Nachdem
wir nun im Bisherigen alle schönen Künste, in derjenigen Allgemeinheit,
die unserm Standpunkt angemessen ist, betrachtet haben,
anfangend
von der schönen Baukunst,
deren
Zweck als solcher die Verdeutlichung der Objektivation des Willens auf
der niedrigsten Stufe seiner Sichtbarkeit ist,
wo er sich als dumpfes, erkenntnißloses, gesetzmäßiges
Streben der Masse zeigt
und
doch schon Selbstentzweiung und Kampf offenbart,
nämlich
zwischen Schwere und Starrheit; –
und
unsere Betrachtung beschließend mit dem Trauerspiel,
welches, auf der höchsten Stufe der Objektivation des Willens,
eben jenen seinen Zwiespalt mit sich selbst,
in furchtbarer Größe und Deutlichkeit uns vor die Augen bringt;
–
so
finden wir, daß dennoch eine schöne Kunst
von
unserer Betrachtung ausgeschlossen geblieben ist und bleiben mußte,
da
im systematischen Zusammenhang unserer Darstellung gar keine Stelle für
sie passend war:
es
ist die Musik.
Sie
steht ganz abgesondert von allen andern. Wir
erkennen in ihr nicht die Nachbildung, Wiederholung irgend einer Idee der
Wesen in der Welt: dennoch
ist sie eine so große und überaus herrliche Kunst, wirkt so
mächtig auf das innerste des Menschen, wird dort so ganz und so tief
von ihm verstanden, als eine ganz allgemeine Sprache, deren Deutlichkeit
sogar die der anschaulichen Welt selbst übertrifft; –
daß
wir gewiß mehr in ihr zu suchen haben, als ein exercitium arithmeticae
occultum nescientis se numerare animi, wofür sie Leibnitz ansprach
und dennoch ganz Recht hatte,
sofern
er nur ihre unmittelbare und äußere Bedeutung, ihre Schaale,
betrachtete.
Wäre
sie jedoch nichts weiter, so müßte die Befriedigung, welche
sie gewährt, der ähnlich seyn, die wir beim richtigen Aufgehn
eines Rechnungsexempels empfinden, und
könnte nicht jene innige Freude seyn, mit der wir das tiefste innere
unsers Wesens zur Sprache gebracht sehn. Auf
unserm Standpunkte daher, wo die ästhetische Wirkung unser Augenmerk
ist, müssen
wir ihr eine viel ernstere und tiefere, sich auf das innerste Wesen der
Welt und unsers Selbst beziehende Bedeutung zuerkennen, in
Hinsicht auf welche die Zahlenverhältnisse, in die sie sich auflösen
läßt, sich nicht als das Bezeichnete, sondern selbst erst als
Zeichen verhalten. Daß
sie zur Welt, in irgend einem Sinne, sich wie Darstellung zum Dargestellten,
wie Nachbild zum Vorbilde verhalten muß, können
wir aus der Analogie mit den übrigen Künsten schließen,
denen allen dieser Charakter eigen ist, und mit deren Wirkung auf uns die
ihrige im Ganzen gleichartig, nur stärker, schneller, nothwendiger,
unfehlbarer ist. Auch
muß jene ihre nachbildliche Beziehung zur Welt eine sehr innige,
unendlich wahre und richtig treffende seyn, weil sie von jedem augenblicklich
verstanden wird und
eine gewisse Unfehlbarkeit dadurch zu erkennen giebt, daß ihre Form
sich auf ganz bestimmte, in Zahlen auszudrückende Regeln zurückführen
läßt, von
denen sie gar nicht abweichen kann, ohne gänzlich aufzuhören
Musik zu seyn. – Dennoch
liegt der Vergleichungspunkt zwischen der Musik und der Welt, die Hinsicht,
in welcher jene zu dieser im Verhältniß der Nachahmung oder
Wiederholung steht, sehr tief verborgen. Man
hat die Musik zu allen Zeiten geübt, ohne hierüber sich Rechenschaft
geben zu können: zufrieden,
sie unmittelbar zu verstehn, thut man Verzicht auf ein abstraktes Begreifen
dieses unmittelbaren Verstehns selbst. Indem
ich meinen Geist dem Eindruck der Tonkunst, in ihren mannigfaltigen Formen,
gänzlich hingab, und
dann wieder zur Reflexion und zu dem in gegenwärtiger Schrift dargelegten
Gange meiner Gedanken zurückkehrte, ward
mir ein Aufschluß über ihr inneres Wesen und
über die Art ihres, der Analogie nach nothwendig vorauszusetzenden,
nachbildlichen Verhältnisses zur Welt, welcher
mir selbst zwar völlig genügend und für mein Forschen befriedigend
ist, auch
wohl Demjenigen, der mir bisher gefolgt wäre und meiner Ansicht der
Welt beigestimmt hätte, eben so einleuchtend seyn wird; welchen
Aufschluß jedoch zu beweisen, ich als wesentlich unmöglich erkenne; da
er ein Verhältniß der Musik, als einer Vorstellung, zu Dem,
was wesentlich nie Vorstellung seyn kann, annimmt und festsetzt, und
die Musik als Nachbild eines Vorbildes, welches selbst nie unmittelbar
vorgestellt werden kann, angesehn haben will. Ich
kann deshalb nichts weiter thun, als hier am Schlüsse dieses der Betrachtung
der Künste hauptsächlich gewidmeten dritten Buches, jenen mir
genügenden Aufschluß über die wunderbare Kunst der Töne
vortragen, und
muß die Beistimmung, oder Verneinung meiner Ansicht der Wirkung anheimstellen, welche
auf jeden Leser theils die Musik, theils der ganze und eine von mir in
dieser Schrift mitgetheilte Gedanken hat. Ueberdies
halte ich es, um der hier zu gebenden Darstellung der Bedeutung der Musik
mit achter Ueberzeugung seinen Beifall geben zu können, für nothwendig, daß
man oft mit anhaltender Reflexion auf dieselbe der Musik zuhöre, und
hiezu wieder ist erforderlich, daß man mit dem ganzen von mir dargestellten
Gedanken schon sehr vertraut sei. Die
adäquate Objektivation des Willens sind die (Platonischen) Ideen; die
Erkenntniß dieser durch Darstellung einzelner Dinge (denn solche
sind die Kunstwerke selbst doch immer) anzuregen (welches nur unter einer
diesem entsprechenden Veränderung im erkennenden Subjekt möglich
ist), ist der Zweck aller andern Künste. Sie
alle objektiviren also den Willen nur mittelbar, nämlich mittelst
der Ideen: und
da unsere Welt nichts Anderes ist, als die Erscheinung der Ideen in der
Vielheit, mittelst Eingang in das principium individuationis (die Form
der dem Individuo als solchem möglichen Erkenntniß); so
ist die Musik, da sie die Ideen übergeht, auch von der erscheinenden
Welt ganz unabhängig, ignorirt
sie schlechthin, könnte
gewissermaaßen, auch wenn die Welt gar nicht wäre, doch bestehn: was
von den andern Künsten sich nicht sagen läßt. Die
Musik ist nämlich eine so unmittelbare Objektivation und Abbild des
ganzen Willens, wie
die Welt selbst es ist, ja
wie die Ideen es sind, deren vervielfältigte Erscheinung die Welt
der einzelnen Dinge ausmacht. Die
Musik ist also keineswegs, gleich den andern Künsten, das Abbild der
Ideen, sondern
Abbild des Willens selbst, dessen
Objektität auch die Ideen sind: deshalb
eben ist die Wirkung der Musik so sehr viel mächtiger und eindringlicher,
als die der andern Künste: denn
diese reden nur vom Schatten, sie aber vom Wesen. Da
es inzwischen der selbe Wille ist, der sich sowohl in den Ideen, als in
der Musik, nur in jedem von Beiden auf ganz verschiedene Weise, objektivirt; so
muß, zwar durchaus keine unmittelbare Aehnlichkeit, aber
doch ein Parallelismus, eine Analogie seyn zwischen der Musik und zwischen
den Ideen, deren
Erscheinung in der Vielheit und Unvollkommenheit die sichtbare Welt ist. Die
Nachweisung dieser Analogie wird als Erläuterung das Verständniß
dieser durch die Dunkelheit des Gegenstandes schwierigen Erklärung
erleichtern. Ich
erkenne in den tiefsten Tönen der Harmonie, im Grundbaß, die
niedrigsten Stufen der Objektivation des Willens wieder, die unorganische
Natur, die Masse des Planeten. Alle
die hohen Töne, leicht beweglich und schneller verklingend, sind
bekanntlich anzusehn als entstanden durch die Nebenschwingungen des tiefen
Grundtones, bei
dessen Anklang sie immer zugleich leise miterklingen, und
es ist Gesetz der Harmonie, daß auf eine Baßnote nur diejenigen
hohen Töne treffen dürfen, die wirklich schon von selbst mit
ihr zugleich ertönen (ihre sons harmoniques) durch die Nebenschwingungen. Dieses
ist nun dem analog, daß die gesammten Körper und Organisationen
der Natur angesehn werden müssen als entstanden durch die stufenweise
Entwickelung aus der Masse des Planeten: diese
ist, wie ihr Träger, so ihre Quelle: und
das selbe Verhältniß haben die hohem Töne zum Grundbaß.
