Paul Deussen (übers.) : Sechzig Upanishad's des Veda : Inhaltsverzeichnis
I. Welt und Mensch als Schöpfung
des Âtman. Zu Anfang war nur der Âtman
allein vorhanden. Er beschloß, Welten zu schaffen und schuf
als solche die vier Gebiete: ambhah,
"die Flut" des Himmelsozeans jenseits des Himmels; marîcîr,
"die Lichtatome" des Luftraums; maram,
die Erde als "das Tote", und âpas,
die unterhalb der Erde dem Ganzen als Grundlage dienenden "Urwasser".
– Weiter schafft dann der Âtman acht
"Welthüter", indem er aus den Urwassern den Purusha
(Urmenschen) hervorzieht und aus Mund, Nase, Augen, Ohren,
Haut, Herz, Nabel und Zeugungsglied desselben zunächst die entsprechenden
S.14 psychischen
Organe (Rede, Einhauch, Gesicht, Gehör, Haare, Manas,
Aushauch, Samen) und aus diesen dann Agni, Vâyu,
Âditya, Weltgegenden, Pflanzen, Mond, Tod und Wasser als Weltenhüter
hervorbringt. Aber sofort stellt sich auch die Hinfälligkeit dieser
welthütenden Götter heraus; sie fallen zurück in das Gewoge
der Urwasser, welches der Schöpfer zwei bösen Mächten, dem
Hunger und dem Durste, preisgibt. Von beiden gequält, bitten die Welthüter
um einen festen Ort, in dem sie durch Essen von Speise sich derselben erwehren
können. Als solchen bietet ihnen der Schöpfer eine Kuh, dann
ein Roß und endlich, nachdem sie beide als ungenügend abgelehnt
haben, einen Menschen an, in welchen die genannten Welthüter durch
Mund, Nase, Auge, Ohr, Haut, Herz, Nabel und Zeugungsglied hineinfahren.
Hier können sie Nahrung nehmen, doch nur indem sie dieselbe dem Hunger
und Durst zugleich mit zukommen lassen, welche daher an jedem den Göttern
dargebrachten Opfer ihren Anteil haben, – ein Zug, der die Bedürftigkeit
der Götter veranschaulichen soll. – Als Drittes schafft sodann der
Âtman die Nahrung, welche ihm, wie die
Maus der Katze, zu entlaufen sucht, worauf er sie mit den übrigen
Organen, Odem, Auge, Ohr usw., vergebens zu greifen strebt, bis er sie
endlich mit dem Apâna (hier wohl
als Prinzip der Verdauung) wieder einfangt. – Der Âtman
sieht ein, daß ohne ihn, ohne ein Selbst, das geschaffene
Menschenwesen trotz aller seiner Organe nicht bestehen könne; ihnen
und ihren Funktionen gegenüber wirft er die Frage auf: "aber wer bin
denn ich?", die erst am Schlusse der Upanishad
ihre Antwort finden wird. Er fährt sodann durch die Schädelnaht
Vidrti in den Menschen ein,
in welchem er drei Wohnstätten (Sinne, Manas
und Herz) und ihnen entsprechend drei "Traumstände" (Wachen,
Träumen, Tiefschlaf) hat. Er blickt um sich auf alle Wesen und findet,
daß nichts darunter ist, was er als einen andern bezeichnen könnte,
daß aber doch der Mensch von allen am meisten Brahman ist.
Diese Darstellung knüpft
(wie billig, bei einer Rgvedaschule)
an das Purusha-Lied Rgv. 10,90
an. Wie dort, v.13-14, so entstehen auch hier, nur mit einigen Variationen
und Erweiterungen, aus den Körperteilen des Purusha
die Götter, die dann im Menschen Wohnung nehmen. Aber der große
Unterschied ist, daß in der Upanishad
der Urmensch ein vom Âtman abhängiges
Wesen ist, welches der Âtman aus den
von ihm erschaffenen Urwassern herausholt, formt und bebrütet. Und
so kann auch der Mensch, trotz aller in ihn eingegangenen Götter,
nicht ohne den Âtman bestehen ("katham
nu idam mad rte syât?"), der daher in ihn hineinfährt
und im Wachen in den Sinnen, im Traume im Manas,
im Tiefschlafe im Herzen seinen Sitz hat. Die Welt als eine Schöpfung,
der Mensch als höchste Erscheinung des Âtman,
der auch Brahman genannt wird, das ist der
Grundgedanke dieses Abschnittes.
II. Die dreifache Geburt
des Âtman. Wie der Vergleich mit Shatap.Br.11,2,1,1
lehrt, war die Theorie von den drei Geburten ein Thema, welches öfter
ventiliert wurde, ohne doch immer die gleiche Behandlung zu finden. Denn
während dort die drei Geburten das Erzeugtwerden, das Opferbringen
und die Neugeburt nach dem Tode sind, so zählt unsere Stelle
S.15 als
solche auf: 1) die Zeugung des Kindes, 2) die Pflege des Kindes vor und
nach der Geburt, bis es im Stande ist, den Vater in der Ausübung der
heiligen Werke zu vertreten, 3) die Neugeburt des Vaters nach dem Tode.
Die Inconcinnität, daß in den beiden ersten Fällen von
der Seele des Kindes, im letzten von der des Vaters die Rede ist, ist auch
dem Scholiasten nicht entgangen, und er hebt sie dadurch, daß er
den Âtman in beiden für identisch
erklärt. Indes ist dieser Ausweg für den exoterischen Standpunkt,
der hier maßgebend ist, streng genommen nicht statthaft, da die Seele
des Kindes wie im Mutterleibe so auch schon im väterlichen Sperma
nur als Gast weilt. Übrigens beruht die hier hervortretende Anschauung,
daß im Kinde nicht die Mutter, sondern der Vater steckt, auf richtiger
Beobachtung und ist ein philosophisch wertvoller Gedanke. Zum Schluß
wird auf die Erlösung als Ende des Geburtenkreislaufes hingewiesen,
welche hier noch als ein unsterbliches Fortleben in der Himmelswelt für
den, der (wie vermeintlich Vâmadeva,
Rgv.4,27,1) diesen Kreislauf der Geburten
durchschaut, in Aussicht gestellt wird.
III. Das Wesen des Âtman.
Alle Sinnesorgane und Tatorgane, alle intellektuellen und moralischen Kräfte,
alle Götter, Elemente, Tiere und Pflanzen sind prajñâ-netra,
prajñâne pratishthita "vom Bewußtsein
geleitet, im Bewußtsein gegründet", das Bewußtsein ist
Brahman. – Diese unzählige Male in den
Upanishad's wie in der abendländischen
Philosophie zu Tage tretende Auffassung ist wahr, sofern sie den Schlüssel
zum Welträtsel im eigenen Innern sucht, und sie ist falsch, sofern
sie bei der uns dort zunächst entgegentretenden Erscheinung, der organischen
Funktion des Bewußtseins, stehen bleibt, statt von ihr zu der eigentlichen,
auch sie tragenden Wurzel unseres Seins durchzudringen.