Nur ein Anfang
Eine vollständige Darstellung
der Rolle, die die Jâtakâs für die Erforschung der Märchenstoffe,
Motivwanderungen, Grundstrukturen kleiner Formen usw. haben können,
ist hier noch nicht möglich. Es soll andererseits aber auch nicht
die Sekundärliteratur dazu abgeschrieben werden. Ausgangspunkt sind
die Texte selbst, und da ich die Fülle der 547 Erzählungen des
berühmten Jâtakâbuches des Tipitaka (der "drei Körbe"
des Kanons der buddhistischen heiligen Schriften in Palisprache) zu diesem
Zeitpunkt noch nicht durchgesehen und analysiert habe, sind es nur die
ersten 41 "Nummern", deren Inhaltsangabe hier auch mitgegeben wird, auf
die sich diese Skizze stützt.
Es geht also darum, durch "Schwimmübungen
im Wasser" erste Anhaltspunkte zu gewinnen, wie das gesamte Corpus der
Jâtakâs für systematische und historische Forschungen
an Märchenstoffen (eventuell) fruchtbar werden könnte.
Das konkreteste, eingrenzbarste Ziel,
das mir für eine Durchsicht aller Jâtakâs vor Augen steht,
nämlich: ein Vergleich der Stoffe und Motive dieser Sammlung mit anderen
Sammlungen, etwa den Grimmschen Märchen, dem Fabelgut der äsopisch-phädrischen
Tradition, vielleicht mit Bocaccios Dekamerone und anderen Protonovellen,
läßt sich mit dieser Handvoll Geschichten noch nicht angehen.
Das Verhältnis zum Pañcatantra-Strang der Erzählströme
von Indien nach Europa, der die erste und nahestehendste Folgegeneration
der alten Jâtakâs nach Westen zieht, wird bei diesem Wenigen
allerdings schon zumindest erahnbar.
Aber diese Vorbemerkung will nur Erwartungen
dämpfen und anzeigen, daß die Frage nach dem wirklichen Verhältnis
dieser archaischen Erzählungssammlung zum KHM-Corpus leider noch nicht
aus der Kenntnis von nur 41 Jâtakâs befriedigend beantwortet
werden kann.
Was sind die "Jâtakâs"?
Unmittelbar etymologisch bezeichnet
der Sanskrit- und Paliname Jâtaka (sprich Dschâteke
mit langem a und zwei Schwas) irgend etwas "Geburtiges", den elliptischen
Vorderteil des Kompositums "Geburtsgeschichte", und zwar per Substantivierung
einer Adjektivbildung (-ka) hinter dem Partizip-Perfekt-Passiv-Suffix (-ta)
zur Wurzel jan, die "geboren werden" heißt.
Dennoch sind diese Erzählungen
nicht einfach Geburtenberichte des Buddha und
schon gar nicht "Geburtslegenden", etwa im Sinne von Berichten der früheren
Existenzen des Meisters, eben seiner früheren "Geburten"; – dafür
sind sie von der Lehre und Vorbildstellung des Buddha zu sehr abgekoppelt,
zu selbständig. Natürlich gelten sie als solche und sind durch
einen Rahmen, der etwa an Textmasse den eingearbeiteten Geschichten gleichkommt,
in die Lehre integriert, aber es gibt zu starke Besonderheiten der bunten
"exempla", die sie kaum als gute Beispiele der logisch und dogmatisch durchgekämmten
Erleuchtungsdidaktik brauchbar machen. Eher stellen sie das erzählfreudige
Gegenstück zum penetranten Stil der meditativ und mnemotechnisch notwendigen
Wiederholungen und Schachtelungen der Lehrreden dar.
In der Tat gibt sogar die Tradition
einen außerkanonischen Ursprung der Erzählungen an: Sie gelten
als Exemplifizierung von metrisch gefaßten Sprichwörtern oder
Merkversen, die nun zur "Moral" ihrer Geschichte werden. Ein altes Saatgut
mündlicher Konzentration und Weitergabe; Sandkörner im Austernfleisch
des buddhistischen Kanons, von den Perlen der 547 Geschichten ummantelt.
