Einleitende Voranmerkung
(Hans Zimmermann) und vollständiger Text
(Ausgabe B)
Anhang:
Leserbrief zum SPIEGEL-Interview mit Brian Greene über die Raumzeit
und den big bang
Kants Erkenntnistheorie
ist auch heute noch "unerhört": Seine Beweise der transzendentalen
Idealität des Raumes und der Zeit (als "reiner Anschauungsformen")
sind kaum ins allgemeine Weltverständnis gedrungen; sie fordern noch
immer die philosophische Durcharbeitung unserer Gesamterfahrung heraus:
Ist es denn denkbar, vorstellbar, nachvollziehbar, daß all das, was
uns durch die Kanäle der Sinne reizt und von uns begrifflich als "Dinge,
Ereignisse, Weltzusammenhänge" interpretiert wird – daß eben
all das, was wir als Wirklichkeit verstehen – uns nur räumlich
erscheint, aber gar keine von uns unabhängige eigene Räumlichkeit
hat? Und daß all das, was unsere Binnengespräche mit Empfindung
füllt, sein zeitliches Nacheinander erst in der Selbst-Auseinandersetzung
des Bewußtseins erhält, in der einen Dimension des inneren Sinns?
Ganz fremd ist uns der Gedanke
allerdings nicht mehr, seit wir Bilder und Musik auf Träger konzentrieren
können, eindimensional digitalisiert, und die wiederum mehrdimensionale
Projektion und Wiederverzeitlichung der zuvor ins Extrem der binären
Bitfolgen abstrahierten "Daten" nachvollziehen können. Leichthin erklären
wir das Gehirn zum Rechner, der die Myriaden Daten, mit denen ihn die Sinnesrezeptoren
gefüttert haben, wie ein DVD-Spieler verräumlicht und verzeitlicht;
nur daß Gehirne selbst vor dem Auge jedes äußeren Betrachters
1. Dinge der Raumwelt sind
(also den Raum voraussetzen und selbst zur Erscheinungswelt gehören)
und
2. dem äußeren
Betrachter keinen Gedanken und keine Empfindungen aufdecken, die ihre Bahnen
durchkreuzen (das nennt man die "absolute Privatheit" der Empfindungen
und aller Bewußtseinsregungen überhaupt, z.B. auch der Erinnerungen:
Sie sind nicht eigentlich mitteilbar oder austauschbar; sie bilden die
Eigenwelt, den "Weltinnenraum" des Individuums).
Gewiß enthält das,
was dem äußeren Betrachter als Gehirn erscheint, in seiner (unter
dem Erscheinungsbild) verborgenen Eigenwirklichkeit das Organ, das die
empfangenen Daten selektiert, interpretiert und zu einer ganzen sinnlichen,
räumlichen und zeitlichen Welt entfaltet; (und damit zugleich eine
Intelligenz, die unsere individuelle weit übersteigt).
Wir denken, empfinden, bewegen
uns mittels des Gehirns, nehmen es selbst dabei aber nicht wahr, so wie
sich das Auge auch nicht selbst sieht, es sei denn, man schaut in einen
Spiegel. Beim Blick in den Spiegel sieht man eben diesen selbst kaum (wenn
er klar ist); eben auch so könnte man das Gehirn als leiblichen Individualisierungs-Spiegel
des Bewußtseins ansehen, zumindest als dessen Medium (wie die Sinnesorgane
Medium bzw. Kanal der Wahrnehmungen sind). Das Gehirn denkt so wenig, wie
das Auge selbst sieht oder das Ohr hört.
Kant spricht also nicht
vom Gehirn, wenn er die Wurzelbedingungen unseres Bewußtseins aufzeigt
(und braucht deshalb nicht auf das uns erscheinende Objekt namens "Gehirn"
Bezug zu nehmen), sondern von apriorischen Voraussetzungen aller Erfahrung.
Immer, wenn etwas nicht weggedacht werden kann und für alle Erfahrung
ohne Ausnahme gilt, zeigt sich die entsprechende Instanz als "a priori",
als Voraussetzung aller Erfahrung, als organhafte Binnenstruktur unsereres
Bewußtseins, durch die Erfahrung erst möglich wird. Das Subjekt
strahlt gewissermaßen reine Objektivität (allgemeingültig
für alle Objekte) aus, die einzelnen Erfahrungs-Objekte dagegen sind
bloß subjektiv, jeweilig, situationsbedingt.
In diesem "objektivierenden"
Subjekt, unter den nicht wegdenkbaren Bewußtseinsstrukturen, finden
sich z.B. Raum und Zeit: Etwas in uns verräumlicht alle äußeren
und verzeitlicht überhaupt alle sinnlichen Daten; dieses Etwas nennt
Kant "reine Anschauungsformen". Ihre Allgemeingültigkeit und Erfahrungsunabhängigkeit
zeigt sich in Geometrie und Arithmetik (so ja schon seit Platons
"Menon", wo der apriorische Charakter, die innere "Längst-Vorhandenheit"
der Ideen gerade mittels eines geometrischen Beispiels bewiesen wird).
Sie sind aber keine Allgemeinbegriffe (wie die gleichfalls unwegdenkbaren
Kategorien); ihr Anschauungs-Charakter zeigt sich in ihrer allumfassenden
Einzigkeit und darin, daß sie die kontinuierliche Matrix aller sinnlichen
Anschauung bilden, gewissermaßen ihren Hintergrund, ihren Projektionsschirm.
Womit wir wieder bei der Analogie mit moderneren Informationsverarbeitungs-Apparaten
gelandet wären...
