn
oder irgend sonst etwas zu tun oder zu leiden.
Und demzufolge dann gezieme es dem Menschen nicht,
nach irgend etwas anderem zu fragen,
sowohl in bezug auf sich als auf alles andere,
als nach dem Trefflichsten und Besten;
und derselbe werde dann notwendig auch das Schlechtere wissen,
denn die Erkenntnis von beiden sei dieselbe.
Dieses nun bedenkend freute ich mich, daß ich glauben konnte,
über die Ursache der Dinge einen Lehrer gefunden zu haben,
der recht nach meinem Sinne wäre, an dem Anaxagoras,
der mir nun auch sagen werde, zuerst ob die Erde flach ist oder rund
und, wenn er es mir gesagt,
mir dann auch die Notwendigkeit der Sache und ihre Ursache dazu erklären
werde,
indem er auf das Bessere zurückginge
und mir zeigte, daß es ihr besser wäre, so zu sein.
Und wenn er behauptete, sie stände in der Mitte,
werde er mir dabei erklären,
daß es ihr besser wäre, in der Mitte zu stehen;
und wenn er mir dies deutlich machte,
war ich schon ganz entschlossen,
daß ich nie mehr eine andere Art von Ursache begehren wollte.
Ebenso war ich entschlossen,
mich nach der Sonne gleichermaßen zu erkundigen
und nach dem Monde und den übrigen Gestirnen
wegen ihrer verhältnismäßigen Geschwindigkeit und ihrer
Umwälzungen
und was ihnen sonst begegnet,
woher es doch jedem besser ist, das zu verrichten und zu erleiden,
was jeder erleidet.
Denn ich glaubte ja nicht, nachdem er einmal behauptet,
alles sei von der Vernunft geordnet,
daß er irgendeinen anderen Grund mit hineinziehen werde,
als daß es das Beste sei, daß sie sich so verhalten, wie
sie sich verhalten;
und also glaubte ich,
indem er für jedes einzelne und alles insgesamt den Grund nachwiese,
werde er das Beste eines jeglichen darstellen
und das für alles insgesamt Gute.
Und für vieles hätte ich diese Hoffnung nicht weggegeben;
sondern ganz emsig griff ich zu den Büchern und las sie durch,
so schnell ich nur konnte,
um nur aufs schnellste das Beste zu erkennen und das Schlechtere.
[47. Enttäuschung
des S. über Anaxagoras.
Unterschied zwischen Ursache und Mitursache]
Und von dieser wunderbaren Hoffnung, o Freund, fiel ich ganz herunter,
als ich fortschritt im Lesen und sah,
wie der Mann mit der Vernunft gar nichts anfängt
und auch sonst gar nicht Gründe anführt,
die sich beziehen auf das Anordnen der Dinge,
dagegen aber allerlei Luft und Äther und Wasser vorschiebt
und sonst vieles Wunderliches.
Und mich dünkte, es sei ihm so gegangen,
als wenn jemand zuerst sagte, Sokrates tut alles, was er tut, mit Vernunft,
dann aber, wenn er sich daranmachte,
die Gründe anzuführen von jeglichem, was ich tue,
dann sagen wollte,
zuerst daß ich jetzt deswegen hier säße, weil mein
Leib aus Knochen und Sehnen besteht,
und die Knochen sind dicht und durch Gelenke voneinander geschieden,
die Sehnen aber so eingerichtet, daß sie angezogen und nachgelassen
werden können
und die Knochen umgeben nebst dem Fleisch und der Haut, welche sie
zusammenhält.
Da nun die Knochen in ihren Gelenken schweben,
so bewirkten die Sehnen, wenn ich sie nachlasse und anziehe,
daß ich jetzt imstande sei, meine Glieder zu bewegen,
und aus diesem Grunde säße ich jetzt hier mit gebogenen
Knien.
Ebenso, wenn er von unserm Gespräch andere solche Ursachen anführen
wollte,
die Töne nämlich und die Luft und das Gehör und tausenderlei
dergleichen herbeibringen,
ganz vernachlässigend, die wahren Ursachen anzuführen,
daß nämlich, weil es den Athenern besser gefallen hat mich
zu verdammen,
deshalb es auch mir besser geschienen hat, hier sitzenzubleiben,
und gerechter, die Strafe geduldig auszustehen, welche sie angeordnet
haben.