Übrigens gilt diese Genese von Erzählungen aus metrischen Sprüchen
auch für das "Pañcatantra", das "Fünf-Buch" der Fabeln
zur Prinzenschulung, in das sehr viele Stücke der Sammlung übernommen
wurden; und dem entspricht auch die Ausfaltung von Rechtsgrundsätzen
zu spannenden Rätselsituationen im "Papageienbuch" und im "Vetala-Pañcavinshati",
den "Fünfundzwanzig Geschichten des Dämons".
Mündlichkeit
Die strenge mündliche Überlieferung
ist beiden Textarten gemeinsam, dem schmucklos-knappen, pointierten individuellen
"exemplum" genauso wie der kristallinen Architektonik der Lehre. Sorgfältige
Textüberlieferung über Gedächtnis und Schulen, wobei eine
hochentwickelte, formalisierte (!) Grammatik, Phonetik, Etymologie und
eine Ritual-Sprachtheorie zur Stützung und Konservierung des gewaltigen
Textmaterials beitragen, ist schon für die älteste indische Literatur,
Vedas, Brahmanas, Aranyakas und Upanishadas,
typisch. Die Vorstellung von "mündlicher Tradition" als Mutationsstraße,
die bei uns vorherrscht, paßt hier garnicht. Schrift ist dann nur
eine äußere mnemotechnische Stütze, nicht die Basis des
Textbestandes, deshalb kommt der redundanten Formulierung in der Textgestalt
eine viel größere Rolle zu als in unserer Schriftlichkeit, –
Redundanz verstanden als Wiederholung des Wesentlichen und strenge Einordnung
und Nützlichkeit aller Nebengedanken, unter Umständen auch Formelstarre
und akustische Markierung der Anfangs- und Endstellen rezitativ abgespulter
Texte. Sanskritische Wissenschafts-Leitfäden ("Sutras")
fangen an mit "atha...", d. h. "von hier an...", und enden mit einem Echo
der letzten ein, zwei Worte ("...so sprach er, sprach er. "). Ist die Verwandtschaft
solcher akustischer Markierungen zum "Es war einmal..." und... bis an ihr
Lebensende. " wie auch zum "In nomine..." und "...in saecula saeculorum,
Amen." jemals genetisch aufgedröselt worden?
Alternativen, Nachbargattungen
Wuchernde Erzählform, Nebengedanken
aus Nebengedanken, "Schilderung", ist auf mündlicher Basis dann möglich,
wenn die musikalische Seite der Rezitation, insbesondere die Versrhythmik
die mnemotechnische und nicht zuletzt magische Funktion der kristallinen
Redundanz wie auch der straffen Wesentlichkeits-Hierarchie übernehmen
kann: Die gewaltigen Epen (Mahâbhârata – über 100.000
Verse – und Râmâyana) des Subkontinents sind der eigentliche
Gegenpol, der "andere Topf" der Erzählstoffe gegenüber eben dem
abstrakten Stil der Prosa, die hier zu unseren literarischen Kleinformen,
besonders Fabel und Märchen, geführt hat.
Dies ist wohl festzuhalten: daß
nicht so sehr die Motivwanderung als die mnemotechnische Strenge des abstrakten
Stils, besonders die innere Hierarchie der Stoffe in der Unterordnung von
nützlichen Nebengedanken unter den Hauptgang der Handlung, die selbst
nur Problemaufwurf und pointierte Lösung zu elementar-kleiner, einfacher,
unverkürzbarer Gestalt fügt, den indischen Quelltopf der kleinen
Formen so bedeutsam macht.
Die Schriftlichkeit verdirbt diese
Ökonomie schnell: Ein gutes Beispiel ist der ornamentierte Stil der
Geschichten aus Tausend-und-eine-Nacht, von denen ein Großteil auf
indische Erzählungen zurückgeht. In Europa ist es die klassizistische
Beschränkung, die Freude am trockenen Witz, an der intelligenten Pointierung,
die verwucherte Formen wieder zurückschneiden kann. Daß aber
gerade der "Witz" andere Spielereien am Grundgerüst wuchern lassen
kann, ist aus den französischen und italienischen Märchenfassungen
oder – früh und bedeutend – aus "Amor
und Psyche" im Zentrum der "Metamorphosen" des Apuleius bekannt.