– Die
Tiefe hat eine Gränze, über welche hinaus kein Ton mehr hörbar
ist: dies
entspricht dem, daß keine Materie ohne Form und Qualität wahrnehmbar
ist, d.h. ohne Aeußerung einer nicht weiter erklärbaren Kraft,
in der eben sich eine Idee ausspricht, und allgemeiner, daß keine
Materie ganz willenlos seyn kann: also
wie vom Ton als solchem ein gewisser Grad der Höhe unzertrennlich
ist, so von der Materie ein gewisser Grad der Willensäußerung.
– Der
Grundbaß ist uns also in der Harmonie, was
in der Welt die unorganische Natur, die roheste Masse, auf
der Alles ruht und aus der sich Alles erhebt und entwickelt. – Nun
ferner in den gesammten die Harmonie hervorbringenden Ripienstimmen, zwischen
dem Basse und der leitenden, die Melodie singenden Stimme, erkenne ich
die gesammte Stufenfolge der Ideen wieder, in denen der Wille sich objektivirt. Die
dem Baß näher stehenden sind die niedrigeren jener Stufen, die
noch unorganischen, aber schon mehrfach sich äußernden Körper: die
höher liegenden repräsentiren mir die Pflanzen- und die Thierwelt.
– Die
bestimmten Intervalle der Tonleiter sind parallel den bestimmten Stufen
der Objektivation des Willens, den
bestimmten Species in der Natur. Das
Abweichen von der arithmetischen Richtigkeit der Intervalle, durch irgend
eine Temperatur, oder herbeigeführt durch die gewählte Tonart, ist
analog dem Abweichen des Individuums vom Typus der Species: ja
die unreinen Mißtöne, die kein bestimmtes Intervall geben, lassen
sich den monströsen Mißgeburten zwischen zwei Thierspecies,
oder zwischen Mensch und Thier, vergleichen. – Allein
diesen Baß- und Ripienstimmen, welche die Harmonie ausmachen, fehlt
nun aber jener Zusammenhang in der Fortschreitung, den allein die obere,
die Melodie singende Stimme hat, welche auch allein sich schnell und leicht
in Modulationen und Läufen bewegt, während
jene alle nur eine langsamere Bewegung, ohne einen in jeder für sich
bestehenden Zusammenhang, haben. Am
schwerfälligsten bewegt sich der tiefe Baß, der Repräsentant
der rohesten Masse: sein
Steigen und Fallen geschieht nur in großen Stufen, in Terzen, Quarten,
Quinten, nie um einen Ton; er
wäre denn ein, durch doppelten Kontrapunkt, versetzter Baß. Diese
langsame Bewegung ist ihm auch physisch wesentlich: ein
schneller Lauf oder Triller in der Tiefe läßt sich nicht ein
Mal imaginiren. Schneller,
jedoch noch ohne melodischen Zusammenhang und sinnvolle Fortschreitung,
bewegen sich die hohem Ripienstimmen, welche
der Thierwelt parallel laufen. Der
unzusammenhängende Gang und die gesetzmäßige Bestimmung
aller Ripienstimmen ist Dem analog, daß
in der ganzen unvernünftigen Welt, vom Krystall bis zum vollkommensten
Thier, kein Wesen ein eigentlich zusammenhängendes Bewußtsein
hat, welches sein Leben zu einem sinnvollen Ganzen machte, auch
keines eine Succession geistiger Entwickelungen erfährt, keines
durch Bildung sich vervollkommnet, sondern
Alles gleichmäßig zu jeder Zeit dasteht, wie es seiner Art nach
ist, durch festes Gesetz bestimmt, – Endlich
in der Melodie, in
der hohen singenden, das Ganze leitenden und mit ungebundener Willkür
in ununterbrochenem, bedeutungsvollem Zusammenhange eines Gedankens vom
Anfang bis zum Ende fortschreitenden, ein Ganzes darstellenden Hauptstimme, erkenne
ich die höchste Stufe der Objektivation des Willens wieder, das
besonnene Leben und Streben des Menschen. Wie
er allein, weil er vernunftbegabt ist, stets vor- und rückwärts
sieht, auf den Weg seiner Wirklichkeit und der unzähligen Möglichkeiten, und
so einen besonnenen und dadurch als Ganzes zusammenhängenden Lebenslauf
vollbringt; – Dem
also entsprechend, hat die Melodie allein einen bedeutungsvollen, absichtsvollen
Zusammenhang vom Anfang bis zum Ende. Sie
erzählt folglich die Geschichte des von der Besonnenheit beleuchteten
Willens, dessen
Abdruck in der Wirklichkeit die Reihe seiner Thaten ist; aber
sie sagt mehr, sie erzählt seine geheimste Geschichte, malt
jede Regung, jedes Streben, jede Bewegung des Willens, alles
Das, was die Vernunft unter den weiten und negativen Begriff Gefühl
zusammenfaßt und nicht weiter in ihre Abstraktionen aufnehmen kann. Daher
auch hat es immer geheißen, die Musik sei die Sprache des Gefühls
und der Leidenschaft, so
wie Worte die Sprache der Vernunft: schon
Plato erklärt sie als hê tôn melôn kinêsis
memimêmenê, en tios pathênasin hotan psychê ginêtai
(melodiarum motus, animi affectus imitans), De leg. VIII, und
auch Aristoteles sagt: dia ti hoi rythmoi kai ta melê, phônê
ousa, êthesin eoike; (cur numeri musici et modi, qui voces sunt,
moribus similes sese exhibent?), Probl. c. 19. Wie
nun das Wesen des Menschen darin besteht, daß sein Wille strebt,
befriedigt wird und von Neuem strebt, und
so immerfort, ja, sein Glück und Wohlseyn nur Dieses ist, daß
jener Uebergang vom Wunsch zur Befriedigung und von dieser zum neuen Wunsch
rasch vorwärts geht, da
das Ausbleiben der Befriedigung Leiden, das
des neuen Wunsches leeres Sehnen, languor, Langeweile ist; so
ist, Dem entsprechend, das Wesen der Melodie ein stetes Abweichen, Abirren
vom Grundton, auf
tausend Wegen, nicht nur zu den harmonischen Stufen, zur Terz und Dominante, sondern
zu jedem Ton, zur dissonanten Septime und zu den übermäßigen
Stufen, aber
immer folgt ein endliches Zurückkehren zum Grundton: auf
allen jenen Wegen drückt die Melodie das vielgestaltete Streben des
Willens aus, aber
immer auch, durch das endliche Wiederfinden einer harmonischen Stufe, und
noch mehr des Grundtones, die Befriedigung. Die
Erfindung der Melodie, die
Aufdeckung aller tiefsten Geheimnisse des menschlichen Wollens und Empfindens