Denn, beim Hunde, schon lange, glaube ich wenigstens,
wären diese Sehnen und Knochen in Megara oder bei den Böotiern,
durch die Vorstellung des Besseren in Bewegung gesetzt,
hätte ich es nicht für gerechter und schöner gehalten,
eher als daß ich fliehen und davongehen sollte,
dem Staate die Strafe zu büßen, die er verordnet.
Also dergleichen Ursachen zu nennen ist gar zu wunderlich;
wenn aber einer sagte,
daß, ohne dergleichen zu haben, Sehnen und Knochen und was ich
sonst habe,
ich nicht imstande sein würde, das auszuführen, was mir gefällt,
der würde richtig reden.
Daß ich aber deshalb täte, was ich tue,
und das, indem ich es mit Vernunft tue, aber nicht wegen der Wahl des
Besten,
das wäre doch eine gar große und breite Untauglichkeit der
Rede,
wenn sie nicht imstande wäre zu unterscheiden,
daß bei einem jeden Ding etwas anderes ist die Ursache
und etwas anderes jenes, ohne welches die Ursache nicht Ursache sein
könnte;
und eben dies scheinen mir, wie im Dunkeln tappend,
die meisten mit einem ungehörigen Namen,
als wäre es selbst die Ursache, zu benennen.
Darum legt dann der eine einen Wirbel um die Erde
und läßt sie dadurch unter dem Himmel stehen bleiben,
der andere stellt ihr, wie einem breiten Troge einen Fußschemel,
die Luft unter.
Daß sie aber nun so liege, wie es am besten war, sie zu legen,
die Bedeutung davon suchen sie gar nicht auf und glauben auch gar nicht,
daß darin eine besondere höhere Kraft liege,
sondern meinen, sie hätten wohl einen Atlas aufgefunden,
der stärker wäre und unsterblicher als dieser und alles besser
zusammenhielte;
das Gute und Richtige aber, glauben sie,
könne überall gar nichts verbinden und zusammenhalten.
Ich nun wäre, um zu wissen, wie es sich mit dieser Ursache verhält,
gar zu gern jedermanns Schüler geworden;
da es mir aber so gut nicht wurde
und ich dies weder selbst zu finden noch von einem andern zu 1ernen
vermochte,
willst du, daß ich von der zweitbesten Fahrt,
wie ich sie durchgeführt habe zur Erforschung der Ursache,
eine Beschreibung gebe, o Kebes? —
Ganz über die Maßen, sprach er, will
ich das. —
[48. Zuflucht
des S. von den Dingen zu den Gedanken,
um in ihnen die Wahrheit der Dinge zu betrachten]
Es bedünkte mich nämlich nach diesem,
da ich aufgegeben, die Dinge zu betrachten,
ich müsse mich hüten, daß mir nicht begegne,
was denen, welche die Sonnenfinsteriüs betrachten und anschauen,
begegnet.
Viele nämlich verderben sich die Augen,
wenn sie nicht im Wasser oder sonst worin nur das Bild der Sonne anschauen.
So etwas merkte ich auch und befürchtete,
ich möchte ganz und gar an der Seele geblendet werden,
wenn ich mit den Augen nach den Gegenständen sähe
und mit jedem Sinne versuchte, sie zu treffen.
Sondern mich dünkte, ich müsse zu den Gedanken meine Zuflucht
nehmen
und in diesen das wahre Wesen der Dinge anschauen.
Doch vielleicht ähnelt das Bild auf gewisse Weise nicht so,
wie ich es aufgestellt habe.
Denn das möchte ich gar nicht zugeben,
daß, wer das Seiende in Gedanken betrachtet,
es mehr in Bildern betrachte, als wer in den Dingen.
Also dahin wendete ich mich,
und indem ich jedesmal den Gedanken zugrunde lege,
den ich für den stärksten halte:
so setze ich, was mir scheint diesem übereinzustimmen, als wahr,
es mag nun von Ursachen die Rede sein oder von was nur sonst,
was aber nicht, als nicht wahr.
Ich will dir aber noch deutlicher sagen, wie ich es meine;
denn ich glaube, daß du es jetzt nicht verstehst. —
Nein, beim Zeus, sagte Kebes, nicht eben sonderlich.
—
[49. Die sokratische
Ursachenforschung;
Begründung durch angesetzte Teilhabe an dem was in Wahrheit
ist]
Ich meine es so, fuhr er fort, gar nichts Neues,
sondern was ich schon sonst immer und so auch in der eben durchgeführten
Rede
gar nicht aufgehört habe zu sagen.