In der Tat scheint die Schriftlichkeit
der eigentliche "diabolos" der mündlichen Traditionssorgfalt zu sein,
und dies paradoxerweise gerade durch die vergnügliche, trockene, stilbewußte,
konsumentenwerbende Verknappungstendenz der Verleger und Literaten. Hier
wird wohl der Grund dafür zu suchen sein, daß unsere Antike
keine Märchen in "kleiner Form" überliefert hat (!), obwohl die
allgemeine Verbreitung volkstümlicher "Ammenmärchen"
gerade durch die Abwehr der gebildeten Literaten gut bezeugt ist. Literarisch
gibt es nur Mythen - nicht in durchaus möglicher "kleiner Form", sondern
in dramatischer und epischer Verarbeitung – und mehrere Arten kleinster
Erzählstücke mit ausnahmslos unterhaltsam-"kluger" (Fabeln) oder
witziger ("Milesische Geschichten") Pointierung. An Erzählfreude hat
es nicht gemangelt; offensichtlich sind die Voraussetzungen für mündliche
Traditionswege, die nicht zu Mutationsstraßen der aus der Schriftlichkeit
gesunkenen Literaturen verdämmern, nur dann gegeben, wenn die Fixierung
der Texte die lehrende und lernende Weitergabe in persönlichen Verhältnissen,
von Mund zu Ohr, nicht ersetzt.
Das mag, so trivial das klingt, durchs
Klima bedingt sein. Wo Papier, Holz und Palmblätter im Sommerregen
wegfaulen, kann sich ein alexandrinisches Bibiothekswesen oder eine Lesergemeinschaft
mit Verlag und Serienprodukt nicht ausbilden; dann hat das Prinzip "ein
alter Mönch ist eine ganze Literatur" größere Chañcen.
Das Gleiche gilt bekanntlich auch für afrikanische Epensänger,
und uns am nächsten vielleicht auch für die finnischen Rezitatoren
des Kalevala mit seinen märchenhaften Zügen. Die Mündlichkeit
also ist für eine genetisch-passende Gliederung archaischer Literaturformen
wichtiger als der Gegensatz "Epos"-"Kleinform".
Weitere Nachbarn
Die Jâtakâs sind, von
ihrer Einordnung, ihrem Rahmen her, moralische Exempla; das haben sie mit
Fabel, Legende, mit der italienischen Protonovelle (dort mehr das leichte
Spiel mit der "Moral von der Geschicht") und religiösen Gleichnissen
gemein. Eine Verwandtschaft scheint mir erwähnenswert: die moralischen
Klugheitsparabeln der Hebelschen "Kalendergeschichten"; aber vielleicht
sind "miracula" des Mittelalters, z. B. des Caesarius von Heisterbach,
noch eher mit den Jâtakâs zu vergleichen, obwohl letztere mehr
richtige Handlungen mit Problemspannung und Lösung, etwa wie knapp
erzählte Dekameronegeschichten, aufweisen.
Solch eine Kleinform zwischen Fabel,
Anekdote und novella ist die eigentliche Gestalt aller indischen Erzählungssammlungen,
von denen viele uns als persisch-arabische bekannt sind, z. B. das "Papageienbuch",
nicht zuletzt der älteste Grundbestand des "Alif laila wa laila" (1001
Nacht) , und am geschlossensten das Fabelcorpus des "Kalila wa Dimna" (Pañcatantra).
Zwei abendländische Vergleichswerke
sind hier für die Typologie der indischen Kurzerzählungen überhaupt
und auch der Jâtakâs besonders geeignet: zum einen die "miracula"
des Caesarius von Heisterbach, zum anderen die "suasoria" des älteren
Seneca. Ansätzen, die die Stoffe literarischer Kleinformen aus Genese
und Didaktik des Materials ableiten wollen, um von der Fahndung nach der
Motivlandstreicherei loszukommen, ist dieser Vergleich dringend zu empfehlen.
Es liegt dann nahe, in den Mönchsgeschichten der Inder Verwandte der
lateinischen Mönchsgeschichten wiederzufinden und in den gewitzten
Streitfällen der Suasorien ein Analogon zu den sanskritischen exempla
der machiavellistischen "Prinzenschulung" in Rechtsgelehrsamkeit, dem "Pañcatantra".