Hinzugefügt zu den
Beweisen der transzendentalen Idealität von Raum und Zeit habe ich
noch die vier Antinomien aus der Kritik der reinen Vernunft, da sie die
Unendlichkeit von Raum und Zeit wieder aufgreifen,
vier Paare einander jeweils
widersprechender Beweise:
Vermittelst des äußeren
Sinnes, (einer Eigenschaft unseres Gemüts), stellen wir uns Gegenstände
als außer uns und diese insgesamt im Raume vor. Darinnen ist ihre
Gestalt, Größe und Verhältnis gegeneinander bestimmt, oder
bestimmbar. Der innere Sinn, vermittelst dessen das Gemüt sich selbst,
oder seinen inneren Zustand anschaut, gibt zwar keine Anschauung von der
Seele selbst, als einem Objekt; allein es ist doch eine bestimmte Form,
unter der die Anschauung ihres inneren Zustandes allein möglich ist,
so daß alles, was zu den inneren Bestimmungen gehört, in Verhältnissen
der Zeit vorgestellt wird. Äußerlich kann die Zeit nicht angeschaut
werden, so wenig wie der Raum als als etwas in uns. Was sind nun Raum und
Zeit? Sind es wirkliche Wesen? Sind es zwar nur Bestimmungen, oder auch
Verhältnisse der Dinge, aber doch solche, welche ihnen auch an sich
zukommen würden, wenn sie auch nicht angeschaut würden, oder
sind sie solche, die nur an der Form der Anschauung allein haften, und
mithin an (B 38) der subjektiven Beschaffenheit
unseres Gemüts, ohne welche diese Prädikate gar keinem Dinge
beigelegt werden können? Um uns hierüber zu belehren, wollen
wir zuerst den Begriff des Raumes erörtern. Ich verstehe aber unter
Erörterung (expositio) die deutliche (wenn gleich nicht ausführliche)
Vorstellung dessen, was zu einem Begriffe gehört; metaphysisch aber
ist die Erörterung, wenn sie dasjenige enthält, was den Begriff
als a priori gegeben darstellt.
1. Der Raum ist kein
empirischer Begriff,
der von äußeren
Erfahrungen abgezogen worden. Denn damit gewisse Empfindungen
auf etwas außer mich bezogen werden,
(d. i. auf etwas in einem
anderen Orte des Raumes, als darinnen ich mich befinde),
imgleichen damit ich sie
als außer und nebeneinander,
mithin nicht bloß
verschieden,
sondern als in verschiedenen
Orten vorstellen könne,
dazu muß die Vorstellung
des Raumes schon zum Grunde liegen.
Demnach kann die Vorstellung
des Raumes
nicht aus den Verhältnissen
der äußeren Erscheinung durch Erfahrung erborgt sein,
sondern diese äußere
Erfahrung
ist selbst nur durch
gedachte Vorstellung allererst möglich.
2. Der Raum ist eine
notwendige Vorstellung a priori,
die allen äußeren
Anschauungen zum Grunde liegt. Man kann sich niemals
eine Vorstellung davon machen,
daß kein Raum sei,
ob man sich gleich ganz
wohl denken kann,
daß keine Gegenstände
darin(B
39)angetroffen
werden.
Er wird also als die Bedingung
der Möglichkeit der Erscheinungen,
und nicht als eine von
ihnen abhängende Bestimmung angesehen,
und ist eine Vorstellung
a priori,
die notwendigerweise
äußeren Erscheinungen zum Grunde liegt.
(folgender Abschnitt
3 nur in Ausgabe A von 1781:)
3. Auf diese Notwendigkeit
a priori
gründet sich die
apodiktische Gewißheit aller geometrischen Grundsätze
und die Möglichkeit
ihrer Konstruktionen a priori.
Wäre nämlich diese
Vorstellung des Raumes ein a posteriori erworbener Begriff,
der aus der allgemeinen
äußeren Erfahrung geschöpft wäre,
so würden die ersten
Grundsätze der mathematischen Bestimmung
nichts als Wahrnehmungen
sein.
Sie hätten also alle
Zufälligkeit der Wahrnehmung,
und es wäre eben
nicht notwendig,
daß zwischen zwei
Punkten nur eine gerade Linie sei,
sondern die Erfahrung
würde es so jederzeit lehren.
Was von der Erfahrung
entlehnt ist,
hat auch nur komparative
Allgemeinheit,
nämlich durch Induktion.
Man würde also nur sagen
können,
so viel zur Zeit noch
bemerkt worden,
ist kein Raum gefunden
worden, der mehr als drei Abmessungen hätte.
3. Der Raum ist kein
diskursiver oder, wie man sagt, allgemeiner Begriff
von Verhältnissen
der Dinge überhaupt,
sondern eine reine Anschauung.
Denn erstlich kann man
sich nur einen einigen Raum vorstellen,
und wenn man von vielen
Räumen redet,
so versteht man darunter
nur Teile eines und desselben alleinigen Raumes.
Diese Teile können auch
nicht vor dem einigen allbefassenden Raume
gleichsam als dessen
Bestandteile (daraus seine Zusammensetzung möglich sei) vorhergehen,
sondern nur in ihm gedacht
werden.
Er ist wesentlich einig;
das Mannigfaltige in
ihm, mithin auch der allgemeine Begriff von Räumen überhaupt,
beruht lediglich auf
Einschränkungen.
Hieraus folgt, daß
in Ansehung seiner eine Anschauung a priori (die nicht empirisch ist)
allen Begriffen von denselben
zum Grunde liegt.
So werden auch alle geometrischen
Grundsätze,
z. E. daß in einem
Triangel zwei Seiten zusammen größer sind, als die dritte,
niemals aus allgemeinen
Begriffen von Linie und Triangel,
sondern aus der Anschauung
und zwar a priori mit
apodiktischer Gewißheit abgeleitet.
