Goethe fand sich durch solche Ideen tief befriedigt. Er schreibt über die ästhetischen Briefe am 26.Oktober 1794 an Schiller: «Das mir übersandte Manuskript habe ich sogleich mit großem Vergnügen gelesen, ich schlurfte es auf einen Zug hinunter. Wie uns ein köstlicher, unsrer Natur analoger Trunk willig hinunterschleicht und auf der Zunge schon durch gute Stimmung des Nervensystems seine heilsame Wirkung zeigt, so waren mir diese Briefe angenehm und wohltätig, und wie sollte es anders sein, da ich das, was ich für recht seit langer Zeit erkannte, was ich teils lebte, teils zu leben wünschte, auf eine so zusammenhängende und edle Weise vorgetragen fand.»
Was Goethe zu leben wünschte, um sich eines wahrhaft menschenwürdigen Daseins bewußt sein zu dürfen, fand er in Schillers ästhetischen Briefen ausgesprochen. Begreiflich ist es daher, daß auch in seiner Seele Gedanken angeregt wurden, die er auf seine Art in der Richtung der Schillerschen auszugestalten suchte. Aus diesen Gedanken heraus ist die Dichtung erwachsen, die so mannigfaltige Auslegungen gefunden hat: Das Rätselmärchen, mit dem Goethe seine in den Horen erschienene Erzählung «Unterhaltungen deutscher Ausgewanderten» schloß, und das im Jahre 1795 in den «Horen» erschienen ist. Auch diese «Unterhaltungen» knüpfen wie Schillers ästhetische Briefe an die französischen Zustände an. Man wird das ihren Schluß bildende «Märchen» nicht erklären dürfen, indem man von außen allerlei Ideen in dasselbe hineinträgt, sondern indem man zurückgeht auf die Vorstellungen, die damals in Goethes Seele lebten.
Die
größte Zahl der unternommenen Auslegungsversuche dieser Dichtung
findet man verzeichnet in dem Buche «Goethes Märchendichtungen»
von Friedrich Meyer von Waldeck. Seit dem Erscheinen dieses Buches sind
allerdings einige neuere Erklärungsversuche zu den früheren hinzugekommen.
(Ich
habe in den Geist des Märchens aus den Voraussetzungen der Goetheschen
Gedankenwelt vom Anfang der neunziger Jahre des achtzehnten Jahrhunderts
einzudringen versucht und habe, was sich mir ergeben hat, zuerst in einem
Vortrage ausgesprochen, den ich am 27.November 1891 im Wiener Goetheverein
gehalten habe. Was ich damals gesagt habe, hat sich mir seither nach den
verschiedensten Richtungen erweitert. Aber alles, was ich seither über
das «Märchen» habe drucken lassen oder mündlich ausgesprochen
habe, ist nur eine weitere Ausgestaltung der in jenem Vortrage ausgesprochenen
Gedanken. Auch mein 1910 erschienenes Mysteriendrama «Die Pforte
der Einweihung» ist eine Frucht jener Gedanken.)