in ihr, ist
das Werk des Genius, dessen
Wirken hier augenscheinlicher, als irgendwo, fern von aller Reflexion und
bewußter Absichtlichkeit liegt und eine Inspiration heißen
könnte. Der
Begriff ist hier, wie überall in der Kunst, unfruchtbar: der
Komponist offenbart das innerste Wesen der Welt und spricht die tiefste
Weisheit aus. In
einer Sprache, die seine Vernunft nicht versteht; wie
eine magnetische Somnambule Aufschlüsse giebt über Dinge, von
denen sie wachend keinen Begriff hat. Daher
ist in einem Komponisten, mehr als in irgend einem andern Künstler,
der Mensch vom Künstler ganz getrennt und unterschieden. Sogar
bei der Erklärung dieser wunderbaren Kunst zeigt der Begriff seine
Dürftigkeit und seine Schranken: ich
will indessen unsere Analogie durchzuführen suchen. – Wie
nun schneller Uebergang vom Wunsch zur Befriedigung und von dieser zum
neuen Wunsch, Glück und Wohlseyn ist, so
sind rasche Melodien, ohne große Abirrungen, fröhlich; langsame,
auf schmerzliche Dissonanzen gerathende und erst durch viele Takte sich
wieder zum Grundton zurückwindende sind,
als analog der verzögerten, erschwerten Befriedigung, traurig. Die
Verzögerung der neuen Willensregung, der languor, würde keinen
andern Ausdruck haben können, als den angehaltenen Grundton, dessen
Wirkung bald unerträglich wäre: diesem
nähern sich schon sehr monotone, nichtssagende Melodien. Die
kurzen, faßlichen Sätze rascher Tanzmusik scheinen nur vom leicht
zu erreichenden, gemeinen Glück zu reden; dagegen
das Allegro maestoso, in großen Sätzen, langen Gängen,
weiten Abirrungen, ein
größeres, edleres Streben, nach einem fernen Ziel, und dessen
endliche Erreichung bezeichnet. Das
Adagio spricht vom Leiden eines großen und edlen Strebens, welches
alles kleinliche Glück verschmäht, Aber
wie wundervoll ist die Wirkung von Moll und Dur! Wie
erstaunlich, daß der Wechsel eines halben Tones, der Eintritt der
kleinen Terz, statt der großen, uns
sogleich und unausbleiblich ein banges, peinliches Gefühl aufdringt, von
welchem uns das Dur wieder eben so augenblicklich erlöst. Das
Adagio erlangt im Moll den Ausdruck des höchsten Schmerzes, wird zur
erschütterndesten Wehklage. Tanzmusik
in Moll scheint das Verfehlen des kleinlichen Glückes, das man lieber
verschmähen sollte, zu bezeichnen, scheint
vom Erreichen eines niedrigen Zweckes unter Mühsäligkeiten und
Plackereien zu reden. – Die
Unerschöpflichkeit möglicher Melodien entspricht
der Unerschöpflichkeit der Natur an Verschiedenheit der Individuen,
Physiognomien und Lebensläufen. Der
Uebergang aus einer Tonart in eine ganz andere, da
er den Zusammenhang mit dem Vorhergegangenen ganz aufhebt, gleicht
dem Tode, sofern in ihm das Individuum endet; aber
der Wille, der in diesem erschien, nach wie vorlebt, in andern Individuen
erscheinend, deren
Bewußtsein jedoch mit dem des erstem keinen Zusammenhang hat. Man
darf jedoch bei der Nachweisung aller dieser vorgeführten Analogien
nie vergessen, daß die Musik zu ihnen kein direktes, sondern nur
ein mittelbares Verhältniß hat; da
sie nie die Erscheinung, sondern allein das innere Wesen, das Ansich aller
Erscheinung, den Willen selbst, ausspricht. Sie
drückt daher nicht diese oder jene einzelne und bestimmte Freude,
diese oder jene Betrübniß, oder Schmerz, oder Entsetzen, oder
Jubel, oder Lustigkeit, oder Gemüthsruhe aus; sondern
die Freude, die Betrübniß, den Schmerz, das Entsetzen, den Jubel,
die Lustigkeit, die Gemüthsruhe selbst, gewissermaaßen
in abstracto, das Wesentliche derselben, ohne alles Beiwerk, also auch
ohne die Motive dazu. Dennoch
verstehn wir sie, in dieser abgezogenen Quintessenz vollkommen. Hier
aus entspringt es, daß unsere Phantasie so leicht durch sie erregt
wird und
nun versucht, jene ganz unmittelbar zu uns redende, unsichtbare und doch
so lebhaft bewegte Geisterwelt zu gestalten und sie mit Fleisch und Bein
zu bekleiden, also
dieselbe in einem analogen Beispiel zu verkörpern. Dies
ist der Ursprung des Gesanges mit Worten und endlich der Oper, – deren
Text eben deshalb diese untergeordnete Stellung nie verlassen sollte, um
sich zur Hauptsache und die Musik zum bloßen Mittel seines Ausdrucks
zu machen, als
welches ein großer Mißgriff und eine arge Verkehrtheit ist. Denn
überall drückt die Musik nur die Quintessenz des Lebens und seiner
Vorgänge aus, nie
diese selbst, deren Unterschiede daher auf jene nicht allemal einfließen. Gerade
diese ihr ausschließlich eigene Allgemeinheit, bei genauester Bestimmtheit, giebt
ihr den hohen Werth, welchen sie als Panakeion aller unserer Leiden hat. Wenn
also die Musik zu sehr sich den Worten anzuschließen und nach den
Begebenheiten zu modeln sucht, so
ist sie bemüht, eine Sprache zu reden, welche nicht die ihrige ist. Von
diesem Fehler hat Keiner sich so rein gehalten, wie Rossini: daher
spricht seine Musik so deutlich und rein ihre eigene Sprache, daß
sie der Worte gar nicht bedarf und daher auch mit bloßen Instrumenten
ausgeführt ihre volle Wirkung thut. Diesem
allen zufolge können wir die erscheinende Welt, oder die Natur, und
die Musik als zwei verschiedene Ausdrücke der selben Sache ansehn, welche
selbst daher das allein Vermittelnde der Analogie Beider ist, dessen
Erkenntniß erfordert wird, um jene Analogie einzusehn. Die
Musik ist demnach, wenn als Ausdruck der Welt angesehn, eine im höchsten
Grad allgemeine Sprache, die
sich sogar zur Allgemeinheit der Begriffe ungefähr verhält wie
diese zu den einzelnen Dingen. Ihre
Allgemeinheit ist aber keineswegs jene leere Allgemeinheit der Abstraktion, sondern