4. Der Raum wird
als eine unendliche gegebene
Größe vorgestellt.
Nun muß man zwar
einen jeden(B 40)Begriff
als eine Vorstellung denken,
die in einer unendlichen
Menge von verschiedenen möglichen Vorstellungen
(als ihr gemeinschaftliches
Merkmal) enthalten ist,
mithin diese unter sich
enthalt;
aber kein Begriff, als ein
solcher, kann so gedacht werden,
als ob er eine unendliche
Menge von Vorstellungen in sich enthielte.
Gleichwohl wird der Raum
so gedacht
(denn alle Teile des
Raumes ins Unendliche sind zugleich).
Also ist die ursprüngliche
Vorstellung vom Raume Anschauung a priori,
und nicht Begriff.
§ 3
Transzendentale Erörterung des
Begriffs vom Raume
Ich verstehe unter einer
transzendentalen Erörterung die Erklärung eines Begriffes, als
eines Prinzips, woraus die Möglichkeit anderer synthetischer Erkenntnisse
a priori eingesehen werden kann. Zu dieser Absicht wird erfordert,
1) daß wirklich dergleichen
Erkenntnisse aus dem gegebenen Begriffe herfließen,
2) daß diese Erkenntnisse
nur unter der Voraussetzung einer gegebenen Erklärungsart dieses Begriffs
möglich sind.
Geometrie ist eine Wissenschaft,
welche die Eigenschaften des Raumes synthetisch und doch a priori bestimmt.
Was muß die Vorstellung des Raumes denn sein, damit eine solche Erkenntnis
von ihm möglich sei? Er muß ursprünglich Anschauung sein;
denn aus einem (B 41) bloßen
Begriffe lassen sich keine Satze, die über den Begriff hinausgehen,
ziehen, welches doch in der Geometrie geschieht (Einleitung V). Aber diese
Anschauung muß a priori, d. i. vor aller Wahrnehmung eines Gegenstandes,
in uns angetroffen werden, mithin reine, nicht empirische Anschauung sein.
Denn die geometrischen Sätze sind insgesamt apodiktisch, d. i. mit
dem Bewußtsein ihrer Notwendigkeit verbunden, z. B. der Raum hat
nur drei Abmessungen; dergleichen Sätze aber können nicht empirische
oder Erfahrungsurteile sein, noch aus ihnen geschlossen werden (Einleitung
II).
Wie kann nun eine äußere
Anschauung dem Gemüte beiwohnen, die vor den Objekten selbst vorhergeht,
und in welcher der Begriff der letzteren a priori bestimmt werden kann?
Offenbar nicht anders, als so fern sie bloß im Subjekte, als die
formale Beschaffenheit desselben, von Objekten affiziert zu werden, und
dadurch unmittelbare Vorstellung desselben d. i. Anschauung zu bekommen,
ihren Sitz hat, also nur als Form des äußeren Sinn es überhaupt.
Also macht allein unsere
Erklärung die Möglichkeit der Geometrie als einer synthetischen
Erkenntnis a priori begreiflich. Eine jede Erklärungsart, die dieses
nicht liefert, wenn sie gleich dem Anscheine nach mit ihr einige Ähnlichkeit
hätte, kann an diesen Kennzeichen am sichersten van ihr unterschieden
werden.
(B
42)
Schlüsse aus obigen Begriffen
a) Der Raum stellt
gar keine Eigenschaft irgend einiger Dinge an sich, oder sie in ihrem Verhältnis
auf einander vor, d. i. keine Bestimmung derselben, die an Gegenständen
selbst haftete, und welche bliebe, wenn man auch von allen subjektiven
Bedingungen der Anschauung abstrahierte. Denn weder absolute, noch relative
Bestimmungen können vor dem Dasein der Dinge, welchen sie zukommen,
mithin nicht a priori angeschaut werden.
b) Der Raum ist nichts anderes,
als nur die Form aller Erscheinungen äußerer Sinne, d. i. die
subjektive Bedingung der Sinnlichkeit, unter der allein uns äußere
Anschauung möglich ist. Weil nun die Rezeptivität des Subjekts,
von Gegenständen affiziert zu werden, notwendigerweise vor allen Anschauungen
dieser Objekte vorhergeht, so läßt sich verstehen, wie die Form
aller Erscheinungen vor allen wirklichen Wahrnehmungen, mithin a priori
im Gemüte gegeben sein könne, und wie sie als eine reine Anschauung,
in der alle Gegenstände bestimmt werden müssen, Prinzipien der
Verhältnisse derselben vor aller Erfahrung enthalten könne.
Wir können demnach
nur aus dem Standpunkte eines Menschen, vom Raum, von ausgedehnten Wesen
usw. reden. Gehen wir von der subjektiven Bedingung ab, unter welcher wir
allein äußere Anschauung bekommen können, so wie wir nämlich
von den Gegenständen affiziert werden mögen, so bedeutet die
Vorstellung vom (B 43) Raume gar nichts.