Man
wird die Keim-Gedanken zu dem «Märchen» in den «Unterhaltungen»
suchen müssen, deren Abschluß es bildet. Goethe stellt in diesen
«Unterhaltungen» die Flucht einer Familie aus den mit Kriegsverheerungen
belasteten Gegenden dar. In den Gesprächen, die sich zwischen den
Gliedern dieser Familie abspielen, lebt auf, was in Goethes Vorstellungskreisen
durch den Austausch der gekennzeichneten Ideen mit Schiller damals angeregt
war. Die Gespräche drehen sich um zwei Gedankenmittelpunkte. Von dem
einen werden alle die Vorstellungen des Menschen beherrscht, durch welche
dieser in den Ereignissen, die in sein Leben eingreifen, einen Zusammenhang
zu bemerken glaubt, der sich aus den Gesetzen der sinnlichen Wirklichkeit
nicht durchdringen läßt. Die Geschichten, welche da erzählt
werden, sind zum Teil reine Gespenstergeschichten, zum Teil solche, in
denen Erlebnisse zur Darstellung kommen, die an Stelle des naturgesetzlichen
Zusammenhanges einen «wunderbaren» zu verraten scheinen. Goethe
hat diese Schilderungen wahrlich nicht aus einer Hinneigung zu irgendeiner
Art von Aberglauben verfaßt, sondern aus einem viel tieferen Antrieb
heraus. Die angenehm-mystische Empfindung, die manche Menschen haben, wenn
sie von etwas hören können, das doch die «beschränkte»,
auf gesetzmäßige Zusammenhänge gehende Vernunft «nicht
erklären kann», lag ihm ganz ferne. Aber er sah sich immer wieder
vor die Frage gestellt: Gibt es für die Menschenseele nicht eine Möglichkeit,
sich von den Vorstellungen, die nur aus der sinnlichen Wahrnehmung kommen,
zu befreien und in einem rein geistigen Anschauen eine übersinnliche
Welt zu ergreifen? Es könnte ja wohl der Drang nach einer solchen
Betätigung des Erkenntnisvermögens ein naturgemäßes
menschliches Streben darstellen, das auf einem für die Sinne und den
auf diese gestützten Verstand verborgenen Zusammenhang mit einer solchen
Welt beruht. Und die Neigung zu Erlebnissen, welche den natürlichen
Zusammenhang zu durchbrechen scheinen, könnte nur eine kindliche Abirrung
von dieser berechtigten menschlichen Sehnsucht nach einer geistigen Welt
sein. Goethe interessierte sich vielmehr für die Richtung, welche
die Seelentätigkeit bei ihrer Neigung zum abergläubisch Gehätschelten
nimmt, als für den Inhalt der Erzählungen, die bei kindlichen
Gemütern aus einer solchen Neigung hervorgehen.
Der
zweite Gedankenmittelpunkt strahlt die Vorstellungen aus, welche das moralische
Menschenleben betreffen, für das der Mensch seine Antriebe nicht aus
der Sinnlichkeit, sondern aus Impulsen schöpft, die ihn über
das hinausheben, was die Sinnlichkeit in ihm anregt. Auf diesem Gebiete
ragt ja eine übersinnliche Kräftewelt in das Seelenleben des
Menschen herein.
Von
beiden Gedankenmittelpunkten aus gehen Strahlen, welche im Übersinnlichen
endigen müssen. Und von ihnen aus wird die Frage nach dem inneren
Menschenwesen angeregt, nach dem Zusammenhange der Menschenseele mit der
sinnlichen Welt einer- und der übersinnlichen andrerseits. Schiller
trat dieser Frage philosophisch in seinen ästhetischen Briefen nahe;
für Goethe war der abstrakt-philosophische Weg nicht gangbar; er mußte
das, was er in dieser Richtung zu sagen hatte, im Bilde verkörpern.
Und das geschah durch das «Märchen von der grünen Schlange
und der Lilie». In Goethes Phantasie gestalteten sich die mannigfaltigen
menschlichen Seelenkräfte zu Märchenpersonen, und in den Erlebnissen
und dem Zusammenwirken dieser Personen verbildlicht sich das ganze menschliche
Seelenleben und Seelenstreben. – Wenn man dergleichen ausspricht, hat man
von einer gewissen Seite her sogleich den Einwand zu gewärtigen: aber
dadurch wird eine Dichtung doch aus dem künstlerischen Phantasiereiche
herausgehoben und zur unkünstlerischen Verbildlichung abstrakter Begriffe,
die Figuren werden aus dem echten Leben herausgenommen und zu unkünstlerischen
Symbolen oder gar Allegorien gemacht. Solch ein Einwand beruht auf der
Vorstellung, daß in der Menschenseele nur abstrakte Ideen leben können,
sobald sie das Gebiet des Sinnlichen verläßt. Er verkennt, daß
es eine lebensvolle übersinnliche Anschauung gibt ebenso wie eine
sinnliche. Und Goethe bewegt sich mit seinen Personen im «Märchen»
nicht im Reiche abstrakter Begriffe, sondern übersinnlicher Anschauungen.