Was unsere Mönchs-Schnurrgeschichten
angeht, so zeigt der Vergleich natürlich erst recht die Unterschiede:
Die eigentlichen "Mönchsgeschichten" sind in den Jâtakâs
nur der (selbst erzählungsförmige) Rahmen; die Jâtakâs
nehmen ihren Stoff nicht aus der Mönchswelt; die exempla sind "Mönchsfrei",
handeln ganz besonders häufig in der Welt der Kaufleute, der Ritter
und Räuber, wenn nicht (wie meistens) der Tiere, hier und da auch
der Bauern und Jäger, also in der Welt der Familienbeziehungen und
praktischen Probleme. Man denke sich etwa die "Gesta Romanorum" als Erzählinseln
in die Caesarius-Fingerzeige verpackt, und zwar so, daß jedes miraculum
mit einem strukturgleichen gesta-Stück gekoppelt würde.
Diese Art Koppelung geschieht in der
gesamten indischen Mönchsliteratur, nicht nur in diesen Jâtakâs
des Palikanon der Buddhisten, sondern besonders auch in den jainistischen
Erzählungsketten (s. "Indische Märchen" der Diederich-Sammlung)
auf folgende Weise: Etwas Unerklärliches (ein miraculum) geschieht
im Orden, der allwissende Buddha erzählt dann eine strukturgleiche
Weltbegebenheit, die mit knapper Ursachenexposition,Problemaufwurfund kluger
Lösung wohlabgeschlossen und rund dargereicht wird, und danach werden
knapp die personae actionis der erzählten Begebenheit als frühere
Inkarnationen der jetzt ähnlich verknüpften Lebensschicksale
erläutert.
Die ähnliche Jainaliteratur baut
das übrigens zu ganzen Inkarnationsromanen aus, stärkt den Rahmen
und isoliert nicht mehr "Inseln" erzählter Begebenheiten, sondern
führt die Personenkonstellationen durch ein ganzes Netzwerk von Metamorphosen
hindurch, wobei sich eine gewisse Kontrapunktik von Verfehlung und Vergeltung,
Verdienst und Glück entspinnt.
Sind Jâtakâs Märchen?
Also: Jâtakâs sind eine
elementare Kleinform, "gefischt" mit dem Exempel -Netz des Inkarnationslogikers.
Wie im europäischen Zaubermärchen
ist die ausgleichende, (oder besser:) symmetrisch-vergeltende Gerechtigkeit
das Grundgewebe der Handlungsknoten. Der Erzählgestus ist knapp, naiv
und klug zugleich, die Pointen sind oft vergnüglich-überraschend,
ihr Witz nicht derb, sondern lehrreich.
Sie sind geschlossen, abgerundet,
isoliert, – wenn Namen vorkommen, dann ahistorisch oder schematisch. Der
allgemeinste Formelanfang indischer Erzählungen überhaupt ist
"Kasmiñcid nagare...", "In irgendeiner Stadt..."; Jâtakâs
beginnen gerne "Als X König in Y war, war der Buddha als Z in einer
Kaufmannsfamilie verkörpert. ", aber das ist auch hier bloßes
Formelzeichen der Vertrautheit, fast ein Rahmenreflex im Bilde, denn der
genannte König bzw. seine "damalige Verkörperung" tritt nicht
in die Erzählung ein. Auch wirkt der Buddha, der "Erleuchtete", nicht
eigentlich als solcher, sondern "nur" als die weiseste der handelnden Personen.
Wunder und Verwandlungen – Hauptpointe
sowohl unserer antiken "Metamorphosen" und Mythen als auch der "Zaubermärchen"
europäischer Provenienz – geschehen ab und zu, scheinen aber nicht
Lösungsquelle der Spannung; Klugheit ist beliebter. (Und man sollte
auch die Rolle der List in der "Gattung Grimm" nicht unterschätzen).
Ja, Zauber und magische Gefahren in symbolistisch-knapper Szenerie mit
magischen Lösungen, dieser ganze naive Surrealismus der "Gattung Grimm"
scheint den indischen Stoffen fremd zu sein und ist sowohl von den mehr
fabelartigen als auch von den Kaufmanns- und Räubergeschichten kaum
zu erwarten.
Also: Jâtakâs sind keine
"Zaubermärchen", keine außereuropäischen Beispiele der
"Gattung Grimm", – der Versuch eines Brückenschlags zu unserem Grundtypus
von Märchen muß hier einige Zwischenpfeiler setzen. Die Antwort
auf die Frage: "Ist Indien, das Paradies mündlicher Stoffgestaltungen
und Überlieferungen, ein Paradies der Zaubermärchen europäischen
Stils?" lautet zunächst einmal: "Nein".