ganz anderer Art, und
ist verbunden mit durchgängiger deutlicher Bestimmtheit. Sie
gleicht hierin den geometrischen Figuren und den Zahlen, welche
als die allgemeinen Formen aller möglichen Objekte der Erfahrung und
auf alle a priori anwendbar, doch
nicht abstrakt, sondern anschaulich und durchgängig bestimmt sind. Alle
möglichen Bestrebungen, Erregungen und Aeußerungen des Willens, alle
jene Vorgänge im innern des Menschen, welche die Vernunft in den weiten
negativen Begriff Gefühl wirft, sind
durch die unendlich vielen möglichen Melodien auszudrücken, aber
immer in der Allgemeinheit bloßer Form, ohne den Stoff, immer
nur nach dem Ansich, nicht nach der Erscheinung, gleichsam
die innerste Seele derselben, ohne Körper. Aus
diesem innigen Verhältniß, welches die Musik zum wahren Wesen
aller Dinge hat, ist
auch Dies zu erklären, daß wenn
zu irgend einer Scene, Handlung, Vorgang, Umgebung, eine passende Musik
ertönt, diese
uns den geheimsten Sinn derselben aufzuschließen scheint und als
der richtigste und deutlichste Kommentar dazu auftritt; imgleichen,
daß es Dem, der sich dem Eindruck einer Symphonie ganz hingiebt,
ist, als sähe er alle möglichen Vorgänge des Lebens und
der Welt an sich vorüberziehn: dennoch
kann er, wenn er sich besinnt, keine Aehnlichkeit angeben zwischen jenem
Tonspiel und den Dingen, die ihm vorschwebten. Denn
die Musik ist, wie gesagt, darin von allen andern Künsten verschieden, daß
sie nicht Abbild der Erscheinung, oder richtiger, der adäquaten Objektität
des Willens, sondern
unmittelbar Abbild des Willens selbst ist und
also zu allem Physischen der Welt das Metaphysische, zu
aller Erscheinung das Ding an sich darstellt. Man
könnte demnach die Welt eben so wohl verkörperte Musik, als verkörperten
Willen nennen: daraus
also ist es erklärlich, warum Musik jedes Gemälde, ja jede Scene
des wirklichen Lebens und der Welt, sogleich in erhöhter Bedeutsamkeit
hervortreten läßt; freilich
um so mehr, je analoger ihre Melodie dem innern Geiste der gegebenen Erscheinung
ist. Hierauf
beruht es, daß man ein Gedicht als Gesang, oder
eine anschauliche Darstellung als Pantomime, oder
Beides als Oper der Musik unterlegen kann. Solche
einzelne Bilder des Menschenlebens, der allgemeinen Sprache der Musik untergelegt, sind
nie mit durchgängiger Nothwendigkeit ihr verbunden, oder entsprechend; sondern
sie stehn zu ihr nur im Verhältniß eines beliebigen Beispiels
zu einem allgemeinen Begriff: sie
stellen in der Bestimmtheit der Wirklichkeit Dasjenige dar, was die Musik
in der Allgemeinheit bloßer Form aussagt. Denn
die Melodien sind gewissermaaßen, gleich den allgemeinen Begriffen,
ein Abstraktum der Wirklichkeit. Diese
nämlich, also die Welt der einzelnen Dinge, liefert das Anschauliche,
das Besondere und Individuelle, den einzelnen Fall, sowohl
zur Allgemeinheit der Begriffe, als zur Allgemeinheit der Melodien, welche
beide Allgemeinheiten einander aber in gewisser Hinsicht entgegengesetzt
sind; indem
die Begriffe nur die allererst aus der Anschauung abstrahirten Formen,
gleichsam die abgezogene äußere Schaale der Dinge enthalten,
also ganz eigentlich Abstrakta sind; die
Musik hingegen den innersten aller Gestaltung vorhergängigen Kern,
oder das Herz der Dinge giebt. Dies
Verhältniß ließe sich recht gut in der Sprache der Scholastiker
ausdrücken, indem man sagte: die
Begriffe sind die universalia post rem, die
Musik aber giebt die universalia ante rem, und
die Wirklichkeit die universalia in re. Dem
allgemeinen Sinn der einer Dichtung beigegebenen Melodie könnten noch
andere, eben so beliebig gewählte Beispiele des in ihr ausgedrückten
Allgemeinen in gleichem Grade entsprechen: daher
paßt die selbe Komposition zu vielen Strophen, daher
auch das Vaudeville. Daß
aber überhaupt eine Beziehung zwischen einer Komposition und einer
anschaulichen Darstellung möglich ist, beruht, wie gesagt, darauf, daß
Beide nur ganz verschiedene Ausdrücke des selben innern Wesens der
Welt sind. Wann
nun im einzelnen Fall eine solche Beziehung wirklich vorhanden ist, also
der Komponist die Willensregungen, welche den Kern einer Begebenheit ausmachen,
in der allgemeinen Sprache der Musik auszusprechen gewußt hat: dann
ist die Melodie des Liedes, die Musik der Oper ausdrucksvoll. Die
vom Komponisten aufgefundene Analogie zwischen jenen Beiden muß
aber aus der unmittelbaren Erkenntniß des Wesens der Welt, seiner
Vernunft unbewußt, hervorgegangen und
darf nicht, mit bewußter Absichtlichkeit, durch Begriffe vermittelte
Nachahmung seyn: sonst
spricht die Musik nicht das innere Wesen, den Willen selbst aus; sondern
ahmt nur seine Erscheinung ungenügend nach; wie
dies alle eigentlich nachbildende Musik thut, z.B.
»Die Jahreszeiten« von Haydn, auch
seine Schöpfung in vielen Stellen, wo Erscheinungen der anschaulichen
Welt unmittelbar nachgeahmt sind; so
auch in allen Bataillenstücken: welches
gänzlich zu verwerfen ist. Das
unaussprechlich Innige aller Musik, vermöge dessen sie als ein so
ganz vertrautes und doch ewig fernes Paradies an uns vorüberzieht,
so ganz verständlich und doch so unerklärlich ist, beruht
darauf, daß sie alle Regungen unsers innersten Wesens wiedergiebt, aber
ganz ohne die Wirklichkeit und fern von ihrer Quaal. Imgleichen
ist der ihr wesentliche Ernst, welcher das Lächerliche aus ihrem unmittelbar
eigenen Gebiet ganz ausschließt, daraus zu erklären,
daß ihr Objekt nicht die Vorstellung ist,
in Hinsicht auf welche Täuschung und Lächerlichkeit allein möglich
sind;
sondern ihr Objekt unmittelbar der Wille ist
und dieser wesentlich das Allerernsteste, als wovon Alles abhängt.