Was hier über diese Personen und ihre Erlebnisse gesagt werden wird,
ist durchaus nicht so gemeint, daß behauptet würde: das eine
bedeute das, das andere jenes. Solche Hinneigung zu symbolischer Ausdeutung
liegt diesen Betrachtungen so ferne wie nur möglich. Für sie
ist im «Märchen» der Alte mit der Lampe, sind die Irrlichter
und so weiter nichts anderes als die Phantasiegestaltungen, als die sie
in der Dichtung auftreten. Aber gesucht werden soll, durch welche Gedankenimpulse
die Phantasie des Dichters belebt wird, um solche Gestalten zu schaffen.
Diese Gedankenimpulse brachte sich Goethe ganz gewiß nicht in einer
abstrakten Form zum Bewußtsein. Weil sie seiner Geistesart in dieser
Form zu inhaltsarm erschienen wären, drückte er sich eben durch
Gestalten der Phantasie aus. Der Gedankenimpuls waltet in den Untergründen
von Goethes Seele, dessen Frucht ist die Phantasiegestalt. Die Zwischenstufe
als Gedanke lebt nur unterbewußt in seiner Seele und gibt der Phantasie
die Richtung. Der Betrachter des Goetheschen «Märchens»
braucht den Gedankengehalt; denn der allein kann seine Seele so stimmen,
daß sie in nachschaffender Phantasie den Wegen der schöpferischen
Goetheschen folgt. Es ist das Sichhineinversetzen in diesen Gedankengehalt
nichts anderes als gewissermaßen das Aneignen der Organe, durch die
der Betrachter sich in dieselbe Luft versetzen kann, in der Goethe geistig
geatmet hat, als er das «Märchen» schuf. Es ist die Einstellung
des Blickes auf die menschliche Seelenwelt, auf die Goethe geblickt hat,
und aus deren Walten ihm – anstatt philosophischer Ideen – lebendige Geistgestalten
entgegensprangen. Was in diesen Geistgestalten lebt, es lebt in der menschlichen
Seele.
Die Vorstellungsart, die das «Märchen» durchdringt, sie klingt schon in den «Unterhaltungen» an. In den Gesprächen, von denen da erzählt wird, lenkt sich die menschliche Seele auf die zwei Weltgebiete hin, zwischen die sich der Mensch im Leben gestellt sieht: das sinnliche und das übersinnliche. Sich zu beiden Gebieten in das rechte Verhältnis zu bringen, strebt die tiefere Menschennatur an, zur Erringung einer freien, menschenwürdigen Seelenverfassung und zur Ausgestaltung eines harmonischen Zusammenlebens von Mensch zu Mensch. Goethe hat empfunden, daß in den «Unterhaltungen» selbst nicht voll zum Ausdrucke gekommen war, was er über die Beziehung des Menschen zu den beiden Weltgebieten hat aus den Erzählungen herausleuchten lassen. Er hatte das Bedürfnis, in dem umfassenden Märchengemälde die menschlichen Seelenrätsel, auf die sein Blick gerichtet war, näher an die unermeßlich reiche Welt des Geisteslebens heranzubringen. Das Streben nach dem wahrhaft menschenwürdigen Zustand, auf den Schiller deutet, den Goethe zu leben wünschte, verkörpert sich ihm durch den Jüngling im «Märchen». Dessen Vermählung mit der Lilie, der Verwirklicherin des Freiheitsreiches, ist die Verbindung mit den in der Menschenseele schlummernden Kräften, die zum wahren inneren Erleben der freien Persönlichkeit führen, wenn sie erweckt werden.