In mehr als
einer Beziehung unterscheidet sich das Râmâyana
wesentlich vom Mahâbhârata.
Vor allem hat es einen viel geringeren Umfang und eine viel
größere Einheitlichkeit. Während das Mahâbhârata
in seiner jetzigen Gestalt kaum noch als ein
eigentliches Epos bezeichnet werden kann, ist das Râmâyana
auch in der Form, in der es uns heute vorliegt,
noch ein ziemlich einheitliches Heldengedicht. Während ferner die
einheimische Überlieferung den Vyâsa,
einen ganz mythischen Seher der Vorzeit, der zugleich der Sammler der Vedas
und der Purânas
gewesen sein soll, zum Verfasser oder Herausgeber
des Mahâbhârata
macht, bezeichnet sie einen Dichter namens Vâlmîki
als den Verfasser des Râmâyana;
und wir haben keinen Grund, daran zu zweifeln, daß ein Dichter dieses
Namens wirklich gelebt und die im Munde der Barden verstreut lebenden Gesänge
von Râma zuerst
in die Form eines einheitlichen Gedichtes gegossen hat. Diesen Vâlmîki
nennen die Inder »den ersten Kunstdichter«
(âdikavi),
sowie sie das Râmâyana
gerne als »das erste Kunstgedicht«
(âdikâvya)
bezeichnen. In der Tat führen die Anfänge der epischen Kunstdichtung
auf das Râmâyana zurück,
und Vâlmîki ist
stets das Vorbild geblieben, dem alle späteren indischen Kunstdichter
bewundernd nachstrebten. Das Wesentliche der indischen Kunstdichtung, des
sogenannten Kâvya,
besteht darin, daß in ihr auf die Form größeres Gewicht
gelegt wird als auf Stoff und Inhalt der Dichtung, daß sogenannte
Alamkâras,
d.h. »Schmuckmittel«, wie Vergleiche, poetische Figuren, Wortspiele
usw. in großem Maße, ja im Übermaße verwendet werden.
Da werden Vergleiche über Vergleiche gehäuft; und Schilderungen,
insbesondere Natur-
*)
Die Probleme des Râmâyana
hat zuerst eingehend behandelt Albrecht Weber,
»Über das Râmâyana«
(Abhandlungen der Berliner Akademie aus dem Jahre 1870, S.1—88). Grundlegend
und zum Teil auch den folgenden Kapiteln zugrunde liegend ist Hermann Jacobi,
Das Râmâyana.
Geschichte und Inhalt. Bonn 1893. Einen guten Überblick über
die ganze Râmalitteratur
gibt Al. Baumgartner S.J., Das Râmâyana
und die Râmalitteratur
der Inder. Freiburg i.B. 1894. Manche gute Bemerkungen hat auch C.V. Vaidya,
The Riddle of the Râmâyana,
Bombay und London 1906.
— 405 —
Schilderungen,
werden mit immer neuen Bildern und Gleichnissen unendlich ausgesponnen.
Von diesen und anderen Eigentümlichkeiten der klassischen Kunstpoesie
finden wir im Râmâyana
bereits die ersten Anfänge. Während
wir also im Mahâbhârata eine
Mischung von volkstümlicher Epik und theologischer Lehrdichtung (Purâna)
sehen konnten, stellt sich uns das Râmâyana
als Mischung zwischen Volksepos und Kunstdichtung
dar.
Ein wahres
Volksepos ist es, ebenso wie das Mahâbhârata,
weil es gleich diesem Eigentum des ganzen indischen Volkes geworden ist
und — wie kaum ein zweites Gedicht der gesamten Weltlitteratur — Jahrhunderte
hindurch das ganze Denken und Dichten des Volkes beeinflußt hat.
In der (später hinzugedichteten) Einleitung zu dem Epos wird erzählt,
daß Gott Brahman selbst
den Dichter Vâlmîki aufgefordert
habe, die Taten des Râma in
Versen zu besingen; und der Gott habe ihm das Versprechen gegeben:
»So
lang' die Berge stehn, so lang'
Die Flüsse
auf der Erde sind:
So lange wird
in dieser Welt
Das Lied von
Râma weiter
leben«.
Dieses Wort
hat sich bis zum heutigen Tage als ein wahrhaft prophetisches erwiesen.