Anhang:
DIE NUMMERN 1-41 DES JÂTAKABUCHES,
KURZE INHALTSANGABEN
I.
Kaufmannsgeschichten
1. a) Zwei Kaufleute mit je 500 Wagen
können nicht zusammenreisen, wegen der zu großen Belastung des
Weges. Wer geht zuerst? Der Dumme, denn er denkt, er hat frisches Wasser
und Tierfutter, kann die Preise bestimmen usw. Der Kluge als zweiter: Die
Wege sind vorbereitet, die Preise hochgehandelt.
b) Der Dumme wird in der Wüste
von einem Wasserdämon illusioniert, all seinen Wasserballast abzulassen,
und getötet. Der Kluge erschließt aus dem Fehlen der klimatologisch
notwendigen Gewitteranzeichen den Illusionscharakter des Dämons, findet
die Gerippe und Güter der anderen Karawane und ist mit deren Waren
doppelt so reich geworden.
2. Der kluge Leiter einer Karawane,
zufällig in der Wüste vom müden Scout fehlgeleitet, findet
dort Pflanzen, die auf einen Quell hinweisen. Beim Aufgraben zerbricht
der Spaten an einem unausgrabbaren Stein. Der Kluge zertrümmert den
Stein, die Quelle kann aufbrechen.
3. Zwei Kaufleute sprechen ihre Gebiete
ab. Der Habgierige erkennt bei einer verarmten Familie ein verschmutztes
Goldgefäß, indem er daran ritzt. Um zu feilschen, behauptet
er, es sei wertlos, und geht. Der andere kommt inzwischen, erfährt,
daß der erste seine Option hier schon erledigt hat, und kauft das
100. 000 Mark wertvolle Gefäß für 1000 auf. Der Habgierige
kommt wieder, um sich gnädig für einen halben Groschen mit dem
"Blech" zu beladen, und gerät über den Handel des Klugen so in
Zorn, daß er stirbt.
4. "Wer diese tote Maus aufhebt, wird
ein Weib heimführen und reich werden" – diese Prophetie eines seherischen
alten Kaufmanns hört ein armer Händlersohn, hebt die Maus auf
und gibt sie als Katzenfutter für einen Groschen, kauft Zucker und
Wasser, tränkt die Blumenflechter, bekommt dafür Blumen, verkauft
diese. Dann sammelt er Sturmholz, ersteht dafür Töpfe und gibt
damit den durstigen Grassammlern tags Wasser; per Monopolisierung kann
er für die 500 Pferde eines Heeres Grasfutter bereitstellen und macht
aus seinen ersten 25 Mark (vom Blumenverkauf) 1000. Damit erwirbt er eine
Option auf die Waren eines vollen Schiffes, die er für 200. 000 Mark
verkauft, heiratet die Tochter des seherischen alten Kaufmanns und erbt
so das Handelsmonopol für die ganze Stadt.
5. Der König setzt aus Habgier
einen dummen Schätzer ein, der für 500 Pferde nur "ein Maß
Reis" geben will. Vom klugen Minister durch ein Geschenk bestochen gibt
er dann vor dem nachforschenden König in aller Öffentlichkeit
für ein Maß Reis "ganz Benares innen und außen" als Wert
an.
II.
Königsgeschichten
6. Zwei Prinzen und der Sohn ihrer
Stiefmutter reißen aus und geraten an einen Brunnendämon, der
alle hinabzieht, die ihm nicht sagen können, was "Gottähnlichkeit"
sei. Der erste meint "Sonne und Mond", der zweite "Die vier Weitgegenden",
der kluge dritte "Der sündenlos, rein, gut und weise ist", errettet
nach seiner Lösung auch die Brüder und wird nach der Rückkehr
König.
7. Die Geliebte des Königs wird
schwanger und erhält den Siegelring des Königs als Pfand. Der
Sohn, als "vaterlos" verlacht, geht mit seiner Mutter, der "Holzsammlerin",
zum Palast. Dem König, der den Sohn verleugnet, antwortet die Mutter
mit einem Wahrheitseid, "so wahr der Sohn in der Luft schweben" werde,
was auch geschieht. Der Sohn wird Vizekönig, die Mutter Hauptfrau
des Königs.