– Wie
inhaltsreich und bedeutungsvoll ihre Sprache sei,
bezeugen sogar die Repetitionszeichen, nebst dem Da capo,
als welche bei Werken in der Wortsprache unerträglich wären,
bei jener hingegen sehr zweckmäßig und wohlthuend sind: denn
um es ganz zu fassen, muß man es zwei Mal hören. Wenn
ich nun in dieser ganzen Darstellung der Musik bemüht gewesen bin,
deutlich zu machen,
daß sie in einer höchst allgemeinen Sprache das innere Wesen,
das Ansich der Welt,
welches wir, nach seiner deutlichsten Aeußerung, unter dem Begriff
Willen denken,
ausspricht,
in einem einartigen Stoff, nämlich bloßen Tönen,
und mit der größten Bestimmtheit und Wahrheit; wenn
ferner, meiner Ansicht und Bestrebung nach,
die Philosophie nichts Anderes ist,
als eine vollständige und richtige Wiederholung und Aussprechung des
Wesens der Welt,
in sehr allgemeinen Begriffen,
da nur in solchen
eine überall ausreichende und anwendbare Uebersicht jenes ganzen Wesens
möglich ist; so
wird wer mir gefolgt und in meine Denkungsart eingegangen ist,
es nicht so sehr paradox finden, wenn ich sage,
daß gesetzt es gelänge
eine vollkommen richtige, vollständige und in das Einzelne gehende
Erklärung der Musik,
also eine ausführliche Wiederholung dessen was sie ausdrückt
in Begriffen zu geben,
diese sofort auch eine genügende Wiederholung und Erklärung der
Welt in Begriffen,
oder einer solchen ganz gleichlautend,
also die wahre Philosophie seyn würde,
und daß wir folglich den oben angeführten Ausspruch Leibnitzens,
der auf einem niedrigeren Standpunkt ganz richtig ist,
im Sinn unserer höheren Ansicht der Musik folgendermaaßen parodiren
können:
Musica est exercitium metaphysices occultum nescientis se philosophari
animi. Denn
scire,
wissen, heißt
überall
in abstrakte Begriffe abgesetzt haben. Da
nun aber ferner, vermöge der vielfältig bestätigten Wahrheit
des Leibnitzischen Ausspruchs,
die Musik, abgesehn von ihrer ästhetischen oder innern Bedeutung,
und bloß äußerlich und rein empirisch betrachtet,
nichts Anderes ist, als das Mittel,
größere Zahlen und zusammengesetztere Zahlenverhältnisse,
die wir sonst nur mittelbar, durch Auffassung in Begriffen, erkennen können,
unmittelbar und in concreto aufzufassen; so
können wir nun
durch Vereinigung jener beiden so verschiedenen und doch richtigen Ansichten
der Musik, uns
einen Begriff von der Möglichkeit einer Zahlenphilosophie machen,
dergleichen die des Pythagoras und auch die der Chinesen im Y-king war, und
sodann nach diesem Sinn jenen Spruch der Pythagoreer deuten,
welchen Sextus Empirikus (adv. Math. L. VII) anführt:
tô arithmô de ta pant' epeoiken
(numero cuncta assimilantur).
Und wenn wir endlich diese Ansicht an unsere obige Deutung der Harmonie
und Melodie bringen, so
werden wir eine bloße Moralphilosophie ohne Erklärung der Natur,
wie sie Sokrates einführen wollte, einer
Melodie ohne Harmonie,
welche Rousseau ausschließlich wollte, ganz
analog finden, und
im Gegensatz hievon wird eine bloße Physik und Metaphysik ohne Ethik
einer bloßen Harmonie ohne Melodie entsprechen.
– An
diese beiläufigen Betrachtungen sei es mir vergönnt,
noch einige die Analogie der Musik mit der erscheinenden Welt betreffende
Bemerkungen zu knüpfen. Wir
fanden im vorigen Buche,
daß die höchste Stufe der Objektivation des Willens, der Mensch,
nicht allein und abgerissen erscheinen konnte,
sondern die unter ihm stehenden Stufen
und diese immer wieder die tieferen
voraussetzten: eben
so nun ist die Musik, welche,
eben wie die Welt, den
Willen unmittelbar objektivirt,
erst vollkommen in
der vollständigen Harmonie. Die
hohe leitende Stimme der Melodie bedarf,
um ihren ganzen Eindruck zu machen, der
Begleitung aller andern Stimmen, bis zum tiefsten Baß,
welcher als der Ursprung aller anzusehn ist: die
Melodie greift selbst als integrirender Theil in die Harmonie ein,
wie auch diese in jene: und
wie nur so, im vollstimmigen Ganzen, die Musik ausspricht,
was sie auszusprechen bezweckt, so
findet der eine und außerzeitliche Wille seine vollkommene Objektivation
nur in der vollständigen Vereinigung aller der Stufen,
welche in unzähligen Graden gesteigerter Deutlichkeit sein Wesen offenbaren.
– Sehr
merkwürdig ist noch folgende Analogie. Wir
haben im vorigen Buche gesehn, daß,
ungeachtet des Sichanpassens aller Willenserscheinungen zu einander,
in Hinsicht auf die Arten, welches die teleologische Betrachtung veranlaßt, dennoch
ein nicht aufzuhebender Widerstreit zwischen jenen Erscheinungen als Individuen
bleibt,
auf allen Stufen derselben sichtbar ist
und die Welt zu einem beständigen Kampfplatz
aller jener Erscheinungen des einen und selben Willens macht,
dessen innerer Widerspruch mit sich selbst dadurch sichtbar wird. Auch
diesem sogar ist etwas Entsprechendes in der Musik. Nämlich
ein vollkommen reines harmonisches System der Töne
ist nicht nur physisch, sondern sogar schon arithmetisch unmöglich. Die
Zahlen selbst, durch welche die Töne sich ausdrücken lassen,
haben unauflösbare Irrationalitäten: keine
Skala läßt sich auch nur ausrechnen,
innerhalb welcher jede Quinte sich zum Grundton verhielte wie 2 zu 3,
jede große Terz wie 4 zu 5,
jede kleine Terz wie 5 zu 6 u.s.w. Denn,
sind die Töne zum Grundton richtig,
so sind sie es nicht mehr zu einander; indem
ja z.B. die Quinte die kleine Terz der Terz seyn müßte, u.s.w.:
denn die Töne der Skala sind Schauspielern zu vergleichen,
welche bald diese, bald jene Rolle zu spielen haben. Daher
also läßt eine vollkommen richtige Musik sich nicht ein Mal
denken, geschweige ausführen; und
dieserhalb weicht jede mögliche Musik von der vollkommenen Reinheit
ab:
sie kann bloß die ihr wesentlichen Dissonanzen,
durch Vertheilung derselben an alle Töne, d.i. durch Temperatur,
verstecken. Man
sehe hierüber Chladni's »Akustik«, § 30,
und dessen »Kurze Uebersicht der Schall- und Klanglehre«, S.
12.74 Ich
hätte noch manches hinzuzufügen über die Art, wie Musik
percipirt wird,
nämlich einzig und allein in und durch die Zeit,
mit gänzlicher Ausschließung des Raumes,
auch ohne Einfluß der Erkenntniß der Kausalität, also
des Verstandes: denn
die Töne machen schon als Wirkung
und ohne daß wir auf ihre Ursache, wie bei der Anschauung, zurückgiengen,
den ästhetischen Eindruck. – Ich
will indessen diese Betrachtungen nicht noch mehr verlängern,
da ich vielleicht schon so in diesem dritten Buche Manchem zu ausführlich
gewesen bin,
oder mich zu sehr auf das Einzelne eingelassen habe. Mein
Zweck machte es jedoch nöthig,
und man wird es um so weniger mißbilligen,
wenn man die selten genugsam erkannte Wichtigkeit
und den hohen Werth der Kunst sich vergegenwärtigt, erwägend,
daß
wenn, nach unserer Ansicht, die gesammte sichtbare Welt
nur die Objektivation, der Spiegel des Willens ist,
zu seiner Selbsterkenntniß, ja, wie wir bald sehn werden,
zur Möglichkeit seiner Erlösung,
ihn begleitend; und
zugleich, daß die Welt als Vorstellung,
wenn man sie abgesondert betrachtet,
indem man vom Wollen losgerissen, nur sie allein das Bewußtseyn einnehmen
läßt, die
erfreulichste und die allein unschuldige Seite des Lebens ist; – wir
die Kunst als die höhere Steigerung,
die vollkommenere Entwickelung von allen Diesem anzusehn haben, da
sie wesentlich eben das Selbe, nur koncentrirter, vollendeter, mit Absicht
und Besonnenheit leistet,
was die sichtbare Welt selbst, und
sie daher, im vollen Sinne des Wortes, die Blüthe des Lebens genannt
werden mag.