Ich will also versuchen, dir den Begriff der Ursache aufzuzeigen,
womit ich mich beschäftigt habe,
und komme wiederum auf jenes Abgedroschene zurück und fange davon
an,
daß ich voraussetze, es gebe ein Schönes an und für
sich,
und ein Gutes und Großes und so alles andere,
woraus, wenn du mir zugibst und einräumst, daß es sei,
ich dann hoffe, dir die Ursache zu zeigen und nachzuweisen,
daß die Seele unsterblich ist. —
So säume nur ja nicht, sprach Kebes, es
durchzufuhren,
als hätte ich dir dies längst zugegeben.
—
So betrachte denn, fuhr er fort, was daran hängt,
ob dir das ebenso vorkommt wie mir.
Mir scheint nämlich,
wenn irgend etwas anderes schön ist außer jenem Schönen
selbst,
daß es wegen gar nichts anderem schön sei,
als weil es teilhabe an jenem Schönen,
und ebenso sage ich von allem.
Räumst du diese Ursache ein? —
Die räume ich ein, sprach er. —
Und so verstehe ich denn gar nicht mehr und begreife nicht jene anderen
gelehrten Grunde;
sondern wenn mir jemand sagt, weswegen irgend etwas schön ist,
entweder weil es eine blühende Farbe hat oder Gestalt oder sonst
etwas dieser Art,
so lasse ich das andere — denn durch alles übrige werde ich nur
verwirrt gemacht —
und halte mich ganz einfach und kunstlos und vielleicht einfältig
bei mir selbst daran,
daß nichts anderes es schön macht als eben jenes Schöne,
nenne es nun Anwesenheit oder Gemeinschaft, wie nur und woher sie auch
komme,
denn darüber möchte ich nichts weiter behaupten, sondern
nur,
daß vermöge des Schönen alle schönen Dinge schön
werden.
Denn dies dünkt mich das allersicherste zu antworten, mir und
jedem andern;
und wenn ich mich daran halte, glaube ich, daß ich gewiß
niemals fallen werde,
sondern daß es mir und jedem andern sicher ist zu antworten,
daß vermöge des Schönen die schönen Dinge schön
sind.
Oder dünkt dich das nicht auch? —
Das dünkt mich. —
Also auch vermöge der Größe das Große groß
und das Größere größer,
und vermöge der Kleinheit das Kleinere kleiner? —
Ja. —
Also du würdest es auch nicht annehmen,
wenn jemand von einem sagen wollte,
er sei größer als ein anderer vermöge des Kopfes,
und der Kleinere vermöge desselben auch kleiner,
sondern würdest darauf beharren, daß du gar nichts anderes
meinst,
als daß alles Größere als ein anderes nur vermöge
der Größe größer ist
und wegen sonst nichts,
und eben um deswillen, um der Größe willen,
und das Kleinere vermöge sonst nichts kleiner als der Kleinheit,
und eben um deswillen kleiner, um der Kleinheit willen.
Und das aus Furcht, glaube ich, daß dir nicht eine andere Rede
entgegentrete,
wenn du sagtest, einer sei des Kopfes wegen größer und kleiner,
zuerst nämlich,
daß wegen des nämlichen das Größere größer
sei und das Kleinere kleiner,
und dann, daß des Kopfes wegen, der doch selbst klein ist,
das Größere größer sei,
und daß das doch ein Wunder sei,
daß wegen etwas Kleinem einer groß sein soll.
Oder würdest du das nicht fürchten? —
Da lachte Kebes und sagte: Freilich wohl. —
Also, fuhr er fort, daß zehn um zwei mehr ist als acht
und um dieser Ursache willen es übertreffe, der zwei wegen,
und nicht der Vielheit wegen und durch die Vielheit,
das würdest du dich fürchten zu sagen.
So auch, daß das Zweifüßige größer wäre
als das Einfüßige
vermöge der Hälfte, und nicht vermöge der Größe?
Denn dabei ist doch dieselbe Besorgnis. —
Allerdings, antwortete er. —
Und wie, wenn eines zu einem hinzugesetzt worden,
daß dann die Hinzufügung Ursache sei, daß zwei geworden
sind,
und wenn eines gespalten worden, dann die Spaltung,
würdest du dich nicht scheuen, das zu sagen,
und vielmehr laut erklären, du wüßtest nicht, daß
irgendwie anders jegliches werde,
als indem es teilnähme an dem eigentümlichen Wesen eines
jeglichen, woran es teilhat,
und so fändest du gar keine andere Ursache des Zweigewordenseins
als eben die Teilnehmung an der Zweiheit,
an welcher alles teilnehmen müsse, was zwei sein solle,
so wie an der Einheit, was eins sein solle?