Dieses Prädikat wird den Dingen nur insofern beigelegt, als sie uns
erscheinen, d. i. Gegenstände der Sinnlichkeit sind. Die beständige
Form dieser Rezeptivität, welche wir Sinnlichkeit nennen, ist eine
notwendige Bedingung aller Verhältnisse, darinnen Gegenstände
als außer uns angeschaut werden, und, wenn man von diesen Gegenständen
abstrahiert, eine reine Anschauung, welche den Namen Raum führt. Weil
wir die besonderen Bedingungen der Sinnlichkeit nicht zu Bedingungen der
Möglichkeit der Sachen, sondern nur ihrer Erscheinungen machen können,
so können wir wohl sagen, daß der Raum alle Dinge befasse, die
uns äußerlich erscheinen mögen, aber nicht alle Dinge an
sich selbst, sie mögen nun angeschaut werden oder nicht, oder auch
von welchem Subjekt man wolle. Denn wir können von den Anschauungen
anderer denkenden Wesen gar nicht urteilen, ob sie an die nämlichen
Bedingungen gebunden seien, welche unsere Anschauung einschränken
und für uns allgemein gültig sind. Wenn wir die Einschränkung
eines Urteils zum Begriff des Subjekts hinzufügen, so gilt das Urteil
alsdann unbedingt. Der Satz: Alle Dinge sind nebeneinander im Raum, gilt
unter der Einschränkung, wenn diese Dinge als Gegenstände unserer
sinnlichen Anschauung genommen werden. Füge ich hier die Bedingung
zum Begriffe, und sage: Alle Dinge, als äußere Erscheinungen,
sind nebeneinander im Raum, so gilt diese Regel allgemein und ohne Einschränkung.
(B 44) Unsere Erörterungen lehren
demnach die Realität (d. i. die objektive Gültigkeit) des Raumes
in Ansehung alles dessen, was äußerlich als Gegenstand uns vorkommen
kann, aber zugleich die Idealität des Raumes in Ansehung der Dinge,
wenn sie durch die Vernunft an sich selbst erwogen werden, d. i. ohne Rücksicht
auf die Beschaffenheit unserer Sinnlichkeit zu nehmen. Wir behaupten also
die empirische Realität des Raumes (in Ansehung aller möglichen
äußeren Erfahrung), ob zwar die transzendentale Idealität
desselben, d. i. daß er nichts sei, sobald wir die Bedingung der
Möglichkeit aller Erfahrung weglassen, und ihn als etwas, was den
Dingen an sich selbst zum Grunde liegt, annehmen.
Es gibt aber auch außer
dem Raum keine andere subjektive und auf etwas Äußeres bezogene
Vorstellung, die a priori objektiv heißen könnte. Denn man kann
von keiner derselben synthetische Sätze a priori, wie von der Anschauung
im Raume, herleiten § 3. Daher ihnen, genau zu reden, gar keine Idealität
zukommt, ob sie gleich darin mit der Vorstellung des Raumes übereinkommen,
daß sie bloß zur subjektiven Beschaffenheit der Sinnesart gehören,
z.B. des Gesichts, Gehörs, Gefühls, durch die Empfindungen der
Farben, Töne und Wärme, die aber, weil sie bloß Empfindungen
und nicht Anschauungen sind, an sich kein Objekt, am wenigsten a priori,
erkennen lassen.
(B
45) Die Absicht dieser Anmerkung geht nur dahin: zu verhüten,
daß man die behauptete Idealität des Raumes nicht durch bei
weitem unzulängliche Beispiele zu erläutern sich einfallen lasse,
da nämlich etwa Farben, Geschmack usw. mit Recht nicht als Beschaffenheiten
der Dinge, sondern bloß als Veränderungen unseres Subjekts,
die sogar bei verschiedenen Menschen verschieden sein können, betrachtet
werden. Denn in diesem Falle gilt das, was ursprünglich selbst nur
Erscheinung ist, z. B. eine Rose, im empirischen Verstande für ein
Ding an sich selbst, welches doch jedem Auge in Ansehung der Farbe anders
erscheinen kann. Dagegen ist der transzendentale Begriff der Erscheinungen
im Raume eine kritische Erinnerung, daß überhaupt nichts, was
im Raume angeschaut wird, eine Sache an sich, noch daß der Raum eine
Form der Dinge sei, die ihnen etwa an sich selbst eigen wäre, sondern
daß uns die Gegenstände an sich gar nicht bekannt sind, und,
was wir äußere Gegenstände nennen, nichts anderes als bloße
Vorstellungen unserer Sinnlichkeit sind, deren Form der Raum ist, deren
wahres Korrelatum aber, d. i. das Ding an sich selbst, dadurch gar nicht
erkannt wird, noch erkannt werden kann, nach welchem aber auch in der Erfahrung
niemals gefragt wird.
(B46)
Der transzendentalen
Ästhetik
Zweiter Abschnitt
Von der Zeit
§4
Metaphysische Erörterung des
Begriffs der Zeit
Die Zeit ist 1. kein
empirischer Begriff,
der irgend von einer
Erfahrung abgezogen worden.
Denn das Zugleichsein
oder Aufeinanderfolgen würde selbst nicht in die Wahrnehmung kommen,
wenn die Vorstellung
der Zeit nicht a priori zum Grunde läge.
Nur unter deren Voraussetzung
kann man sich vorstellen,
daß einiges zu
einer und derselben Zeit (zugleich)
oder in verschiedenen
Zeiten (nacheinander) sei.
2. Die Zeit ist eine
notwendige Vorstellung,
die allen Anschauungen
zum Grunde liegt.
Man kann in Ansehung
der Erscheinungen überhaupt die Zeit selbst nicht aufheben,
ob man zwar ganz wohl
die Erscheinungen aus der Zeit wegnehmen kann.
Die Zeit ist also a priori
gegeben.
In ihr allein ist alle
Wirklichkeit der Erscheinungen möglich.
Diese können insgesamt
wegfallen,
aber sie selbst (als
die allgemeine Bedingung ihrer Möglichkeit) kann nicht aufgehoben
werden.
(B
47) 3. Auf diese Notwendigkeit
a priori
gründet sich auch
die Möglichkeit apodiktischer Grundsätze von den Verhältnissen
der Zeit,
oder Axiomen von der
Zeit überhaupt.