Ist die ganze Welt als Vorstellung nur die Sichtbarkeit des Willens, so
ist die Kunst die Verdeutlichung dieser Sichtbarkeit, die Camera obscura,
welche die Gegenstände reiner zeigt und besser übersehn und zusammenfassen
läßt, das
Schauspiel im Schauspiel,
die Bühne auf der Bühne im »Hamlet«. Der
Genuß alles Schönen, der Trost, den die Kunst gewährt, der
Enthusiasmus des Künstlers, welcher ihn die Mühen des Lebens
vergessen läßt, dieser
eine Vorzug des Genius vor den Ändern, der
ihn für das mit der Klarheit des Bewußtseyns in gleichem Maaße
gesteigerte Leiden
und für die öde Einsamkeit unter einem heterogenen Geschlechte
allein entschädigt, – dieses
Alles beruht darauf,
daß, wie sich uns weiterhin zeigen wird, das Ansich des Lebens, der
Wille, das Daseyn selbst,
ein stetes Leiden
und theils jämmerlich, theils schrecklich ist; dasselbe
hingegen als Vorstellung allein, rein angeschaut,
oder durch die Kunst wiederholt,
frei von Quaal,
ein bedeutsames Schauspiel gewährt. Diese
rein erkennbare Seite der Welt
und die Wiederholung derselben in irgend einer Kunst ist
das Element des Künstlers. Ihn
fesselt die Betrachtung des Schauspiels
der Objektivation des Willens: bei
demselben bleibt er stehn, wird nicht müde es zu betrachten
und darstellend zu wiederholen,
und trägt derweilen selbst die Kosten der Aufführung jenes Schauspiels,
d.h. ist ja selbst der Wille, der sich also objektivirt und
in stetem Leiden bleibt. Jene
reine, wahre und tiefe Erkenntniß des Wesens der Welt
wird ihm nun Zweck an sich: er
bleibt bei ihr stehn. Daher
wird sie ihm nicht,
wie wir es im folgenden Buche bei dem zur Resignation gelangten Heiligen
sehn werden, Quietiv
des Willens,
erlöst ihn nicht auf immer,
sondern nur auf Augenblicke
vom Leben, und
ist ihm so noch nicht der Weg aus demselben,
sondern nur einstweilen ein Trost in demselben;
bis seine dadurch gesteigerte Kraft, endlich des Spieles müde,
den Ernst ergreift. Als
Sinnbild dieses Ueberganges kann man die heilige Cäcilie von Raphael
betrachten. Zum
Ernst also wollen nun auch wir uns im folgenden Buche wenden.
Welt als Wille
und Vorstellung, 1.Band 4.Buch § 63, zitiert bei Nietzsche:
§
63 Wir
haben die zeitliche Gerechtigkeit, welche im Staat ihren Sitz hat, kennen
gelernt, als
vergeltend oder strafend,und gesehn, daß eine solche allein durch
die Rücksicht auf die Zukunft zur Gerechtigkeit wird;
da ohne solche Rücksicht alles Strafen und Vergelten eines Frevels
ohne Rechtfertigung bliebe,
ja, ein bloßes Hinzufügen eines zweiten Uebels zum Geschehenen
wäre,
ohne Sinn und Bedeutung. Ganz
anders aber ist es mit der ewigen Gerechtigkeit,
welche schon früher erwähnt wurde,
und welche nicht den Staat, sondern die Welt beherrscht,
nicht von menschlichen Einrichtungen abhängig,
nicht dem Zufall und der Täuschung unterworfen,
nicht unsicher, schwankend und irrend,
sondern unfehlbar, fest und sicher [436] ist. – Der
Begriff der Vergeltung schließt schon die Zeit in sich:
daher kann die ewige Gerechtigkeit keine vergeltende seyn,
kann also nicht, wie diese, Aufschub und Frist gestatten
und, nur mittelst der Zeit die schlimme That mit der schlimmen Folge ausgleichend,
der Zeit bedürfen um zu bestehn. Die
Strafe muß hier mit dem Vergehn so verbunden seyn, daß Beide
Eines sind.
Dokeite
pêdan t' adikêmat' eis theous Pteroisi,
kapeit' en Dios deltou ptychais Graphein
tin' auta, Zêna d' eisorônta nin Thnêtois
dikazein; Oud' ho pas [an] ouranos, Dios
graphontos tas brotôn hamartias, Exarkeseien,
oud' ekeinos an skopôn Pempein
hekastô zêmian;all' hê Dikê Entautha
pou stin engys, ei boulesth' horan.
Eurip.,
ap. Stob. Ecl., I, c. 4.
(Volare
pennis scelera ad aetherias domus Putatis,
illic in Jovis tabularia Scripto
referri; tum Jovem lectis super Sententiam
proferre? – sed mortalium Facinora
coeli, quantaquanta est, regia Nequit
tenere: nec legendis Juppiter Et
puniendis par est. Est tamen ultio, Et,
si intuemur, illa nos habitat prope.)
Daß
nun eine solche ewige Gerechtigkeit wirklich im Wesen der Welt liege,
wird aus unserm ganzen bisher entwickelten Gedanken
Dem, der diesen gefaßt hat,
bald vollkommen einleuchtend werden. [437] Die
Erscheinung, die Objektität des einen Willens zum Leben
ist die Welt, in aller Vielheit ihrer Theile und Gestalten. Das
Daseyn selbst und die Art des Daseyns, in der Gesammtheit, wie in jedem
Theil,
ist allein aus dem Willen. Er
ist frei, er ist allmächtig. In
jedem Dinge erscheint der Wille gerade so,
wie er sich selbst an sich und außer der Zeit bestimmt. Die
Welt ist nur der Spiegel dieses Wollens:
und alle Endlichkeit, alle Leiden, alle Quaalen, welche sie enthält,
gehören zum Ausdruck dessen, was er will,
sind so, weil er so will. Mit
dem strengsten Rechte trägt sonach jedes Wesen das Daseyn überhaupt, sodann
das Daseyn seiner Art und seiner eigenthümlichen Individualität,
ganz wie sie ist
und unter Umgebungen wie sie sind,
in einer Welt so wie sie ist,
vom Zufall und vom Irrthum beherrscht,
zeitlich, vergänglich, stets leidend: und
in allem was ihm widerfährt, ja nur widerfahren kann,
geschieht ihm immer Recht. Denn
sein ist der Wille:
und wie der Wille ist, so ist die Welt. Die
Verantwortlichkeit für das Daseyn und die Beschaffenheit dieser Welt
kann nur sie selbst tragen,
kein Anderer; denn
wie hätte er sie auf sich nehmen mögen? – Will
man wissen, was die Menschen, moralisch betrachtet, im Ganzen und Allgemeinen
werth sind;
so betrachte man ihr Schicksal, im Ganzen und Allgemeinen. Dieses
ist Mangel, Elend, Jammer, Quaal und Tod. Die
ewige Gerechtigkeit waltet: wären
sie nicht, im Ganzen genommen, nichtswürdig;
so würde ihr Schicksal, im Ganzen genommen, nicht so traurig seyn. In
diesem Sinne können wir sagen:
die Welt selbst ist das Weltgericht. Könnte
man allen Jammer der Welt in eine Waagschaale legen,
und alle Schuld der Welt in die andere; so
würde gewiß die Zunge einstehn. Freilich
aber stellt sich der Erkenntniß,
so wie sie, dem Willen zu seinem Dienst entsprossen,
dem Individuo als solchem wird, die
Welt nicht so dar, wie sie dem Forscher zuletzt sich enthüllt,
als die Objektität des einen und alleinigen Willens zum Leben,
der er selbst ist; sondern
den Blick des rohen Individuums trübt, wie die Inder sagen,
der Schleier der Maja: ihm
zeigt sich, statt des Dinges an sich, nur die Erscheinung,
in Zeit und Raum, dem principio individuationis,
und in den übrigen Gestaltungen des Satzes vom Grunde: und
in dieser Form seiner beschränkten Erkenntniß sieht er nicht
das Wesen der Dinge,
welches Eines ist, sondern
dessen Erscheinungen,
als gesondert, getrennt, unzählbar, sehr verschieden, ja entgegengesetzt. Da
erscheint ihm die [438] Wollust als Eines,
und die Quaal als ein ganz Anderes, dieser
Mensch als Peiniger und Mörder,
jener als Dulder und Opfer, das
