Die
wichtigsten Figuren wären uns wohl durch Vasaris
Biographien und kunstgeschichtliche Erinnerungen an die Renaissance
bekannt, wenn seine Aufzeichnungen gerade zur Stanza della Segnatura nicht
so fürchterlich durcheinandergeraten wären, daß die "Disputa"
(das Fresco gegenüber der "Philosophenschule") in die Personenzuschreibungen
der "Scuola" hineingemischt worden wäre; ein Sturm oder Schlimmeres
ist ihm offensichtlich in die Blätter gefahren; zur Gruppe
neben Aristoteles (peripatetische Schule?) erfahren wir von ihm nichts,
und die Spekulationen sind bei ihm wie auch bei zahllosen folgenden Kunsthistorikern
nicht mit Belegen oder Argumenten abgesichert. Das wenige,
das er anführt, ist voller Fehler (z.B. Pythagoras als "Evangelist
Matthäus") und Verwechslungen (z.B. Ptolemaios mit "Zoroaster"); siehe
den Anhang unten. Das
Ganze ist in großräumig-perspektivischer Symmetrie unter hohe
Tonnengewölbe mit mächtiger Raumwirkung positioniert – vergleichbar
den Gewölben des Petersdoms, die allerdings (unter Raffaels Mitwirkung)
erst noch im Planungsstadium zur Diskussion standen; als Vorbild für
diese Idealvorstellung diente dann wohl eher die damals frisch entdeckte
Domus Aurea des Kaisers Nero, deren "Grotesken" und vegetabil-ornamentalen
Deckenausmalungen ja auch durch Raffael in die Deckengewölbe der langgestreckten
Saalflure und Stanzen selbst übernommen worden sind. In
den hohen Nischen der Seitenschiff-Wände bzw. der das mittlere Tonnengewölbe
rahmenden Gewölbepfeiler, dem Betrachter zugewandt, überragen
überlebensgroß Marmorfiguren des Musenführers
Apollon auf der linken Seite und der Wissenschaftsgöttin Athene
auf der rechten die Szene. Die
Menschen im basierenden "Stockwerk" darunter sind unter den in die Ferne
gestuften, teils wie hohe Tore zum Himmelblau offenen, selbst himmlisch-sphärischen
symmetrischen Halbkreisgewölben des Bildes so verteilt, daß
eine Art Bedeutungsperspektive entsteht und mit "geistigem" Hintergrund
und "mathematisch-naturwissenschaftlichem" Vordergrund, mit linker "platonischer"
Seite unter dem formbewußten Musengott und rechter "aristotelischer"
Seite unter der klugen Technikerin, durch vier oder fünf Gruppenkonzentrationen,
aber auch Individualisierung einzelner Gestalten zwischen diesen Gruppen
das Gesamtpanorama sinnträchtig gegliedert erscheint.
Das
Zentrum bilden die bedeutendsten, alle vorherigen und folgenden Philosophen
überragenden Klassiker – Platon
und Aristoteles: Platon, der in dieser Darstellung die Gesichtszüge
des Wissenschaftlers und Künstlers Leonardo da Vinci hat, mit der
"Liebe"-Farbe Rot über violettem Untergewand, weist in den Sphärenhimmel
hinauf, der im Timaios beschrieben wird, den er
senkrecht unter dem Arm hält; der jüngere Platonschüler
Aristoteles, Elementen-farbig in himmelblaues Tuch über erdhaftem
Braun gekleidet, weist auf den Betrachter, gemäß der "Ethik",
die er von vorne waagrecht auf seine Hüfte stützt. Beide sind
gesprächshaft einander zugewandt. Links
von Platon, erkennbar an der typischen "faunischen" Physiognomie, dessen
in den Dialogen verewigter Lehrer Sokrates in Diskussion
mit dem Sokratesbiographen Xenophon, dem politisch-militärischen Hasardeur
Alkibiades und
anderen, schwer namhaft zu machenden Schülern (und vielleicht Vorgängern?
– einige deutlich ältere Männer).
Eine
zuschreibungsfreudige Deutung, die dem Fresco eine chronologische Anordnung
der Personen von links nach rechts unterlegt, verteilt die Namen der Sophisten
und Diskussionspartner mutig und beleglos in folgender Reihung:
Unterhalb
dieser Gruppe der mathematisch-musisch-spirituelle
Wissenschaftsbegründer (bzw. Gründer einer "Schule")Pythagoras,
als wesentlicher Vorläufer Platons, dem ein Araber über die Schulter
schaut, den ich hier eher als Vertreter der "arabischen" (eigentlich indischen)
Ziffern ansehen würde denn als "Averroes" (wie oft behauptet wird),
da er eben dem Urmathematiker beigesellt ist; wäre dieser Mann Averroes,
müßte er als bedeutendster Vermittler und Kommentator des Aristoteles
eher in der Nähe der Peripatetiker (also oben rechts) angesiedelt
sein. Ob
es sich bei der rätselhaften weißen Gestalt, die den Betrachter
anschaut, tatsächlich um den Neffen des Papstes Julius II. und Herzog
von Urbino, nämlich Francesco Maria della Rovere,
handelt, muß offenbleiben. Die
gelb und rot gewandete Person rechts neben diesem lichten "Engel" könnte
Empedokles meinen, aber auch das ist unsicher. In
gleicher "Zeit"-Ebene mit Pythagoras der grüblerisch-einsame Heraklit,
den Raffael erst in die Szenerie der Philosophenschule gesetzt haben soll,
nachdem er heimlich den Jeremias des "konkurrierenden" Kollegen Michelangelo
in der Sixtinischen Kapelle betrachtet habe: Der dargestellte Philosoph
hat somit die Gesichtszüge des Architekten, Bildhauers und Dichters
Michelangelo und stützt sich schreibend auf einen Marmorblock. In
der Tat ist Pythagoras Gründer einer großen
Schule der Mathematik, Musikwissenschaft und Metaphysik, während
der "dunkle" Heraklit mehr als Individualität
von poetischer Sprachgewalt "alleinbleibt", von der indirekten Wirkung
auf die Stoa abgesehen.