Seit mehr als zweitausend Jahren hat sich das Gedicht von Râma
in Indien lebendig erhalten, und es lebt fort
in allen Schichten und Klassen des Volkes. Hoch und niedrig, Fürst
und Bauer, der Landedelmann wie der Kaufmann und der Handwerker, Prinzessinnen
und Hirtenmädchen sind wohlvertraut mit den Gestalten und Geschichten
des großen Epos. Die Männer erheben sich an den ruhmreichen
Taten und erbauen sich an den weisen Reden des Râma;
die Frauen lieben und preisen Sîtâ
als das Ideal der Gattentreue, der höchsten
Frauentugend. Jung und alt aber ergötzt sich an den Wundertaten des
treuherzigen Affen Hanumat und
nicht minder an den schaurigen Märchen von menschenfressenden Riesen
und zauberkräftigen Dämonen. Volkstümliche Redensarten und
Sprichwörter geben Zeugnis von der Vertrautheit des Volkes mit den
Geschichten des Râmâyana.
Aber auch die Lehrer und Meister der verschiedenen religiösen Sekten
berufen sich auf das Râmâyana
und schöpfen aus ihm, wenn sie religiöse
und moralische Lehren im Volke verbreiten wollen. Und die Dichter
— 406 —
aller späteren
Zeit, von Kâlidâsa bis
auf Bhavabhûti,
haben immer wieder aus dem Râmâyana
ihre Stoffe geschöpft und sie neu bearbeitet.
Wenn wir zur neuindischen Litteratur der Volkssprachen kommen, so
finden wir schon im Anfang des 12. Jahrhunderts eine Tamilübersetzung
des Sanskritepos, und bald folgen Nachdichtungen und Übersetzungen
in den Volkssprachen vom Norden bis zum Süden Indiens. Das auf
dem alten Epos beruhende religiös-philosophische Hindigedicht Râm-carit-manâs,
um 1631 von dem berühmten Tulsî
Das verfaßt, ist für Millionen
von Indern geradezu ein Evangelium geworden. Generationen von Hindus in
allen Teilen Indiens haben die alte Sage von Râma
in solchen modernen Übersetzungen kennen
gelernt. In den Häusern der Reichen werden noch in unseren Tagen Rezitationen
des Gedichtes veranstaltet. Auch dramatische Bearbeitungen der Geschichte
von Râma,
wie solche schon im Harivâmsha erwähnt
werden (oben S.386 A.), kann man in Dörfern und Städten Indiens
bei religiösen Festen noch heute aufgeführt sehen. So wird im
nördlichen Indien, z.B. in Lahore, alljährlich das Dasahrafest
durch das »Râmaspiel«
(Râm Lîla)
gefeiert, bei welchem die beliebtesten Szenen aus dem Râmâyana
vor einer ungeheuren Zuschauermenge zur Aufführung
gelangen 1). Ob die weit über Indien verbreitete
Verehrung des Affenkönigs Hanumat als
einer Lokalgottheit und die Affenverehrung überhaupt auf die
Volkstümlichkeit des Râmâyana
zurückzuführen ist, oder ob umgekehrt
die hervorragende Rolle, welche die Affen in der Râmasage
spielen, aus einem älteren Affenkult erklärt werden muß,
mag dahingestellt bleiben. Sicher ist, daß ein Bild des Affenkönigs
Hanumat in keinem
größeren Dorfe Indiens fehlt, und daß es in vielen Tempeln
von Affen wimmelt, die mit großer Schonung und Liebe behandelt werden.
Dies ist namentlich in Oude, der alten Residenzstadt des Râma,
der Fall 2).
1)
Eine lebendige Schilderung dieses Festes nach eigener Anschauung
gibt J.C. Oman, The Great Indian Epics, the Stories of the Râmâyana
and the Mahâbhârata. London 1899,
S.75 ff. Ziemlich verworren ist die Schilderung von F. Reuleaux, Eine Reise
quer durch Indien im Jahre 1881. Berlin 1884, S. 68 f., 231.
2)
Vgl. W. Crooke, Popular Religion and Folklore of Northern India, Allahabad,
1894, S.51 ff. W.J. Wilkins, Hindu Mythology 2nd.
ed. Calcutta 1882, S.405. Paul Deussen, Erinnerungen an Indien, Kiel 1904,
S.128.
—
407 —
Râma
selbst, der Held des Râmâyana,
wurde gewiß erst nachträglich zu einer Inkarnation des Gottes
Vishnu gemacht
und dann als Halbgott verehrt. Daß dann auch das von diesem halbgöttlichen
Râma handelnde
Epos den Charakter eines heiligen Buches annahm, kann uns nicht überraschen.
So heißt es denn gleich in dem (natürlich nicht von Vâlmîki
herrührenden) ersten Gesang:
»Wer
diese reine, sündenvernichtende, heilige, mit den Vedas vergleichbare
Geschichte von Râma liest,
wird von allen Sünden befreit.
Der Mann,
der dieses lebenspendende Erzählungswerk (âkhyâna),
das Râmâyana,
liest, wird nach seinem Hinscheiden samt Kindern und Kindeskindern und
seinem ganzen Anhang im Himmel selig werden.