Böse als Eines und das Uebel als ein Anderes. Er
sieht den Einen in Freuden, Ueberfluß und Wollüsten leben,
und zugleich vor dessen Thüre den Andern durch Mangel und Kälte
quaalvoll sterben. Dann
fragt er: wo bleibt die Vergeltung? Und
er selbst,
im heftigen Willensdrange, der sein Ursprung und sein Wesen ist, ergreift
die Wollüste und Genüsse des Lebens, hält
sie umklammert fest, und
weiß nicht,
daß er durch eben diesen Akt seines Willens,
alle die Schmerzen und Quaalen des Lebens,
vor deren Anblick er schaudert,
ergreift und fest an sich drückt. Er
sieht das Uebel,
er sieht das Böse in der Welt; aber
weit entfernt zu erkennen,
daß Beide nur verschiedene Seiten der Erscheinung des einen Willens
zum Leben sind,
hält er sie für sehr verschieden, ja ganz entgegengesetzt,
und sucht oft durch das Böse,
d.h. durch Verursachung des fremden Leidens,
dem Uebel, dem Leiden des eigenen Individuums, zu entgehn,
befangen im principio individuationis,
getäuscht durch den Schleier der Maja. – Denn, Wie
auf dem tobenden Meere,
oder
die Weise wie das Individuum die Dinge erkennt, als Erscheinung. Die
unbegränzte Welt,
voll Leiden überall, in unendlicher Vergangenheit, in unendlicher
Zukunft, ist
ihm fremd, ja ist ihm ein Mährchen: seine
verschwindende Person,
seine ausdehnungslose Gegenwart,
sein augenblickliches Behagen,
dies allein hat Wirklichkeit für ihn: und
dies zu erhalten, thut er Alles,
solange nicht eine bessere Erkenntniß ihm die Augen öffnet. Bis
dahin lebt bloß in der Innersten Tiefe seines Bewußtseins die
ganz dunkle Ahndung,
daß ihm jenes Alles doch wohl eigentlich so fremd nicht ist,
sondern einen Zusammenhang mit ihm hat,
vor welchem das principium individuationis ihn nicht schützen kann. Aus
dieser Ahndung stammt jenes so unvertilgbare
und allen Menschen (ja vielleicht selbst den klügeren Thieren)
gemeinsame Grausen,
das sie plötzlich ergreift,
wenn sie, durch irgend einen Zufall, irre werden am principio individuationis,
indem der Satz vom Grunde, in irgend einer seiner Gestaltungen,
eine Ausnahme zu erleiden scheint:
z.B. wenn es [439] scheint, daß irgend eine Veränderung ohne
Ursache vor sich gienge,
oder ein Gestorbener wieder dawäre,
oder sonst irgendwie das Vergangene oder das Zukünftige gegenwärtig,
oder das Ferne nah wäre. Das
ungeheure Entsetzen über so etwas gründet sich darauf,
daß sie plötzlich irre werden an den Erkenntnißformen
der Erscheinungen,
welche allein ihr eigenes Individuum von der übrigen Welt gesondert
halten. Diese
Sonderung aber eben liegt nur in der Erscheinung
und nicht im Dinge an sich: eben
darauf beruht die ewige Gerechtigkeit. – In
der That steht alles zeitliche Glück und wandelt alle Klugheit – auf
untergrabenem Boden, Sie
schützen die Person vor Unfällen und verschaffen ihr Genüsse; aber
die Person ist bloße Erscheinung, und
ihre Verschiedenheit von andern Individuen
und das Freisein von den Leiden, welche diese tragen, beruht
auf der Form der Erscheinung,
dem principio individuationis. Dem
wahren Wesen der Dinge nach
hat Jeder alle Leiden der Welt als die seinigen,
ja alle nur möglichen als für ihn wirklich zu betrachten,
solange er der feste Wille zum Leben ist,
d.h. mit aller Kraft das Leben bejaht. Für
die das principium individuationis durchschauende Erkenntniß
ist ein glückliches Leben in der Zeit,
vom Zufall geschenkt, oder ihm durch Klugheit abgewonnen,
mitten unter den Leiden unzähliger Andern, –
doch nur der Traum eines Bettlers, in welchem er ein König ist,
aber aus dem er erwachen muß, um zu erfahren,
daß nur eine flüchtige Täuschung ihn von dem Leiden seines
Lebens getrennt hatte. Dem
in der Erkenntniß, welche dem Satz vom Grunde folgt,
in dem principio individuationis, befangenen Blick entzieht
sich die ewige Gerechtigkeit: er
vermißt sie ganz, wenn er nicht etwan sie durch Fiktionen rettet. Er
sieht den Bösen, nach Unthaten und Grausamkeiten aller Art,
in Freuden leben und unangefochten aus der Welt gehn. Er
sieht den Unterdrückten ein Leben voll Leiden bis an's Ende schleppen,
ohne daß sich ein Rächer, ein Vergelter zeigte. Aber
die ewige Gerechtigkeit wird nur Der begreifen und fassen,
der über jene am Leitfaden des Satzes vom Grunde fortschreitende
und an die einzelnen Dinge gebundene Erkenntniß sich erhebt,
die Ideen erkennt,
das principium individuationis durchschaut,
und inne wird, daß dem Dinge an sich die Formen der Erscheinung nicht
zukommen. Dieser
ist es auch allein,
der, vermöge der selben Erkenntniß, das wahre Wesen der Tugend,
wie es im Zusammenhang mit der [440] gegenwärtigen Betrachtung sich
uns bald aufschließen wird,
verstehn kann; wiewohl
zur Ausübung derselben diese Erkenntniß in abstracto keineswegs
erfordert wird. Wer
also bis zu der besagten Erkenntniß gelangt ist,
dem wird es deutlich, daß,
weil der Wille das Ansich aller Erscheinung ist,
die über Andere verhängte und die selbsterfahrene Quaal,
das Böse und das Uebel,
immer nur jenes eine und selbe Wesen treffen; wenn
gleich die Erscheinungen, in welchen das Eine und das Andere sich darstellt,
als ganz verschiedene Individuen dastehn
und sogar durch ferne Zeiten und Räume getrennt sind. Er
sieht ein, daß die Verschiedenheit zwischen Dem, der das Leiden verhängt,
und Dem, welcher es dulden muß, nur
Phänomen ist und nicht das Ding an sich trifft,
welches der in Beiden lebende Wille ist, der
hier, durch die an seinen Dienst gebundene Erkenntniß getäuscht,
sich selbst verkennt,
in einer seiner Erscheinungen gesteigertes Wohlseyn suchend,
in der andern großes Leiden hervorbringt und
so, im heftigen Drange, die Zähne in sein eigenes Fleisch schlägt,
nicht wissend, daß er immer nur sich selbst verletzt,
dergestalt, durch das Medium der Individuation,
den Widerstreit mit sich selbst offenbarend, welchen er in seinem Innern
trägt. Der
Quäler und der Gequälte sind Eines. Jener
irrt, indem er sich der Quaal,
dieser, indem er sich der Schuld nicht theilhaft glaubt. Giengen
ihnen Beiden die Augen auf,
so würde der das Leid verhängt erkennen,
daß er in Allem lebt, was auf der weiten Welt Quaal leidet
und, wenn mit Vernunft begabt, vergeblich nachsinnt,
warum es zu so großem Leiden, dessen Verschuldung es nicht einsieht,
ins Daseyn gerufen ward:
und der Gequälte würde einsehn,
daß alles Böse, das auf der Welt verübt wird, oder je ward,
aus jenem Willen fließt, der auch sein Wesen ausmacht,
auch in ihm erscheint
und er durch diese Erscheinung und ihre Bejahung alle Leiden auf sich genommen
hat,
die aus solchem Willen hervorgehn
und sie mit Recht erduldet,
so lange er dieser Wille ist. – Aus
dieser Erkenntniß spricht der ahndungsvolle Dichter Calderon im »Leben
ein Traum«: Pues
el delito mayor Del hombre es haber nacido. (Denn
die größte Schuld des Menschen Ist, daß er geboren ward.)
