In der argumentativen Auseinandersetzung mit dem Buddhismus entwickelten
sich in Indien die sechs "klassischen" Philosophie-Systeme, die sich paarweise
ordnen lassen: Nyaya und Vaisheshika,
Yoga und Sâmkhyâ,
Karma-Mîmânsa und Vedânta.
Sieht man diese Reihung als eine Entwicklungsstufung vom den beiden eher
materialistisch oder sensualistisch basierten Philosophie-Systemen (Nyaya
und Vaisheshika) bis zum puren
Idealismus der von Shankara aufgeschlossenen Vedânta-Sûtrâs,
stehen Yoga- und Sâmkhyâ-System
in einer vermittelnden Position: Yoga
als praktische Meditations-Anleitung,
systematisiert in Patañjalis
Yoga-Sûtrâs,
und die theoretische Seite dieses Paars systematisiert vor allem in Îshvarakrshnas
Sâmkhyâ-Kârikâ,
aber schon mit weitem Saatwurf angelegt in den Protosâmkhyâ-Keimen
des gewaltigen Epos, der indischen "Ilias", des Mahâbhârata.
In der Traditions-Schichtung der orthodoxen
Sanskritliteratur, insbesondere der Theologie
und Philosophie dreier Jahrtausende bis zum Hinduismus hin, basieren
alle literarischen Entwicklungen auf den vier Veden,
insbesondere den zehn Büchersammlungen (Mandalas)
der Rgveda-Hymnen,
und auf diesen wiederum über text- und ritual-exegetische Zwischenstufen
- Brâhmanas und Âranyakas
- die philosophisch-spekulativ weit ausgreifenden Upanishaden.
Die beiden größten vorbuddhistischen Upanishaden
sind die Chândogya-Upanishad
und die Brhadâranyaka-Upanishad,
in denen vedenkundige Kshatriyas
mit der Priesterschaft der Brahmanen in
Konkurrenz und Diskussion stehen. Alle Upanishaden
sind jeweils einzeln einem der vier Veden
zugeordnet. Und die Vollendung ("anta")
der vedischen Philosophie-Theologie, der "Vedânta",
bezieht sich in Shankaras Kommentar zu Bâdarâyanas
extrem formelhaft-kurzen Sûtras
durchgängig auf die vorbuddhistischen
Upanishaden.
Neben der textreichen Opferexegese, unabhängig vom Opfer, doch
bezugsreich mit den vedischen Textgrundlagen
der Brahmanen-Reflexionen verwoben, entstehen
die beiden großen Epen: Mahâbhârata
und Ramâyana.
Das ist das literarische Feld der Könige und Ritter, der "selbstdenkenden"
Kshatriyas, aus dem, vergleichbar den
Belehrungen des Anchises in
Vergils Aeneis oder Trevrizents
Grals-Theologie in Wolframs Parzival, auch der Buddhismus
aufkeimt und reiche Tracht bringt.
Das zwölfte der achtzehn Bücher des Mahâbhârata,
das Shântiparvan, besteht ganz aus solchen
königlichen Belehrungen. Bhîshma,
der gemeinsame Großonkel der beiden kriegerischen Parteien, der fünf
Pându-Söhne einerseits und
der hundert Kauravas andererseits, liegt tödlich
verwundet auf einem Bett von Pfeilen, die ihm im Rücken stecken, darf
aber seinen Todeszeitpunkt frei bestimmen. So zögert er das Sterben
hinaus, um seinen siegreichen Nachfolger, den Pându-Sohn
Yudishthira, in all dem zu belehren,
was ein König zum Herrschen wissen muß. Das ist, vergleichbar
der Erziehung der "Wächter" in Platons
Politeia, nicht nur Rechtskunde und Kriegskunst, Verwaltung und Ethik,
sondern auch wissenschaftliche Welterkenntnis, ontologische Metaphysik,
Philosophie.
Und auf diesem Feld - "dharma-kshetre",
wie das erste Wort der Bhâgavad-Gîtâ
lautet, der philosophisch-theologischen
Königsbelehrung im 6. Buch des Mahâbhârata,
wo zu Beginn der großen Schlacht die verborgene Vishnu-Inkarnation
Krshna sich
ihrem fürstlichen Freund Arjuna offenbart,
dem der höchste Gott in fast schon ironischem Understatement als waffenloser
"Wagenlenker" dient, auf dem Dharma-Feld also
- ist die Sâmkhyâ-Philosophie
die maßgebliche Theoriegrundlage. Noch nicht in der abstrakten Konzentration
und Brillanz der Sâmkhyâ-Kârikâ,
aber gewissermaßen in Konkurrenz und Diskussion mit den vedischen
und upanishadischen Idealismen.
Die Bhâgavad-Gîtâ
im 6. Buch ist das herausragende Lehrstück aus dem Mahâbhârata,
und auch dort bildet Sâmkhyâ-Theorie
immer wieder die maßgebliche Grundlage des dort entwickelten "Yoga";
in den philosophischen Erörterungen des "Mokshaparvan"
genannten Theorie-Teils des 12. Buches, des Shântiparvan,
finden sich entsprechende Grundlegungen. So keimhaft, wie sie dort versucht,
angesetzt und durchgeführt werden, bezeichnen wir sie nicht als voll
entwickelte "Sâmkhyâ"-Theorie,
sondern sehen sie als "Protosâmkhyâ"-Systeme.
Hier folgt, ergänzt um die von mir übersetzten Sanskrit-Verse
des Shûkanuprashna (röm. translitteriert),
die HTML-Version (2023) einer 30-seitigen
Hausarbeit aus den Tagen meines Indologie-Studiums in Bonn, die ich meinerzeit
(irgendwann Anfang der Achtziger Jahre) bei Prof.
Dr. Monika Thiel-Horstmann eingereicht habe. Ich bitte das Leserinnenauge
um Nachsicht, - ich würde heute vieles nicht mehr so unbekümmert
und schlecht abgesichert "drauflos behaupten" wie damals. Ich bitte die
seltenen Leser, die sich gelegentlich hierhin verirren, um Nachsicht.
8. Paul Hacker, Kleine Schriften,
The Samkhyization of the
Emanation Doctrine, Shown in a Critical Analysis of Texts, S.167 – 204
9. Frauwallner, Geschichte der indischen
Philosophie, 1. Band
10. Kirfel, Das Purâna
Pañcalakshana