Sie hat nur Eine Dimension:
verschiedene Zeiten sind
nicht zugleich, sondern nacheinander
(so wie verschiedene
Räume nicht nacheinander, sondern zugleich sind).
Diese Grundsätze
können aus der Erfahrung nicht gezogen werden,
denn diese würde
weder strenge Allgemeinheit, noch apodiktische Gewißheit geben.
Wir würden nur sagen
können: so lehrt es die gemeine Wahrnehmung;
nicht aber: so muß
es sich verhalten.
Diese Grundsätze gelten
als Regeln, unter denen überhaupt Erfahrungen möglich sind,
und belehren uns vor
derselben,
und nicht durch dieselbe.
4. Die Zeit ist kein
diskursiver, oder, wie man ihn nennt, allgemeiner Begriff,
sondern eine reine Form
der sinnlichen Anschauung.
Verschiedene Zeiten sind
nur Teile eben derselben Zeit.
Die Vorstellung, die
nur durch einen einzigen Gegenstand gegeben werden kann,
ist aber Anschauung.
Auch würde sich
der Satz, daß verschiedene Zeiten nicht zugleich sein können,
aus einem allgemeinen
Begriff nicht herleiten lassen.
Der Satz ist synthetisch,
und kann aus Begriffen
allein nicht entspringen.
Er ist also in der Anschauung
und Vorstellung der Zeit unmittelbar enthalten.
5. Die Unendlichkeit
der Zeit bedeutet nichts weiter,
als daß alle bestimmte
Größe der Zeit
nur durch (B
48) Einschränkungen einer einigen zum Grunde liegenden
Zeit möglich sei.
Daher muß die ursprüngliche
Vorstellung Zeit als uneingeschränkt gegeben sein. Wovon aber die Teile
selbst, und jede Größe eines Gegenstandes,
nur durch Einschränkung
bestimmt vorgestellt werden können,
da muß die ganze Vorstellung
nicht durch Begriffe gegeben sein,
(denn die enthalten nur
Teilvorstellungen,)
sondern es muß ihnen
unmittelbare Anschauung zum Grunde liegen.
§ 5
TranszendentaIe Erörterung des
Begriffs der Zeit
Ich kann mich deshalb auf
Nr. 3 berufen, wo ich, um kurz zu sein, das, was eigentlich transzendental
ist, unter die Artikel der metaphysischen Erörterung gesetzt habe.
Hier füge ich noch hinzu, daß der Begriff der Veränderung
und, mit ihm, der Begriff der Bewegung (als Veränderung des Orts)
nur durch und in der Zeitvorstellung möglich ist: daß, wenn
diese Vorstellung nicht Anschauung (innere) a priori wäre, kein Begriff,
welcher es auch sei, die Möglichkeiteit einer Veränderung, d.
i. einer Verbindung kontradiktorisch entgegengesetzter Prädikate (z.B.
das Sein an einem Orte und das Nichtsein eben desselben Dinges an demselben
Orte) in einem und demselben Objekte begreiflich machen könnte. Nur
in der Zeit können beide (B 49) kontradiktorisch-entgegengesetzte
Bestimmungen in einem Dinge, nämlich nacheinander, anzutreffen sein.
Also erklärt unser Zeitbegriff die Möglichkeit so vieler synthetischer
Erkenntnis a priori, als die allgemeine Bewegungslehre, die nicht wenig
fruchtbar ist, darlegt.
§ 6
Schlüsse aus diesen Begriffen
a) Die Zeit ist nicht etwas,
was für sich selbst bestünde, oder den Dingen als objektive Bestimmung
anhinge, mithin übrig bliebe, wenn man von allen subjektiven Bedingungen
der Anschauung derselben abstrahiert; denn im ersten Fall würde sie
etwas sein, was ohne wirklichen Gegenstand dennoch wirklich wäre.
Was aber das zweite betrifft, so könnte sie als eine den Dingen selbst
anhängende Bestimmung oder Ordnung nicht vor den Gegenständen
als ihre Bedingung vorhergehen, und a priori durch synthetische Sätze
erkannt und angeschaut werden. Diese letztere findet dagegen sehr wohl
statt, wenn die Zeit nichts als die subjektive Bedingung ist, unter der
alle Anschauungen in uns stattfinden können. Denn da kann diese Form
der inneren Anschauung vor den Gegenständen, mithin a priori, vorgestellt
werden.
b) Die Zeit ist nichts anderes,
als die Form des inneren Sinnes, d. i. des Anschauens unserer selbst und
unseres inneren Zustandes. Denn die Zeit kann keine Bestimmung äußerer
Erscheinungen sein; sie gehört (B 50) weder
zu einer Gestalt, oder Lage usw., dagegen bestimmt sie das Verhältnis
der Vorstellungen in unserem inneren Zustande. Und, eben weil diese innere
Anschauung keine Gestalt gibt, suchen wir auch diesen Mangel durch Analogien
zu ersetzen, und stellen die Zeitfolge durch eine ins Unendliche fortgehende
Linie vor, in welcher das Mannigfaltige eine Reihe ausmacht, die nur von
einer Dimension ist, und schließen aus den Eigenschaften dieser Linie
auf alle Eigenschaften der Zeit, außer dem einigen, daß die
Teile der ersteren zugleich, die der letzteren aber jederzeit nacheinander
sind. Hieraus erhellt auch, daß die Vorstellung der Zeit selbst Anschauung
sei, weil alle ihre Verhältnisse sich an einer äußeren
Anschauung ausdrücken lassen.