8. Gamani wird König, obwohl
er der jüngste Prinz ist.
9. Makhadeva wird Mönch, nachdem
im 84. 000. Jahr seines Lebens das erste graue Haar erschienen ist, und
lebt noch weitere 84. 000 Jahre.
10. Ein Buddhaschüler offenbart,
daß er sich glückseliger als der König fühlt.
III.
Große Fabelgruppe
A)
Gazellengeschichten
11. Die schwarze Gazelle zieht zur
falschen Tageszeit von den Erntefeldern in die Berge. Die schöne Gazelle
ist klug und zieht zur richtigen Zeit, so verliert sie keine der ihren
an die jagenden Komwächter, im Unterschied zur ersten, die vereinsamt.
12. Bauern treiben die getreidefressenden
Gazellen in ein Gehege. Die Gazellen einigen sich darauf, das täglich
zu gebende Tier für die Tafel des Königs jeweils auszulosen.
Der weise Gazellenkönig geht an Stelle einer schwangeren zum Richtplatz,
wird vom König am Leben gelassen und überzeugt diesen schrittweise,
alle Gazellen, Vierfüßer, Tiere und Lebewesen überhaupt
zu schonen.
13. Ein Bergantilopenbock folgt einem
Niederungsweibchen in die Dorfnähe und fällt dort den Komwächtern
zum Opfer, während die Listige diese gewittert und sich gerettet hat,
indem sie den blind Verliebten vorausschickte.
14. Der Hofgärtner fängt
eine höchst seltene Gazelle, indem er die Gräser ihres Weideplatzes
mit Honig bestreicht und honigtriefende Gräser auf einem Weg in den
Palast ausstreut, so daß Genußsucht ihre Vorsicht besiegt.
15. Der unfolgsame Gazellenneffe des
weisen Onkels geht, weil nicht unterwiesen, in die Falle.
16. Der gefolgsame Gazellenneffe des
weisen Onkels befreit sich dagegen aus der Schlinge, indem er sich tot
stellt und den Jäger dadurch sorglos-fahrlässig macht, so daß
dieser ihn selbst aus der Schlinge herausholt.
B) Andere
Tiere
17. Löwe und Tiger streiten sich,
ob die helle oder die dunkle Monatshälfte kühler sei; der Weise
gibt realistisch den Wind als die von den Mondphasen unabhängige Ursache
der Kühle an.
18. Reinkarnationslogik: Der Opferwidder
lacht über das Ende seiner Sühnezeit, da er erkennt, daß
er selbst früher als Mensch einen anderen Widder zum Opfer getötet
hatte; er weint über das Schicksal seines Opferers. Dieser, dadurch
zu Erkenntnis und Vorsicht gebracht, will jenen schützen, aber dessen
Tod ist karmisch notwendig: Ein Blitz löst in der gleichen Nacht einen
Fels, der den Widder erschlägt.
19. Ein Opfervollstrecker dagegen
bringt sich durch Tötung der Opfertiere zu ungleich mehr moralisch-karmischem
Unheil denn sakrifiziell-religiösem Heil.
20. An den Spuren, die nur hinab in
den Teich, aber nicht wieder hinauf führen, erkennt der kluge Affenkönig
das Wirken eines Wasserdämons. Indem er das Schilf in knotenlose Rohre
verwandelt, können seine 80.000 Affen aus dem Teich mit Halmen trinken,
ohne in die Gefahr hinabsteigen zu müssen.
21. Die kluge Gazelle merkt am Winkel
und an der "Absichtlichkeit" der Sepannifrüchte, die vom Baum allzugenau
vor ihre Füße kommen, den Jäger im Baum, der sie mit dem
Speer verfehlt, "die...Höllen aber nicht verfehlen wird".
22. Hofhunde fressen das Lederzeug
der Königskutschen. Die "elenden" Hunde der Stadt werden bezichtigt;
ihr Anführer, der kluge Hund, beweist in einer kriminalistischen Argumentation
die Schuld jener, die vom König verschont worden waren, und die Unschuld
dieser "elenden", seiner eigenen Gefolgshunde.