Die Spaltungen aber und Hinzufügungen und andere solche Herrlichkeiten,
würdest du die nicht liegenlassen
und andern anheimstellen, damit zu antworten, die gelehrter sind als
du?
Du selbst aber würdest aus Furcht, wie man sagt,
vor deinem eigenen Schatten und deiner Ungeschicktheit,
an jener sicheren Voraussetzung dich haltend, immer so antworten.
Wenn sich aber einer an die Voraussetzung selbst hielte,
würdest du den nicht gehenlassen und nicht eher antworten,
bis du, was von ihr abgeleitet wird, betrachtet hättest,
ob es miteinander stimmt oder nicht stimmt?
Und solltest du dann von jener selbst Rechenschaft geben,
würdest du sie nicht auf die gleiche Weise geben,
nämlich eine andere Voraussetzung wieder voraussetzend,
welche dir eben von den höherliegenden die beste dünkt,
bis du auf etwas Befriedigendes kämest,
nicht aber untereinander mischend wie die Streitkünstler,
bald von dem ersten Grunde reden und bald von dem daraus abgeleiteten,
wenn du nämlich irgend etwas, wie es wirklich ist, finden wolltest.
Denn jene freilich haben hieran vielleicht gar keinen Gedanken und
keine Sorgen,
sondern sind imstande, wenn sie auch in ihrer Weisheit alles durcheinanderrühren,
doch noch sich selbst zu gefallen.
Gehörst du aber zu den Philosophen:
dann, denke ich, wirst du es so machen, wie ich sage. —
Ganz vollkommen wahr redest du, sagten Simmias
und Kebes zugleich.
Echekrates:
Beim Zeus, o Phaidon, mit Recht.
Denn gar wunderbar einleuchtend scheint mir der
Mann dieses gesagt zu haben für jeden,
der auch nur ein wenig Vernunft hat.
Phaidon:
Allerdings, o Echekrates, und so schien es auch
allen Anwesenden.
Echekrates:
Und auch uns, den Abwesenden, die es jetzt hören.
[50.
Möglichkeit einer gleichzeitigen Teilhabe der Dinge an entgegengesetzten
Wesenheiten,
aber Unmöglichkeit, daß die Wesenheit selbst oder die
in uns ihr Gegenteil annimmt]
Aber was war es nun, was hiernächst gesagt
wurde?
Phaidon:
Wie ich glaube nachdem ihm dieses eingeräumt
und zugestanden war,
daß jeglicher Begriff etwas sei an sich
und durch Teilnahme an ihnen die anderen Dinge
den Beinamen von ihnen erhalten,
so fragte er hierauf:
Wenn du nun dieses so annimmst, mußt du dann nicht,
wenn du behauptest, Simmias sei größer als Sokrates, aber
kleiner als Phaidon,
sagen, daß in dem Simmias beides sei,
Größe und Kleinheit? —
Freilich. —
Und so gestehst da doch, daß Simmias den Sokrates überragt,
damit verhalte es sich nicht in der Tat so, wie es buchstäblich
ausgedrückt wird.
Denn es ist nichtdes Simmias Natur,
schon dadurch, daß er Simmias ist, zu überragen,
sondern durch die Größe, die er zufällig hat;
auch nicht den Sokrates zu überragen deshalb, weil Sokrates Sokrates
ist,
sondern nur, weil Sokrates Kleinheit hat in bezog auf die Größe
jenes. —
Richtig. —
Auch nicht vom Phaidon überragt zu werden deshalb, weil Phaidon
Phaidon ist,
sondern weil er Größe hat im Vergleich mit des Simmias Kleinheit.
—
So ist es. —
So hat also Simmias den Beinamen klein zu sein und groß,
selbst in der Mitte stehend zwischen beiden,
indem er der Größe des einen seine Kleinheit zum Übertreffen
hinhält,
dem anderen aber seine Größe darreicht, welche jenes Kleinheit
übertrifft.
Dabei lächelte er und sagte:
Ich werde wohl noch gar wie ein Gerichtsschreiber so genau reden;
aber es verhält sich denn doch, wie ich sage. —
Jener stimmte bei. —
Ich sage dies aber, weil ich möchte, du wärest derselben
Meinung wie ich.
