Gott
Die
Bhagavad-Gîtâ
ist ein hochrangiger Offenbarungstext des Hinduismus.
Natürlich
sind nicht nur die drei vorderasiatischen Religionen – Judentum, Christentum
und Islam – auf "Offenbarung und Buch" gegründet, sondern vom Rgveda
an (also seit dreitausend Jahren) bereits die alte Brahmanische Religion;
mit der Bhagavad-Gîtâ
aber findet weit über den Brahmanenstand hinaus auch die Ausbildung
des gesamt-indischen Religionslebens zum volkstümlicheren Hinduismus
ihren ureigensten Offenbarungstext (und gehört deshalb in der Sicht
der Brahmanen nicht eigentlich in den Kernbereich der Offenbarung, in die
"Shruti", das
durch "Hören" als Inspiration Aufgenommene, sondern in die "Smrti",
das im "Gedächtnis" als Tradition Hinzugefügte). Ein Sich-Offenbaren
der Gottheit findet sich hier nicht nur in Form inspirativer Sprüche,
nicht nur in der Transparenz der ganzen Natur für die in ihr sich
mitteilende Allbewußtseins-Sonne, sondern im Höhepunkt (Kapitel
11) als Theophanie der sich mitteilenden all-einen Wirklichkeit
selbst.
Dieses
Lehrgedicht, diese in Versen sich Schritt für Schritt enthüllende
Selbstoffenbarung Gottes, steht also am Anfang der Entwicklung der indischen
Religionen zu den großen monotheistischen Bewegungen einer mehr an
Yoga und Erkenntnis orientierten shivaitischen Richtung zum einen
und einer mehr gefühlshaft ("bhakti")
bestimmten vishnuitischen Religion zum andern.
Mit
Shiva (Maheshvara)
einerseits oder mit Vishnu,
verehrt unter den Namen seiner irdischen Inkarnationen Rama
und Krshna,
andererseits sind in diesen beiden großen Ausrichtungen der indischen
Religionsvielfalt nicht schlichtweg der zerstörerische und der erhaltende
Aspekt der hinduistischen Dreigestalt ("Trimûrti")
des alles-seienden Gottes gemeint (wie sie von den Bildern des die Welt
zertanzenden Shiva
und des die Welt erträumenden, liegenden Vishnu
bekannt sind), sondern eben diese alles-seiende, in allem sich zur Erscheinung
bringende, an-sich-seiende Ichheit des Ganzen selbst.
Vishnu-Verehrer
(Vaishnavas)
neigen allerdings mehr zur Betonung der Individualität, der Persönlichkeit
des Höchsten, Shiva-Schüler
mehr zur Versenkung in das überpersönliche Absolute,
in "das Eine jenseits der
sieben Rshis", wie es in den älteren Upanishaden
als brahman und
âtman anvisiert
worden ist. Wir fühlen uns an die Komplementarität und gegenseitige
Befruchtung von Neuplatonismus und antikem Christentum erinnert, auch an
die Rivalität der Dominikaner (aristotelisch-wissenschaftlich) mit
den Franziskanern (platonisch-mystisch), etwa Thomas von Aquin einerseits
und Bonaventura andererseits; oder die geradezu mathematischen und logisch
bestimmten Konzepte der Rationalisten, etwa Spinozas Ethik, im Gegenpol
zu Pascals eiferndem Bekenntnis zu dem "Gott Abrahams, Isaaks und Jakobs".
Aber
so, wie zwischen Neuplatonismus und Christentum Origenes und Augustinus
vermitteln, wie Leibniz zwischen
"geometrischer Methode" und barockem Persönlichkeits-Pathos eine Synthese
findet, indem er die alte Monadenlehre des
Neuplatonikers Proklos, das unendliche Ineinander der Weltinnenräume,
der "Monaden", ins Feld führt, so bildet auch die Bhagavad-Gîtâ
eine integrative Mitte zwischen philosophisch argumentierendem Erkennen
und religiös verehrender Hingabe.
Gott
ist, erklärt sich und zeigt sich als das Ich aller Iche, also im
eigenen Ich erkennbar; zugleich ist er als Bewußtsein
des Alls, als beherrschendes, schöpferisches und allbelebendes Ich
des Ganzen zu verehren, indem die liebende Seele des Verehrenden
dieses Ich von allen Seiten als unendliches Du erlebt und nur im Sinne
einer immer erneuerten Vereinigungssuche
das als göttlich verehrte Sich-sein vom menschlich verehrenden "Du-bist"
unterscheidet.
Handlung
Über
das Sich-Offenbaren des All-Ich hinaus ist die Bhagavad-Gîtâ
im wesentlichen eine ethische Unterweisung, verbunden
mit einer Erklärung dessen, was am Menschen ewig ist, wie er seine
Handlungen zu verantworten hat, und wie er in Verantwortung seiner Handlungen
(karma) durch
die verschiedenen Lebensläufe zu gehen hat.