c) Die Zeit ist die formale
Bedingung a priori aller Erscheinungen überhaupt. Der Raum, als die
reine Form aller äußeren Anschauung ist als Bedingung a priori
bloß auf äußere Erscheinungen eingeschränkt. Dagegen,
weil alle Vorstellungen, sie mögen nun äußere Dinge zum
Gegenstande haben, oder nicht, doch an sich selbst, als Bestimmungen des
Gemüts, zum inneren Zustande gehören, dieser innere Zustand aber,
unter der formalen Bedingung der inneren Anschauung, mithin der Zeit gehört,
so ist die Zeit eine Bedingung a priori von aller Erscheinung überhaupt,
und zwar die unmittelbare Bedingung der inneren (unserer Seelen) und eben
dadurch mittelbar auch der äußeren Erscheinungen. (B
51) Wenn ich a priori sagen kann: alle äußeren Erscheinungen
sind im Raume, und nach den Verhältnissen des Raumes a priori bestimmt,
so kann ich aus dem Prinzip des inneren Sinnes ganz allgemein sagen: alle
Erscheinungen überhaupt, d. i. alle Gegenstände der Sinne, sind
in der Zeit, und stehen notwendigerweise in Verhältnissen der Zeit.
Wenn wir von uns er er Art,
uns selbst innerlich anzuschauen, und vermittelst dieser Anschauung auch
alle äußeren Anschauungen in der Vorstellungskraft zu befassen,
abstrahieren, und mithin die Gegenstände nehmen, so wie sie an sich
selbst sein mögen, so ist die Zeit nichts. Sie ist nur von objektiver
Gültigkeit in Ansehung der Erscheinungen, weil dieses schon Dinge
sind, die wir als Gegenstände unserer Sinne annehmen; aber sie ist
nicht mehr objektiv, wenn man von der Sinnlichkeit unserer Anschauung,
mithin derjenigen Vorstellungsart, welche uns eigentümlich ist, abstrahiert,
und von Dingen überhaupt redet. Die Zeit ist also lediglich eine subjektive
Bedingung unserer (menschlichen) Anschauung, (welche jederzeit sinnlich
ist, d. i. sofern wir von Gegenständen affiziert werden,) und an sich,
außer dem Subjekte, nichts. Nichtsdestoweniger ist sie in Ansehung
aller Erscheinungen, mithin auch aller Dinge, die uns in der Erfahrung
vorkommen können, notwendigerweise objektiv. Wir können nicht
sagen: alle Dinge sind in der Zeit, weil bei dem Begriff der Dinge (B
52) überhaupt von aller Art der Anschauung derselben abstrahiert
wird, diese aber die eigentliche Bedingung ist, unter der die Zeit in die
Vorstellung der Gegenstände gehört. Wird nun die Bedingung zum
Begriffe hinzugefügt, und es heißt: alle Dinge, als Erscheinungen
(Gegenstände der sinnlichen Anschauung), sind in der Zeit, so hat
der Grundsatz seine gute objektive Richtigkeit und Allgemeinheit a priori.
Unsere Behauptungen lehren
demnach empirische Realität der Zeit, d. i. objektive Gültigkeit
in Ansehung aller Gegenstände, die jemals unseren Sinnen gegeben werden
mögen. Und da unsere Anschauung jederzeit sinnlich ist, so kann uns
in der Erfahrung niemals ein Gegenstand gegeben werden, der nicht unter
die Bedingung der Zeit gehörte. Dagegen bestreiten wir der Zeit allen
Anspruch auf absolute Realität, da sie nämlich, auch ohne auf
die Form unserer sinnlichen Anschauung Rücksicht zu nehmen, schlechthin
den Dingen als Bedingung oder Eigenschaft anhinge. Solche Eigenschaften,
die den Dingen an sich zukommen, können uns durch die Sinne auch niemals
gegeben werden. Hierin besteht also die transzendentale Idealität
der Zeit, nach welcher sie, wenn man von den subjektiven Bedingungen der
sinnlichen Anschauung abstrahiert, gar nichts ist, und den Gegenständen
an sich selbst (ohne ihr Verhältnis auf unsere Anschauung) weder subsistierend
noch inhärierend beigezählt werden kann. Doch ist diese Idealität,
(B 53) ebensowenig wie die des Raumes,
mit den Subreptionen der Empfindung in Vergleichung zu stellen, weil man
doch dabei von der Erscheinung selbst, der diese Prädikate inhärieren,
voraussetzt, daß sie objektive Realität habe, die hier gänzlich
wegfällt, außer, sofern sie bloß empirisch ist, d. i.
den Gegenstand selbst bloß als Erscheinung ansieht: wovon die obige
Anmerkung des ersteren Abschnitts nachzusehen ist.
§ 7
Erläuterung
Wider diese Theorie, welche
der Zeit empirische Realität zugesteht, aber die absolute und transzendentale
bestreitet, habe ich von einsehenden Männern einen Einwurf so einstimmig
vernommen, daß ich daraus abnehme, er müsse sich natürlicherweise
bei jedem Leser, dem diese Betrachtungen ungewohnt sind, vorfinden. Er
lautet also: Veränderungen sind wirklich (dies beweist der Wechsel
unserer eigenen Vorstellungen, wenn man gleich alle äußeren
Erscheinungen, samt deren Veränderungen, leugnen wollte). Nun sind
Veränderungen nur in der Zeit möglich, folglich ist die Zeit
etwas Wirkliches. Die Beantwortung hat keine Schwierigkeit. Ich gebe das
ganze Argument zu. Die Zeit ist allerdings etwas Wirkliches, nämlich
die wirkliche Form der inneren Anschauung. Sie hat also subjektive Realität
in Ansehung der inneren Erfahrung, d. i. ich habe wirklich die (B
54) Vorstellung von der Zeit und meinen Bestimmungen in ihr.