Denn mir leuchtet ein, daß nicht nur die Größe selbst
niemals zugleich groß und klein sein will,
sondern daß auch die Größe in uns
niemals das Kleine aufnimmt oder übertroffen werden will,
eines von beiden,
daß sie entweder flieht und aus dem Wege geht,
wenn ihr Gegenteil, das Kleine, sich nähert oder, wenn es da ist,
untergeht,
niemals aber bleibend und die Kleinheit aufnehmend etwas anderes sein
will, als sie war;
so wie ich allerdings aushaltend und die Kleinheit aufnehmend derselbe
bin, der ich war,
und nur eben als dieser selbe klein bin.
Jene aber hat nicht das Herz, indem sie groß ist, auch klein
zu sein.
So auch das Kleine in uns will niemals groß werden oder sein;
noch auch sonst eins von zwei Entgegengesetzten will,
dasselbe bleibend, was es war,
zugleich auch sein Gegenteil werden oder sein,
sondern entweder geht es davon, oder es geht unter, wenn ihm dies begegnet.
—
Auf alle Weise, sprach Kebes, leuchtet mir das
auch ein. —
[51. Unterschied
dieser Aussage über die Wesenheiten
von der in Kap. 15 vertretenen Entstehung der Dinge aus ihrem Gegenteil]
Da sagte einer von den Anwesenden
— wer es aber war, erinnere ich mich nicht mehr
genau —:
Bei den Göttern, war uns nicht in unsern
vorigen Reden gerade
das Gegenteil von dem, was jetzt gesagt wird,
herausgekommen,
daß nämlich aus dem Kleineren das
Größere werde
und aus dem Größeren das Kleinere
und daß gerade dies die Art sei,
wie Entgegengesetztes wird aus Entgegengesetztem?
Nun aber scheint nur gesagt zu werden, daß
das gar nicht möglich ist. —
Sokrates hatte sich hingeneigt und zugehört
und sagte:
Das hast du wacker erinnert,
nur bemerkst du nicht den Unterschied zwischen dem jetzt Gesagten und
dem damaligen.
Damals nämlich wurde gesagt,
aus dem entgegengesetzten Dinge werde das entgegengesetzte Ding:
jetzt aber, daß das Entgegengesetzte selbst sein Entgegengesetztes
niemals werden will,
weder das in uns noch das in der Natur.
Damals nämlich, o Freund, redeten wir von den Dingen,
die das Entgegengesetzte an sich haben,
und benannten sie mit den Namen von jenen,
jetzt aber von jenen selbst,
durch deren Einwohnung die so genannten Dinge ihre Benennung erhalten.
Und von diesen selbst behaupten wir doch wohl nicht,
daß sie einen Übergang ineinander zulassen.
Zugleich sah er den Kebes an und fragte:
Hat auch dich vielleicht, o Kebes, irregemacht, was dieser sagte? —
Nein, sagte Kebes, so steht es nicht mit mir;
wiewohl ich nicht sagen will, daß nicht
vieles mich irremacht. —
Darüber also sind wir eins geworden, fuhr Sokrates fort, ganz
unbedingt,
daß das Entgegengesetzte niemals sein Entgegengesetztes sein
wird. —
Auf alle Weise. —
[52.
Nicht nur die Wesenheiten lassen ihr Gegenteil niemals zu,
sondern auch anderes ist notwendig mit einer Entgegensetzung verbunden]
So betrachte denn auch noch dieses,
ob du auch darüber mit mir einig sein wirst.
Du nennst doch etwas warm und kalt? —
Das tue ich. —
Etwa dasselbe, was auch Schnee und Feuer? —
Nein, beim Zeus, ich nicht. —
Sondern etwas anderes als das Feuer ist das Warme,
und etwas anderes als der Schnee das Kalte? —
Ja. —
Aber das, denke ich, glaubst du doch,
daß niemals der Schnee als Schnee das aufnehmen
und, wie wir im vorigen sagten, noch sein wird, was er war,
Schnee und zugleich warm;
sondern wenn das Warme sich nähert,
wird er ihm entweder aus dem Wege gehen oder verschwinden. —
Freilich. —
Und so das Feuer wiederum, wenn ihm das Kalte naht,
wird entweder darunter weggehen oder verschwinden,
nie aber das Herz haben, die Kälte aufzunehmen
und noch sein zu wollen, was es war, Feuer und kalt. —
Wohl gesprochen, sagte er. —
Diese Bewandtnis also, fuhr er fort, hat es mit einigen Dingen,
daß nicht nur der Begriff selbst sich seinen Namen aneignen will
für alle Zeit,
sondern auch noch etwas anderes, welches zwar nicht er selbst ist,
aber doch immer seine Gestalt an sich trägt, solange es ist.