Der
Kernsatz dieser Ethik ist schlicht wiederzugeben: Handle, ohne an den Früchten
deiner Handlung zu hängen; also: handle opferfreudig, zielsicher,
mit voller Seele, Hingebung, Sorgfalt, ohne dich durch das Schielen auf
den Erfolg zum Straucheln zu bringen. So werden die Handlungen dem überbordenden
Erscheinungsstrom des göttlichen Ausdrucks, des schöpferischen
Überfließens eingegliedert. Ohne Sucht nach den Erfolgen ist
der Täter frei von den bindenden Kräften der Handlung. Sie sind
dem All-Täter übergeben, der sie
durchlebt wie ein Künstler sein Kunstwerk, indem die Werke ihn durchkreisen
als ihr Ziel, Höhepunkt und ihre Erfüllung.
Meditation
Die
oft gehörte Behauptung, nur ein persönlicher Lehrer könne
zu Yoga und Meditation
anleiten, wird durch die Bhagavad-Gîtâ
aufgehoben: In jedem Ich findet sich der innere Lehrer selbst, und sei
es in Gestalt des unmittelbaren "Du" der Vehrung, unendlich gesteigert
in der Liebe zum allgestaltig-Unbegrenzten. Der klare Text weist immer
neu darauf hin, gibt Anleitungen und Zielgedanken, gibt sich selbst als
Meditationstext, in der dichterischen Gestaltung sogar als die Art von
Tür, die wir in Kunst und Musik kennen, die Tür des ästhetischen
Weges. Solche Türen und Wege (des Erkennens, Tuns, Unterscheidens,
Verehrens, der Schönheit, der Pflicht usw.) werden in Gestalt einzelner
"Yogas" in jedem
der 18 Kapitel als Thema genannt und dargestellt. Sogar das erste Kapitel,
in dem Arjuna
von seinem Wagenlenker Krshna
auf die Verwandten gegenüber (in der Front der Feinde) hingewiesen
wird und daraufhin in Verzweiflung ausbricht und entmutigt den Bogen sinken
läßt, zeigt einen "Yoga"
auf, der in der existentialistischen Schule der abendländischen Philosophie
als krisenhafter Durchbruch der "Existenz" bekannt ist (Kierkegaard, Heidegger,
Sartre, Jaspers).
Wichtig
ist vor allem, daß die Bhagavad-Gîtâ
das ganze Guru-Unwesen angemaßter Yogalehrer in Mitteleuropa als
überflüssig erkennen lassen kann: Der durchschnittliche Erwachsene
kann lesen. Also kann er Inhalte vergleichen, kann das Gewäsch, die
Erfahrungsarmut, die Wurzellosigkeit einer ganzen Guru-Hundertschaft von
Seminar-Anbietern unmittelbar erkennen. Da ist nicht viel zu durchschauen.
Das
Ich erkenne sich selbst – anderes ist nur Suche, Weg und Umweg; manches
mag Sport sein.
Nun
gut:
Insofern
für eine Meditation Bilder oder Texte hilfreich sind, die in sich
solch eine Transparenz oder Offenheit haben, daß der sich Versenkende
durch sie hindurchschaut oder hindurchhört in das zeitlose Sichwissen,
bietet die Bhagavad-Gîtâ
Kapitel für Kapitel, Vers für Vers eine feindifferenzierte Fülle
möglicher Richtungen und Ansätze ("Yoga"
genannt, also "Vereinigung", zumindest "Verbindung"). So eignen sich z.B.
die Gedankengänge des zweiten Kapitels für die konzentrierte
Selbstdiskussion der "Vereinigung durch Erkenntnis", enthalten aber auch
schlicht-gewaltige Versgruppen, die die Unzerstörbarkeit des âtman
vergegenwärtigen (2,23 ff).
Die
einzelnen Kapitel können als Stufenweg aufgefaßt werden, gipfelnd
im 10. und 11. Kapitel,
deren poetischer Überschwang den Leser geradezu in die Gottheit hineinreißt,
statt ihn nüchtern seinen Yoga
üben zu lassen. Also: "Meditationsbild" ist für diese Theophanie
gewiß eine Untertreibung; sie ist ein klares Fenster, eine offene
Türe, in dieser unmittelbaren Göttlichkeit vergleichbar nur wenigen
Texten der Weltliteratur, etwa dem Dào dê
jing, vielleicht Jakob
Böhmes Aurora, Meister
Eckharts Predigten, Plotins Enneaden, dem Johannes-Evangelium.
Im Unterschied zu den meisten – mit einer bedeutenden und in manchen Versen
geradezu parallel formulierenden Ausnahme: Parmenides
(DK B 8 entspricht gleich mehrfach dem Bhagavad-Gîtâ-Vers
2,16) – ist die Gîtâ
dazu noch eine Dichtung, meist im Shloka, einem Doppelvers, der
im ersten und dritten Viertel eher trochäisch (lang-kurz), am Ende
des zweiten und vierten Viertels immer iambisch betont wird (also dort
immer auf den betonten Längen endet). In diesem Punkt mag auch Angelus
Silesius vergleichbar sein, der viele der Gedanken, die wir in der
Bhagavad-Gîtâ finden, in knappe Zweizeiler
gefaßt hat, mit ähnlichen Symmetrien, Stilfiguren und der gleichen
ungeschnörkelten Deutlichkeit in der genauen Beschreibung des "Unbeschreiblichen",
und nicht zu vergessen das hochkonzentrierte und in Lautmalereien und kurzen
Reimen binnengespiegelte Dào dê jing
des chinesischen "Alten" Lao-dsi.
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