23. Das Heldenroß bricht im
Verteidigungskrieg der Stadt gegen sieben Könige sechsmal durch die
Belagerungsringe, so daß sechs Könige gefangen werden können,
wird aber verwundet; es überzeugt die Ritter, auch den siebten trotz
seiner Verwundung gefangen zu nehmen, da kein anderes Roß das kann,
und stirbt aufgrund dieser Tat.
24. (Version von 23:) Das weise Roß,
eines von zwei Bruderrossen usw.
25. Das Königsroß verschmäht
die Badestelle, an der vor ihm ein geringeres Pferd gebadet hat. Der Weise,
der das erkennt, empfiehlt einen neuen Badeplatz, wegen der Übersättigung
und Überfeinerung des Luxuspferdes.
26. "Belehrt" durch die Gespräche
von Gaunern beim Stall wird der zahme Hofelephant plötzlich gewalttätig.
Der Weise plaziert als Gegenmittel Asketen und Brahmanen in der Nähe
des Elephanten, so daß die entgegengesetzte "Belehrung" wieder Sanftmut
des Tieres bewirkt.
27. Ein Hund, der immer an dessen
Nahrung teilhat, befreundet sich mit dem Elephanten; als der Hund gestohlen
wird, erkrankt der Elephant; der Weise erkennt die Ursache und verschafft
den Hund zurück.
28. Der gute Stier wird vom Kaufmann
im Wettrennen um 1000 Mark eingesetzt, bleibt aber einfach stehen, weil
er mit Schimpfnamen angetrieben wird. Er erklärt selbst den Sachverhalt
und bringt dem einsichtigen Kaufmann im zweiten Rennen den Sieg.
29. Der gute Stier will die Fürsorglichkeit
seiner alten Halterin vergelten und verdingt sich bei einem Karawanenführer,
ihm seine 500 Wagen durch die Furt zu schleppen. Nicht ohne Lohn; nach
versprochenem, aber nur halbgezahltem Lohn stellt er sich in den Weg, so
daß er nun die ausbedungenen 1000 Mark nach Hause bringen kann.
30. Das Schwein bekommt gute Nahrung,
die Arbeitstiere nur mäßige; dafür wird ersteres zur nächsten
Hochzeit geschlachtet.
IV
Mythischer Einschub
31. a) Der Weise, ein junger Mann,
"bekehrt" alle Dorfbewohner durch sein Vorbild; der Dorfvorsteher, der
früher durch Alkoholsteuer und Strafgelder reich geworden ist, verleumdet
die Leute beim König. Der verurteilt sie, von einem Elephanten zertreten
zu werden; durch die Magie der "guten Gesinnung" bleibt der Elephant zahm
und der König gibt den Leuten den Verleumder zum Sklaven.
b) Die vier
Frauen des Weisen – von der Aufbauarbeit im Dorf ausgeschlossen – "erhandeln"
ihre Zulassung: die älteste erstellt den Giebel, die zweite den Garten,
die drite den Teich, die vierte nichts.
c) Indra
(der Götterkönig, hier eine Inkarnationsstufe des Weisen) wirft
die Asuras (Gegengötter) aus dem Himmel, nachdem er sie berauscht
gemacht hat. Sie klettern am Meru, dem Weltenberg, empor zurück und
besiegen Indra; auf der Flucht gerät er in den Seidenwald, wo durch
den kilometerlangen Götterwagen die Himmelsadler in Lebensgefahr geraten;
da kehrt er lieber um und läßt sich besiegen, anstatt unschuldige
Wesen zu töten. Die Asuras erschrecken und werden gestürzt, da
sie glauben, er komme aufgrund von Verstärkung zurück.
d) Die jüngste
Frau des Weisen muß noch eine Tiergeburt als Kranich durchmachen
und wird vom Weisen geprüft, der Fischgestalt annimmt; sie verschont
den lebendigen (Gewaltlosigkeitsgebot).
Dann als Tochter eines Töpfers
wiederverkörpert läßt er ihr Goldgefäße zukommen
– "nur für den, der die Gebote hält"; dann als Tochter des Asurakönigs
wiedergeboren heiratet sie den Weisen.
V.
Weitere Fabeln, Fabelgut des Pañcatantra
32. Die Vierfüßler wählen
den Löwen, die Fische den Freudenfisch, die Vögel den Goldschwan
zum König. Die Tochter des Goldschwans darf sich einen Gatten wählen.