Vielleicht wird hieran noch deutlicher werden, was ich meine.
Das Ungerade muß doch immer diesen Namen bekommen, den wir jetzt
genannt haben;
oder nicht? —
Allerdings. —
Aber dieses allein, denn danach frage ich,
oder auch noch etwas anderes, welches zwar nicht das Ungerade selbst
ist,
aber was man doch immer auch mit dem Namen desselben nennen muß,
weil es so geartet ist, daß es das Ungerade nie kann fahrenlassen?
Ich meine damit das,
was auch der Dreiheit begegnet und noch vielem anderen.
Denn überlege dir nur wegen der Drei,
glaubst du nicht, daß sie immer sowohl mit ihrem Namen genannt
werden muß
als auch mit dem des Ungeraden,
ungeachtet dieses nicht dasselbe ist wie die Dreiheit;
aber dennoch ist dies die natürliche Beschaffenheit der Drei und
der Fünf
und überhaupt der einen ganzen Hälfte der Zahl,
daß, ungeachtet sie nicht dasselbe ist wie das Ungerade,
doch jede von ihnen ungerade ist.
Und wiederum die Zwei und die Vier und die andere Reihe der Zahlen
ist nicht dasselbe wie das Gerade,
aber doch ist jede von ihnen immer gerade.
Gibst du das zu oder nicht? —
Wie sollte ich nicht, sprach er. —
So siehe nun zu, was ich eigentlich deutlich machen will.
Es ist nämlich dieses,
daß nicht nur jenes Entgegengesetzte selbst einander nicht annimmt;
sondern auch alles das,
was einander eigentlich nicht entgegengesetzt ist,
doch aber das Entgegengesetzte immer in sich hat,
auch dieses scheint jene Idee nicht annehmen zu wollen,
die der in ihm wohnenden entgegengesetzt ist,
sondern wenn sie kommt, entweder unterzugehen oder sich davonzumachen.
Oder wollen wir nicht sagen,
die Drei werde eher untergehen und sich alles andere gefallen lassen
als aushalten, Drei zu sein und zugleich gerade zu werden? —
Allerdings, sagte Kebes. —
Nun ist doch die Zwei der Drei nicht entgegengesetzt. —
Freilich nicht. —
Also nicht nur die entgegengesetzten Begriffe lassen einander nicht
zu,
sondern auch noch einiges andere läßt das Entgegengesetzte
nicht an sich kommen. —
Vollkommen richtig, sprach er, redest du. —
[53. Genauere
Bestimmung der Wesenheiten,
die außer sicht selbst immer zugleich noch ein bestimmtes
Entgegengesetztes mit sich führen]
Sollen wir nun, fuhr jener fort, wenn wir es können,
bestimmen, welcherlei diese sind? —
Wohl. —
Werden es nun nicht diejenigen sein, o Kebes,
welche dasjenige, wovon sie Besitz nehmen,
nicht nur nötigen, ihre eigene Idee immer festzuhalten,
sondern auch immer die eines gewissen Entgegengesetzten? —
Wie meinst du das? —
Wie wir eben sagten.
Denn du weißt doch,
alles, wovon die Idee der Dreiheit Besitz nimmt,
ist notwendig nicht nur Drei, sondem auch ungerade? —
Freilich. —
Zu einem solchen nun, sagen wir,
kann die Idee, welche der Form entgegengesetzt ist, die dies bewirkt,
niemals kommen? —
Freilich nicht. —
Bewirkt hat dies aber die Form des Ungeraden. —
Ja. —
Und entgegengesetzt dieser ist die des Geraden? —
Ja. —
Also kann zu Dreiseienden niemals die Form des Geraden kommen. —
Offenbar nicht. —
Ohne allen Anteil an dem Geraden ist also das Dreiseiende? —
Ohne Anteil. —
Also ist die Drei ungerade? —
Ja. —
Was ich also bestimmen wollte, welche Dinge nämlich,
ohne einem Gewissen entgegengesetzt zu sein,
doch dessen Gegenteil nicht annehmen
— wie jetzt die Drei dem Geraden nicht entgegengesetzt ist,
es aber demungeachtet doch nicht aufnimmt;
denn immer bringt sein Gegenteil mit
sowohl die Zwei dem Ungeraden wie das Feuer dem Kalten, und vieles
andere —,
dieses nun siehe zu, ob du es wohl so bestimmst,
daß nicht nur ein Entgegengesetztes das andere nicht aufnimmt,
sondern auch, wenn etwas allem, woran es sich macht,
den einen Gegensatz zubringt,
so kann eben dieses Zubringende den Gegensatz des Zugebrachten niemals
annehmen.