Ein Brahmane,
der es liest, wird redegewaltig, ein König erlangt Herrschaft über
die Erde, ein Kaufmann macht mit seinen Waren gute Geschäfte und ein
Shûdra selbst
gelangt zu Größe.«
Bezeichnend
ist auch die Sage von Dâmodara II.,
einem König von Kaschmir, der durch einen Fluch in eine Schlange verwandelt
wurde und nicht früher von dem Fluche befreit werden kann, bis er
das ganze Râmâyana an
einem einzigen Tage sich hat vorlesen lassen 1).
Aber gerade
die Volkstümlichkeit des Râmâyana
ist, wie beim Mahâbhârata,
wieder nur ein Grund dafür, daß uns das Gedicht nicht in seiner
ursprünglichen Gestalt, sondern durch Zusätze und Änderungen
vermehrt und vielfach entstellt überliefert ist. Das Werk, so wie
es uns vorliegt, besteht aus 7 Büchern und enthält ungefähr
24 000 Doppelverse (Shlokas):
was aber von diesen alt oder jung bzw. echt oder unecht ist, werden wir
erst entscheiden können, wenn wir einen kurzen Überblick über
den Inhalt des Gedichtes gegeben haben.
Inhalt
des Râmâyana 2).
Das erste
Buch, Bâlakânda (»Abschnitt
von der Kindheit«) genannt, beginnt mit einer Einleitung über
die
1)
Kalhanas Râjataranginî
I,166.
2)
Eine vollständige deutsche Übersetzung gibt es nicht. Es gibt
eine italienische Übersetzung von Gaspare Gorresio, Parigi 1847—1858
(5 Bände), eine französische von H. Fauche, Paris
1854—1858 (9 Bände),
eine englische in Versen von Ralph T.H. Griffith, Benares und London 1870—1874
(5 Bände), neu gedruckt in 1 Bd. Benares 1895, und eine englische
Prosaübersetzung von Manmatha Nath Dutt,
Calcutta 1892—94 (7 Bände). Eine abgekürzte Widergabe des ganzen
Gedichtes in schönen englischen Versen ist Romesh Dutts prächtiges
Buch 'Ramayana,
The Epic of Rama,
Prince of India, Condensed into English Verse', London 1900. Inhaltsangaben
in den (oben S.404 A.) genannten Werken von Jacobi und Baumgartner. In
gedrängtester Kürze hat F. Rückert in dem Gedicht »Ramas
Ruhm und Sitas Liebesleid« (Ges. poetische Werke in 12 Bänden,
Frankfurt a.M. 1868, III,268 ff.) den Inhalt wiedergegeben.
— 408 —
Entstehung
des Gedichtes und erzählt die Jugendgeschichte des Râma
1). Aber genau so wie
im Mahâbhârata wird
auch in diesem Buche der Gang der Erzählung durch die Einfügung
zahlreicher brahmanischer Mythen und Legenden unterbrochen; und manche
von diesen sind dieselben, die in verschiedenen Versionen auch im Mahâbhârata
vorkommen. So genügt eine Erwähnung
des Rshyashrnga,
um die uns schon bekannte Legende zu erzählen 2).
Das Auftreten von Vasishtha und
Vishvâmitra gibt
Anlaß zur Erzählung von zahlreichen auf diese altberühmten
Rshis bezüglichen Sagen. So wird namentlich die Geschichte
von Vishvâmitras Bußübungen,
die er vollzog, um Brahmane zu werden, sowie von den Versuchungen dieses
Rshi durch die Apsaras Menakâ
und Rambhâ ausführlich
erzählt 3). Zum Vishvâmitra-Sagenkreis
gehört auch die alte Sage von Shunahshepa
4). Von anderen Mythen
und Sagen seien noch erwähnt die von der Zwerginkarnation des Gottes
Vishnu (I,29), von der Geburt des Kriegsgottes Kumâra
oder Kârttikeya
(I,35—37), von den 60 000 Söhnen
des Sagara
1)
Nur dieses erste Buch ist vollständig in deutsche Prosa übertragen
von J. Menrad, »Râmâyana,
das Lied vom König Râma, ein ältindisches Heldengedicht
des Vâlmîki»
usw., München 1897.
2)
I, 9—11. Übersetzt von Otto Wilmans in »Polyglotte
der Orientalischen
Poesie« von H. Jolowicz, 2.Ausg. Leipzig 1856,
S. 83ff. Vgl.
H. Lüders in den Nachrichten der K.Ges. der Wiss. zu Göttingen,
phil.-hist. Kl. 1897, Heft 1, S. 18 ff. und oben S. 342 ff.
3)
1,-51—65. Übersetzt von Franz Bopp, über das Conjugationssystem
der Sanskritsprache usw. Frankfurt a. M. 1816, S; 159 ff.
Aus
dieser Übersetzung lernte Heine die Sage kennen, oben S. 346.