Der gewählte Pfau tanzt vor Freude und entblößt dabei schamlos
sein Hinterteil. Der Vater gibt deshalb seine Tochter seinem Schwanenneffen.
33. Wachteln entgehen dem Jäger,
indem sie auf Rat des Weisen zusammen mit dem Netz emporfliegen und das
Netz über Dornen wieder abwerfen. Sobald Uneinigkeit aufkommt, mißlingt
dieser Trick.
34. Der Fisch gerät, durch das
Tändeln seines Weibchens verwirrt, ins Netz und wird von einem hellsichtigen
Priester befreit.
35. Der Weise, in seiner Inkarnation
als Wachteljunges in einem Waldbrand zurückgelassen, besiegt das Feuer
durch Erinnerung an die Tugenden und Taten früherer Geburten.
36. Der weise Vogel erkennt Waldbrandgefahr
aus dem Rascheln und der Reibung der vertrockneten Hölzer. Die Dummen
sagen "So sieht er immer in einem Tropfen Wasser Krokodile" und werden
vom tatsächlich entstehenden Brand überrascht.
37. Rebhuhn, Affe und Elephant wollen
ihren Ältesten herausfinden: Der Elephant kennt den Bananenbaum, seit
er ihm zu den Hüften reichte; der Affe, seit er ihm zum Kopf reichte.
Das Huhn hat ihn aber vorher "gesät", indem es dort einst hingekleckst
hat.
38. Der Kranich verspricht den Fischen,
sie zu einem schöneren Teich zu tragen. Er zeigt einem diesen Teich
und bringt ihn wieder. Die Überzeugten werden jeweils nach dem Transport
am Ufer gefressen. Der Krebs, der allein übriggeblieben ist, bleibt
skeptisch und umklammert den Hals des Kranichs mit seinen Zangen. So zwingt
er diesen, ihn zum Teich zu tragen und tötet den Vogel dann doch.
VI.
Was einem zusteht
39. Der Sklave wird beauftragt, dem
Erben den Ort des Hausschatzes mitzuteilen, weil der Vater seiner Frau
nicht traut. Am Schatzort wird der Sklave regelmäßig zornig
zum Erben; der bekommt vom Weisen den Rat, doch dort zu graben, und findet
den Schatz.
40. Der Weise gibt Almosen; ein Asket
wandert vom Himalaya über Wolken zu dessen Tür; der Teufel (Mara)
will dies verhindern und bildet eine Feuergrube im Haus; der weise Almosengeber
tritt mit der gefüllten Schale des Asketen mutig hinein: ein Lotos
wächst ihm entgegen und er tritt von Duftpuder umkühlt über
den Lotos dem Asketen entgegen, ihm seine Spende zu geben.
41. Geburtenkette: Weil er einem Weisen
das Almosen nicht weiterreichen wollte, wird ein Mönch in Höllen,
Tierleibern und einer unglücklichen Existenz wiedergeboren bis zum
Ende seiner "Odyssee" in Buddhas Orden.
Anmerkung: Von diesen 41 Erzählungen
sind 25 Nummern Tierfabeln und 16 haben Menschen als Akteure. Dieses Verhältnis
kehrte sich bei einer Auszählung der nächsten 30 Stücke
um: nur noch 5 Tierfabeln gegenüber 25 Geschichten mit Menschen als
Handelnden.
Literatur:
JATAKAS, herausgegeben von V. Fausböll,
7 Bde. , London 1877-97
JATAKAS, übersetzt aus dem Pali
von J. Dutoit, 7 Bde., Leipzig 1908-21
Zu: Pañcatantra
bzw. Kalila wa dimna Auf laila wa laila (1001 Nacht),
Vetalapañcavinsati, Papageienbuch,
zum Tipitaka, dem Palikanon der Buddhisten,
natürlich auch zu den Jâtakâs;
ferner zu den europäischen "kleinen
Literaturformen ":
Äsopische Fabeln, Phaedrus,
Miracula des Caesarius von Heisterbach,
Decamerone Bocaccios,
Kalendergeschichten J. P. Hebels,
Kinder- und Hausmärchen der Brüder
Grimm (KHM),
Suasoria des älteren Seneca,
Gesta Romanorum usw.
– siehe auch die gleichnamigen Artikel
des Kindler Literatur Lexikons oder andere Handbücher und Enzyklopädien.