Rufe es dir nur noch einmal zurück,
denn es ist nicht übel, es oft zu hören.
Die Fünf wird nie die Form des Geraden annehmen,
noch die Zehn die des Ungeraden als das Zwiefache.
Auch dieses selbst ist einem andern entgegengesetzt,
aber dennoch nimmt es die Form des Ungeraden nicht an.
Ebensowenig das Anderthalbe und alles dergleichen als Halbes die des
Ganzen,
oder das Dritteil und alles dergleichen,
wenn du folgst und einstimmst. —
Gar sehr, sprach er, stimme ich ein und folge
auch. —
[54.
Anwendung auf die Seele, die immer Leben mit sich bringt]
So sage es mir denn, sprach er, noch einmal von Anfang an.
Und antworte mir nicht gerade das, was ich frage,
sondern mich nachahmend ein anderes.
Ich sage das nämlich, weil ich außer jener vorher gegebenen
sicheren Antwort
vermittels des jetzt Gesagten noch eine andere Sicherheit absehe.
Denn wenn du mich fragtest:
Wem was doch in dem Leibe einwohnt, wird warm sein?,
so würde ich dir nicht jene einfältige sichere Antwort geben,
wem Wärme;
sondern eine feinere vermöge des jetzt Gesagten, nämlich
wem Feuer.
Noch auch wenn du fragtest, welchem Leibe was doch einwohnt, der wird
krank sein,
werde ich sprechen, welchem Krankheit, sondern welchem Fieber.
Noch auch, wenn was doch einer Zahl einwohnt, wird Sie ungerade sein,
werde ich antworten, wenn Ungeradheit, sondern wenn Einheit,
und so überall.
Siehe nun zu, ob du schon zur Genüge verstehst, was ich will.
—
Vollkommen zur Genüge, sagte er. —
Antworte also, sprach er, wenn was doch dem Leibe einwohnt,
wird er lebend sein? —
Wenn Seele, antwortete er. —
Und verhält sich dies auch immer so? —
Wie sollte es nicht, sagte er. —
Die Seele also, wessen sie sich bemächtigt,
zu dem kommt sie immer Leben mitbringend? —
Das tut sie freilich. —
Ist nun wohl etwas dem Leben entgegengesetzt oder nichts? —
Es ist. —
Und was? —
Der Tod. —
Also wird wohl die Seele das Gegenteil dessen, was sie immer mitbringt,
nie annehmen,
wie wir aus dem vorigen festgesetzt haben. —
Und gar sehr festgesetzt. —
[55.
Schluß: Die Seele ist also unsterblich und unvergänglich]
Wie nun?
Was die Idee des Geraden nie aufnimmt,
wie nannten wir das eben? —
Ungerade. —
Und was das Gerechte nie annimmt und das Künstlerische nie annimmt?
—
Unkünstlerisch, sprach er, und jenes ungerecht.
—
Wohl.
Und was den Tod nie annimmt,
wie nennen wir das? —
Unsterblich, sagte er. —
Und die Seele nimmt doch den Tod nie an? —
Nein. —
Unsterblich also ist die Seele? —
Unsterblich. —
Wohl, sprach er.
Wollen wir also sagen, dies sei erwiesen,
oder wie dünkt dich? —
Und zwar ganz vollständig, o Sokrates. —
Wie nun, sprach er, o Kebes;
wenn das Ungerade notwendig unvergänglich wäre,
würde dann die Drei nicht auch unvergänglich sein? —
Wie sollte sie nicht? —
Und nicht wahr, wenn auch das Unwarme notwendig unvergänglich
wäre,
so müßte, wenn jemand an den Schnee Wärme brächte,
der Schnee sich davonmachen,
aber wohlbehalten und ungeschmolzen?
Denn vergehen konnte er ja nicht,
aber auch nicht bleiben und die Wärme aufnehmen. —
Wohl gesprochen, sagte er. —
Und ebenso, denke ich,
wenn das Unkalte unvergänglich wäre und jemand an das Feuer
Kaltes brachte,
so würde es nicht verlöschen und auch nicht vergehen,
sondern nur wohlbehalten sich entfernen. —
Notwendig. —
Muß man nun nicht ebenso auch von dem| Unsterblichen sagen,
daß, wenn das Unsterbliche auch unvergänglich ist,
die Seele unmöglich, wenn der Tod an sie kommt, untergehen kann.