[441] Wie
sollte es nicht eine Schuld seyn, da nach einem ewigen Gesetze der Tod
darauf steht? Calderon
hat auch nur das Christliche Dogma von der Erbsünde durch jenen Vers
ausgesprochen. Die
lebendige Erkenntniß der ewigen Gerechtigkeit,
des Waagebalkens, der das malum culpae mit dem malo poenae unzertrennlich
verbindet, erfordert
gänzliche Erhebung über die Individualität und das Princip
ihrer Möglichkeit: sie
wird daher,
wie auch die ihr verwandte und sogleich zu erörternde
reine und deutliche Erkenntniß des Wesens aller Tugend, der
Mehrzahl der Menschen stets unzugänglich bleiben. – Daher
haben die weisen Urväter des Indischen Volkes sie zwar in den,
den drei wiedergeborenen Kasten allein erlaubten Veden,
oder in der esoterischen Weisheitslehre, direkt,
so weit nämlich Begriff und Sprache es fassen
und ihre immer noch bildliche, auch rhapsodische Darstellungsweise es zuläßt,
ausgesprochen; aber
in der Volksreligion, oder exoterischen Lehre, nur mythisch mitgetheilt. Die
direkte Darstellung finden wir in den Veden,
der Frucht der höchsten menschlichen Erkenntniß und Weisheit,
deren Kern in den Upanischaden
uns,
als das größte Geschenk dieses Jahrhunderts,
endlich zugekommen ist, auf
mancherlei Weise ausgedrückt,
besonders aber dadurch, daß
vor den Blick des Lehrlings alle Wesen der Welt, lebende und leblose,
der Reihe nach vorübergeführt werden
und über jedes derselben jenes zur Formel gewordene
und als solche die Mahavakya genannte Wort ausgesprochen wird:
Dem
Volke aber wurde jene große Wahrheit,
so weit es, in seiner Beschränktheit, sie fassen konnte, in
die Erkenntnißweise, welche dem Satz vom Grunde folgt, übersetzt,
die zwar, ihrem Wesen nach, jene Wahrheit rein und an sich durchaus nicht
aufnehmen kann,
sogar im geraden Widerspruch mit ihr steht,
allein in der Form des Mythos ein Surrogat derselben empfieng,
welches als Regulativ für das Handeln hinreichend war,
indem es die ethische Bedeutung desselben,
in der dieser selbst ewig fremden Erkenntnißweise gemäß
dem Satz vom Grunde,
doch durch bildliche Darstellung faßlich macht; welches
der Zweck aller Glaubenslehren [442] ist, indem sie sämmtlich
mythische Einkleidungen der dem rohen Menschensinn unzugänglichen
Wahrheit sind. Auch
könnte in diesem Sinne jener Mythos, in Kants Sprache,
ein Postulat der praktischen Vernunft genannt werden: als
ein solches betrachtet aber hat er den großen Vorzug,
gar keine Elemente zu enthalten,
als die im Reiche der Wirklichkeit vor unsern Augen liegen,
und daher alle seine Begriffe mit Anschauungen belegen zu können. Das
hier Gemeinte ist der Mythos von der Seelenwanderung. Er
lehrt, daß alle Leiden, welche man im Leben über andere Wesen
verhängt,
in einem folgenden Leben auf eben dieser Welt, genau
durch die selben Leiden wieder abgebüßt werden müssen; welches
so weit geht, daß wer nur ein Thier tödtet,
einst in der unendlichen Zelt auch als eben ein solches Thier geboren werden
und den selben Tod erleiden wird. Er
lehrt, daß böser Wandel
ein künftiges Leben, auf dieser Welt, in leidenden und verachteten
Wesen nach sich zieht, daß
man demgemäß sodann wieder geboren wird
In niedrigeren Kasten, oder als Weib, oder als Thier,
als Paria oder Tschandala, als Aussätziger, als Krokodil u.s.w. Alle
Quaalen, die der Mythos droht, belegt er mit Anschauungen aus der wirklichen
Welt,
durch leidende Wesen, welche auch nicht wissen, wie sie ihre Quaal verschuldet
haben,
und er braucht keine andere Hölle zu Hülfe zu nehmen. Als
Belohnung aber verheißt er dagegen Wiedergeburt in besseren, edleren
Gestalten,
als Brahmane, als Weiser, als Heiliger. Die
höchste Belohnung, welche der edelsten Thaten und der völligen
Resignation wartet,
welche auch dem Weibe wird,
das in sieben Leben hinter einander freiwillig auf dem Scheiterhaufen des
Gatten starb,
nicht weniger auch dem Menschen,
dessen reiner Mund nie eine einzige Lüge gesprochen hat, diese
Belohnung kann der Mythos in der Sprache dieser Welt nur negativ ausdrücken,
durch die so oft vorkommende Verheißung, gar nicht mehr wiedergeboren
zu werden:
non adsumes iterum existentiam apparentem: oder
wie die Buddhaisten, welche weder Veda noch Kasten gelten lassen, es ausdrücken:
»Du sollst Nirwana erlangen,
d.i. einen Zustand, in welchem es vier Dinge nicht giebt:
Geburt, Alter, Krankheit und Tod.« Nie
hat ein Mythos
und nie wird einer sich der so Wenigen zugänglichen, philosophischen
Wahrheit enger anschließen, als
[443] diese uralte Lehre des edelsten und ältesten Volkes,
bei welchem sie, so entartet es auch jetzt in vielen Stücken ist,
doch noch als allgemeiner Volksglaube herrscht
und auf das Leben entschiedenen Einfluß hat,
heute so gut, wie vor vier Jahrtausenden. Jenes
non plus ultra mythischer Darstellung
haben daher schon Pythagoras
und Plato
mit Bewunderung aufgefaßt,
von Indien, oder Aegypten, herübergenommen, verehrt, angewandt
und, wir wissen nicht wie weit, selbst geglaubt. – Wir
hingegen schicken nunmehr den Brahmanen Englische clergymen und Herrnhuterische
Leinweber,
um sie aus Mitleid eines bessern zu belehren
und ihnen zu bedeuten, daß sie aus Nichts gemacht sind
und sich dankbarlich darüber freuen sollen. Aber
uns widerfährt was Dem, der eine Kugel gegen einen Felsen abschießt. In
Indien fassen unsere Religionen nie und nimmermehr Wurzel:
die Urweisheit des Menschengeschlechts
wird nicht von den Begebenheiten in Galiläa verdrängt werden. Hingegen
ströhmt Indische Weisheit nach Europa zurück
und wird eine Grundveränderung in unserm Wissen und Denken hervorbringen.