Sie ist also wirklich nicht als Objekt, sondern als die Vorstellungsart
meiner selbst als Objekts anzusehen. Wenn aber ich selbst, oder ein ander
Wesen mich, ohne diese Bedingung der Sinnlichkeit, anschauen könnte,
so würden eben dieselben Bestimmungen, die wir uns jetzt als Veränderungen
vorstellen, eine Erkenntnis geben, in welcher die Vorstellung der Zeit,
mithin auch der Veränderung, gar nicht vorkäme. Es bleibt also
ihre empirische Realität als Bedingung aller unserer Erfahrungen.
Nur die absolute Realität kann ihr nach dem oben Angeführten
nicht zugestanden werden. Sie ist nichts, als die Form unserer inneren
Anschauung. (Ich kann zwar sagen: meine Vorstellungen folgen einander;
aber das heißt nur, wir sind uns ihrer, als in einer Zeitfolge, d.
i. nach der Form des inneren Sinnes, bewußt. Die Zeit ist darum nicht
etwas an sich selbst, auch keine den Dingen objektiv anhängende Bestimmung.)
Wenn man von ihr die besondere Bedingung unserer Sinnlichkeit wegnimmt,
so verschwindet auch der Begriff der Zeit, und sie hängt nicht an
den Gegenständen selbst, sondern bloß am Subjekte, welches sie
anschaut.
Die Ursache aber, weswegen
dieser Einwurf so einstimmig gemacht wird, und zwar von denen, die gleichwohl
gegen die Lehre von der Idealität des Raumes nichts (B
55) Einleuchtendes einzuwenden wissen, ist diese. Die absolute
Realität des Raumes hofften sie nicht apodiktisch dartun zu können,
weil ihnen der Idealismus entgegensteht, nach welchem die Wirklichkeit
äußerer Gegenstände keines strengen Beweises fähig
ist: dagegen die des Gegenstandes unserer inneren Sinne (meiner selbst
und meines Zustandes) unmittelbar durchs Bewußtsein klar ist. Jene
konnten ein bloßer Schein sein, dieser aber ist, ihrer Meinung nach,
unleugbar etwas Wirkliches. Sie bedachten aber nicht, daß beide,
ohne daß man ihre Wirklichkeit als Vorstellungen bestreiten darf,
gleichwohl nur zur Erscheinung gehören, welche jederzeit zwei Seiten
hat, die eine, da das Objekt an sich selbst betrachtet wird, (unangesehen
der Art, dasselbe anzuschauen, dessen Beschaffenheit aber eben darum jederzeit
problematisch bleibt,) die andere, da auf die Form der Anschauung dieses
Gegenstandes gesehen wird, welche nicht in dem Gegenstande an sich selbst,
sondern im Subjekte, dem derselbe erscheint, gesucht werden muß,
gleichwohl aber der Erscheinung dieses Gegenstandes wirklich und notwendig
zukommt.
Zeit und Raum sind demnach
zwei Erkenntnisquellen, aus denen a priori verschiedene synthetische Erkenntnisse
geschöpft werden können, wie vornehmlich die reine Mathematik
in Ansehung der Erkenntnisse vom Raume und dessen Verhältnissen ein
glänzendes Beispiel (B 56) gibt.
Sie sind nämlich beide zusammengenommen reine Formen aller sinnlichen
Anschauung, und machen dadurch synthetische Sätze a priori möglich.
Aber diese Erkenntnisquellen a priori bestimmen sich eben dadurch (daß
sie bloß Bedingungen der Sinnlichkeit sind) ihre Grenzen, nämlich,
daß sie bloß auf Gegenstände gehen, sofern sie als Erscheinungen
betrachtet werden, nicht aber Dinge an sich selbst darstellen. Jene allein
sind das Feld ihrer Gültigkeit, woraus, wenn man hinausgeht, weiter
kein objektiver Gebrauch derselben stattfindet. Diese Realität des
Raumes und der Zeit läßt übrigens die Sicherheit der Erfahrungserkenntnis
unangetastet: denn wir sind derselben ebenso gewiß, ob diese Formen
den Dingen an sich selbst, oder nur unserer Anschauung dieser Dinge notwendigerweise
anhängen. Dagegen die, so die absolute Realität des Raumes und
der Zeit behaupten, sie mögen sie nun als subsistierend, oder nur
inhärierend annehmen, mit den Prinzipien der Erfahrung selbst uneinig
sein müssen. Denn, entschließen sie sich zum ersteren, (welches
gemeiniglich die Partei der mathematischen Naturforscher ist,) so müssen
sie zwei ewige und unendliche für sich bestehende Undinge (Raum und
Zeit) annehmen, welche da sind (ohne daß doch etwas Wirkliches ist),
nur um alles Wirkliche in sich zu befassen. Nehmen sie die zweite Partei
(von der einige metaphysische Naturlehrer sind), und Raum und Zeit gelten
ihnen als von der Erfahrung abstrahierte, obzwar (B
57) in der Absonderung verworren vorgestellte, Verhältnisse
der Erscheinungen (neben- oder nacheinander), so müssen sie den mathematischen
Lehren a priori in Ansehung wirklicher Dinge (z. E. im Raume) ihre Gültigkeit,
wenigstens die apodiktische Gewißheit bestreiten, indem diese a posteriori
gar nicht stattfindet, und die Begriffe a priori von Raum und Zeit, dieser
Meinung nach, nur Geschöpfe der Einbildungs-kraft sind, deren Quell
wirklich in der Erfahrung ge-sucht werden muß, aus deren abstrahierten
Verhältnissen die Einbildung etwas gemacht hat, was zwar das Allgemeine
derselben enthält, aber ohne die Restriktionen, welche die Natur mit
denselben verknüpft hat, nicht stattfinden kann. Die ersteren gewinnen
so viel, daß sie für die mathematischen Behauptungen sich das
Feld der Erscheinungen freimachen. Dagegen verwirren sie sich sehr durch
eben diese Bedingungen, wenn der Verstand über dieses Feld hinausgehen
will. Die zweiten gewinnen zwar in Ansehung des letzteren, nämlich,
daß die Vorstellungen von Raum und Zeit ihnen nicht in den Weg kommen,
wenn sie von Gegenständen nicht als Erscheinungen, sondern bloß
im Verhältnis auf den Verstand urteilen wollen; können aber weder
von der Möglichkeit mathematischer Erkenntnisse a priori (indem ihnen
eine wahre und objektiv gültige Anschauung a priori fehlt) Grund angeben,
noch die Erfahrungssätze mit jenen Behauptungen in notwendige Einstimmung
bringen. In unserer (B 58) Theorie,
von der wahren Beschaffenheit dieser zwei ursprünglichen Formen der
Sinnlichkeit, ist beiden Schwierigkeiten abgeholfen.