4)
1, 62, vgl. oben S. 183 ff.
— 409 —
(des Ozeans)
und der Herabkunft der Gangâ vom
Himmel 1) und von der Quirlung des Ozeans durch die
Götter und Dämonen 2).
Aus der Einleitung
sei nur die hübsche Geschichte von der Erfindung des Shloka
3) hervorgehoben:
Vâlmîki
wandelt am Ufer eines Flusses durch den Wald. Da bemerkt er ein Brachvogelpärchen,
welches lieblich singend im Grase umherhüpft. Plötzlich kommt
ein böser Jäger daher und tötet das Männchen mit seinem
Pfeile. Wie nun der Vogel sich in seinem Blute wälzt und das Weibchen
in kläglichen Tönen um ihn jammert, wird Vâlmîki
von tiefstem Mitleid ergriffen, und seiner Brust entringt sich ein Fluch
gegen den Jäger. Die Worte des Fluches aber nehmen von selbst die
Form eines Shloka an,
und Gott Brahman beauftragt
den Dichter, die Taten des Râma eben
in diesem Versmaße zu besingen.
Über
die Jugendgeschichte des Râma wird
im ersten Buch folgendes erzählt:
Im Lande der
Kosala (nördlich
vom Ganges) in der Stadt Ayodhyâ (dem
heutigen Oude) herrschte ein mächtiger und weiser König, namens
Dasharatha. Dieser
war lange Zeit kinderlos. Da entschloß er sich, ein Pferdeopfer darzubringen.
Der Seher Rshyashrnga ward
als Opferleiter für dieses große Opfer gewonnen, und er bringt
eine besonders zauberkräftige, die Erzeugung von Söhnen bewirkende
Opferspende dar. Gerade zu der Zeit hatten die Götter im Himmel von
dem Dämon Râvana viel
zu leiden. Sie wenden sich daher an Vishnu
mit der Bitte, er möge Mensch werden,
um als solcher den Râvana zu
töten. Vishnu willigt
ein und entschließt sich, als Sohn des Dasharatha
auf der Erde geboren zu werden. Nachdem also
das Pferdeopfer vollendet war, gebaren dem König Dasharatha
seine drei Frauen vier Sohne: Kausalyâ
gebar den Râma (in
welchem Vishnu sich
verkörpert hatte), Kaikeyi den
Bharata, Sumitrâ
den Lakshmana
und den Shatrughna.
Von diesen vier Prinzen war Râma,
der Älteste, der erklärte Liebling des Vaters. Von Jugend auf
aber war Lakshmana dem
älteren Bruder aufs innigste zugetan. Er war wie sein zweites Leben
und tat alles, was er ihm.nur an den Augen absehen konnte.
1)
I,38—44. Dieses Stück hat schon A.W. von Schlegel in seiner »Indischen
Bibliothek« I (Bonn 1823), S.50 ff. übersetzt. Auch A. Hoefer,
Indische Gedichte II, 33 ff.
2)
I, 45. Vgl. oben.S.332.
3)
I, 2. Übersetzt von F. von Schlegel, Über die Sprache und Weisheit
der Indier, S.266. H. Jacobi (Das Râmâyana,
S.80 f.) vermutet, daß dieser Sage das Tatsächliche zugrunde
liege, daß der epische Sloka in seiner endgültigen Form auf
Vâlmîki zurückgehe.
— 410 —
Als die Söhne
herangewachsen waren, kam der große Rshi
Vishvâmitra an den Hof des Dasharatha.
Mit ihm zogen Râma und
Lakshmana aus,
um Dämonen zu töten, wofür sie von dem Rshi
mit Zauberwaffen belohnt wurden. Visvâmitra
geleitet die Prinzen auch an den Hof des Königs
Janaka von Videha.
Dieser hatte eine Tochter, namens Sîtâ.
Sie war kein gewöhnliches Menschenkind, sondern als der König
einst den Acker pflügte, war sie aus der Erde hervorgekommen — daher
ihr Name Sîtâ,
»die Ackerfurche« — und Janaka
hatte sie als Tochter aufgezogen. Der König
besaß aber einen wunderbaren Bogen und hatte verkünden lassen,
daß er seine Tochter Sîtâ
nur demjenigen zur Frau geben werde, der diesen
Bogen zu spannen vermöchte. Viele Fürsten hatten es bereits vergebens
versucht. Da kam Râma und
spannte den Bogen, so daß er mit Donnergetöse entzweibrach.
Hocherfreut gibt ihm der König seine Tochter zur Frau. Dasharatha
wird benachrichtigt und herbeigeholt, worauf
unter großem Jubel die Hochzeit von Râma
und Sîtâ
gefeiert wird. Und viele Jahre lebten die
beiden in Glück und Wonne.