Denn den Tod, vermöge des Vorhergesagten,
kann sie nicht annehmen und gestorben sein,
wie die Drei niemals gerade sein kann,
ebensowenig wie das Ungerade selbst,
noch auch das Feuer kalt,
ebensowenig wie die Wärme in dem Feuer.
Aber was hindert, könnte jemand sagen,
daß das Ungerade zwar niemals gerade wird, wenn das Gerade ihm
ankommt,
wie auch eingestanden ist,
aber wohl, daß es umkommt und statt seiner uns ein Gerades entsteht?
Wer nun das sagte,
dem könnten wir nicht abstreiten, daß es umkomme.
Denn das Ungerade ist nicht unvergänglich.
Wenn aber dies erst eingestanden wäre,
dann könnten wir leicht durchfechten,
daß, wenn das Gerade kommt, das Ungerade und die Drei nur davongehen,
und vom Feuer und dem Warmen und allem andern würden wir es ebenso
durchfechten.
Oder nicht? —
Gewiß. —
Nicht so auch jetzt von dem Unsterblichen, wenn uns nur erst eingestanden
wäre,
daß es zugleich auch unvergänglich ist,
dann wäre uns die Seele außer dem, daß sie unsterblich
ist,
auch unvergänglich;
wo aber nicht, so müßte man es anders anfangen. —
Dessen bedarf es nun wohl nicht,
sprach er, was dies betrifft.
Denn gute Wege hätte es,
daß irgend etwas sich dem Untergang entziehen
könnte,
wenn auch das Unsterbliche und immer Seiende
den Untergang annähme. —
[56.
Völlige Überzeugung des Kebes und Unsicherheit des Simmias]
Gott wenigstens, sprach Sokrates, und die Idee des Lebens selbst
wird wohl, wenn überhaupt etwas unsterblich ist,
von jedem eingestanden werden, daß es niemals untergehe. —
Beim Zeus, sagte er, von jedem Menschen ja schon,
und noch mehr, denke ich, von den Göttern.
—
Wenn also das Unsterbliche auch unvergänglich ist,
wäre dann nicht die Seele, wenn sie doch unsterblich ist,
zugleich auch unvergänglich? —
Ganz notwendig. —
Tritt also der Tod den Menschen an:
so stirbt, wie es scheint, das Sterbliche an ihm,
das Unsterbliche aber und Unvergängliche zieht wohlbehalten ab,
dem Tode aus dem Wege. —
Das leuchtet ein. —
Ganz sicher also, o Kebes, ist die Seele unsterblich und unvergänglich,
und in Wahrheit werden unsere Seelen sein in der Unterwelt. —
Ich wenigstens, o Sokrates, sagte er, vermag
weder etwas anderes hiergegen vorzubringen
noch deinen Reden den Glauben zu versagen;
weiß aber unser Simmias oder sonst ein
anderer etwas,
so wird es wohlgetan sein, es nicht zu verschweigen.
Denn ich wüßte nicht, auf welche andere
Gelegenheit als die jetzt noch vorhandene
es jemand verschieben könnte,
der etwas über diese Gegenstände sagen
oder hören will. —
Allerdings, sagte Simmias, weiß auch ich
nicht, wie ich nicht beistimmen soll,
dem Gesagten zufolge;
jedoch wegen der Größe der Gegenstände,
worauf die Reden sich beziehen,
und weil ich von der menschlichen Schwachheit
wenig halte, bin ich gedrungen,
bei mir selbst noch einen Unglauben zu behalten
über das Gesagte. —
Nicht nur das, o Simmias, sagte Sokrates,
sondern wie du hierin ganz recht gesprochen hast,
müßt ihr auch unsere ersten Voraussetzungen,
wenn sie euch auch zuverlässig sind, doch noch genauer in Erwägung
ziehen;
und wenn ihr sie euch befriedigend auseinandergesetzt habt,
dann, denke ich, werdet ihr auch der Rede folgen,
soweit nur irgendein Mensch sie verfolgen kann.
Und wenn eben dieses gewiß geworden ist,
dann werdet ihr nichts weiter suchen. —
Vollkommen richtig. —
griechisch / deutsch:
XI. Endmythos über
das künftige Schicksal der Seele.
XII. Letzte Worte
und Handlungen des Sokrates.
C. Schluß: Schlußworte
über Sokrates
(67. Kap., 118 a 15 — 118 a 17).