Daß schließlich
die transzendentale Ästhetik nicht mehr, als diese zwei Elemente,
nämlich Raum und Zeit, enthalten könne, ist daraus klar, weil
alle anderen zur Sinnlichkeit gehörigen Begriffe, selbst der der Bewegung,
welcher beide Stücke vereinigt, etwas Empirisches voraussetzen. Denn
diese setzt die Wahrnehmung von etwas Beweglichem voraus. Im Raum, an sich
selbst betrachtet, ist aber nichts Bewegliches: daher das Bewegliche etwas
sein muß, was im Raume nur durch Erfahrung gefunden wird, mithin
ein empirisches Datum. Ebenso kann die transzendentale Ästhetik nicht
den Begriff der Veränderung unter ihre Data a priori zählen:
denn die Zeit selbst verändert sich nicht, sondern etwas, das in der
Zeit ist. Also wird dazu die Wahrnehmung von irgendeinem Dasein, und der
Sukzession seiner Bestimmungen, mithin Erfahrung erfordert.
*
Anhang:
Leserbrief an den Spiegel zu Nr.39 vom 20.9.2004, S.190 ff: "Warum ist nicht nichts?"
Der Brief antwortet auf die Darlegungen des Physikers Brian
Greene in einem Interview im SPIEGEL, der sich mit dem big bang
befaßt hat und der vor allem behauptete, das unscheinbare Körnchen,
das da explodiert sei, habe alle Arten von Ordnung in sich enthalten, auch
unsere Lebensabläufe –-
"Ich spreche von jeder Art Ordnung, von biologischen
Systemen wie Ihnen und mir zum Beispiel, oder von geordneten Objekten wie
dieser Ledercouch oder diesem Tisch ...
Beim Urknall selbst muss folglich eine kaum vorstellbare
Ordnung geherrscht haben, sonst könnten wir hier 14 Milliarden Jahre
später nicht in diesem Raum zusammensitzen",
es könne deshalb keinen freien Willen geben –-
"Im Grund lässt die Physik dafür keinen
Platz",
es rolle eben alles entsprechend dem 2.Hauptsatz der Thermodynamik ab
(das ist der Satz, dem gemäß die statistische Verteilung der
Teilchen im Raum nur von Ordnung in größere Unordnung übergehen
kann, nie umgekehrt) –-
"... und alles, was wir heute sehen, ist Folge
dieser Ordnung."
Nun also der Leserbrief:
Wenn der Urzustand des Universums alle Arten, Ebenen und Anlagen von
Ordnung in sich enthielte, dann müßte er zugleich lebendig und
bewußt sein: Er müßte sich
auf sich selbst beziehen können, die Willenssubstanz der Handlung
und ihr Freiheitsbewußtsein in sich enthalten, in weiß-der-Himmel
was für einer Senfkorn-Konzentriertheit.
Der Urmoment wäre eher eine Geburt als eine Explosion und eher ein
Aufwachen in der ersten Subjekt-Objekt-Differenzierung als ein bloß
objektives Geschehen. Der Forscher müßte sich darin wiederfinden,
es sei denn, Zeit und Raum hätten transzendentale Idealität und
wären nichts als eine Grundstruktur unseres Bewußtseins, Bewußtseinsbasis
aller Anschauung, reine Anschauungsmatrix, erfahrungsunabhängige Weltprojektionsleinwand
aller unserer Erfahrung.
Platon im
Menon-Dialog und Kant in der Kritik der reinen Vernunft
argumentieren mit dem schlichten Sachverhalt, daß geometrische Gesetzmäßigkeiten
nicht durch induktive Schlüsse aus der Erfahrung hergeleitet werden
können: Die Winkelsumme im Dreieck z.B. wird nicht in Annäherung
an 180° ausgemessen, sondern über den Zusammenschluß von
Anwinkeln und Gegenwinkeln bewiesen; solche Ordnungen entstammen nicht
der Erfahrung, sondern liegen ihr und allen in ihr zur Welt geordneten
Objekten zugrunde, allerdings "im Auge des Betrachters", als reine Anschauungsformen.
Wenn die Grundstrukturen unseres Bewußtsein bereits im Himmelreich-Senfkorn
des Urzustandes enthalten waren, dann war das Bewußtseinsauge mit
ihm vorhanden, geschlossen vielleicht, sein Objekt subjektiv umschließend,
und es ist bis heute noch nicht ganz offen und wacht in wissenschaftlich
geklärter Erinnerung wohl erst langsam auf.