Der
greise Begründer der Stoischen Schule, der gestrenge Zenon, in Gespräch
mit seinem weinbekränzten "Gegner", dem hier geradezu puttenhaft-kindlichen
Epikur, Gründer der mehr diesseitig orientierten
Epikureischen Schule, ist nicht ganz in diesen pythagoreischen und sokratisch-platonischen
Flügel eingeordnet (und deshalb ist diese Zuschreibung auch völlig
unsicher, wenn nicht gar unwahrscheinlich); beide erscheinen mehr an den
Rand gedrängt, vielleicht als Gegenpol zu den Extremen gegenüber:
Raffael selbst, gleichsinnig-parallel
mit seinem Künstlervorgänger im Ausmalen der Stanzen, Sodoma,
aber es ist auch nicht ganz auszuschließen, daß es sich um
Raffaels Lehrer Perugino handelt (der in seiner eigenen Selbstdarstellung
aber eigentlich eine völlig andere Physiognomie hat).
So
wie Heraklit unterhalb von Platon
ist der etwas spätere Kyniker Diogenes
unterhalb von Aristoteles auf die
Stufen "drapiert", dürftig-locker gewandet, da er Bedürfnislosigkeit
pflegt: Gefragt nach seinem Herzenswunsch soll er Alexander dem Großen
geantwortet haben "Geh mir aus der Sonne"; es
gibt zahlreiche Ankdoten über das "Hunde"-Leben dieses kynischen (="hündischen")
Sadhus. Die
zugeordnete untere Gruppe wird von Euklid dominiert,
der als der etwas spätere Geometriker hier mit dem alten Pythagoras
auf gleiche Ebene gestuft ist und die Trigonometrie auf einer Tafel am
Boden demonstriert – man vergleiche Haltung, Tätigkeit und Schiefertafel
bei dem Meister auf der linken Seite gegenüber.
So wie Platon das Gesicht Leonardos trägt
und Heraklit zugleich Michelangelo und den Jeremias der Sixtinischen Kapelle
wiedergibt, so zeigt sich in Raffaels Euklid Gestalt und Gesicht des Architekten
und Künstlerkollegen Bramante. Oberhalb
der Euklidgruppe, auffällig einsam, vielleicht Plotinos,
der die platonische Ideenlehre und
das Sonnengleichnis mit der aristotelischen Metaphysik
zur Alleinheitslehre des Neuplatonismus verbunden
hat, die dann Grundlage der gesamten weiteren philosophischen Entwicklung
von der Spätantike und ihren Kirchenvätern
über die Scholastik des Mittelalters bis
hin zu den Platonikern der italienischen Renaissance, vor allem Marsilio
Ficino (1433-1499), wurde und desweiteren in den Rationalismus
des Barock und die Alleinheitsphilosophie des Deutschen
Idealismus (Schelling und
Hegel) einströmte. Paradox scheint die Handgeste dieses absonderlich-verbissen
anmutenden Philosophen: Er zeigt "in den Himmel hinab", der zugleich
in seine dunkelpurpurn gewandete Gestalt integriert ist, – nämlich
auf den blauen Himmelsglobus, den der Perser Zarathustra
(Zoroaster) in der Hand hält. Zarathustra
(wenn diese priesterlich-weiße Gestalt tatsächlich den großen
persischen Religionsgründer meint) wird wohl wegen der Nähe zu
den berühmten "chaldäischen Sterndeutern" und den sterngeleiteten
"Magiern aus dem Morgenland" (in der Weihnachtsgeschichte des Matthäus-Evangeliums)
als sternkundig angesehen, obwohl die bekannteste Beschreibung eines Himmelsglobus,
im arabischen Kulturraum als "Almagest" bekannt geworden, von Ptolemaios
stammen soll; eben dieser Astronom und Geograph hält hier aber bereits
die Erdkugel, auf der Kontinente und Meere ähnlich der ptolemäischen
Weltkarte verteilt sind, die sich dadurch auszeichnete, daß sie ein
gekrümmtes (bezogen auf die Nordhalbkugel) System der Längen-
und Breitengrade zugrundelegte, das für jeden in der Antike den Alexandrinern
bekannten Ort die entsprechenden Koordinaten lieferte. Aus diesen Koordinaten
konnte seit dem späten Mittelalter die entsprechende Nordhalbkugel-Karte
wieder rekonstruiert werden. Ptolemaios
hat hier ein königliches Gewand, weil er zu Raffaels Zeit noch mit
den hellenistischen Königen Ägyptens, die alle den Namen "Ptolemaios"
hatten, identifiziert wurde; gerade durch diesen "Leitfehler" ist diese
Personenzuschreibung sicher. Die
entsprechenden Gruppen oder Einzelpersonen können auf den nun folgenden
Ausschnitt-Bildern genauer betrachtet werden. Die Bilder und manche Angaben
darunter sind manchmal mit weiterführenden Seiten zu den Personen
oder zugehörigen Werken, Themen und Sachgebieten verbunden; ansonsten
kehrt der Betrachter mit einem Mausklick zum Gesamtbild oben zurück.
*
Ausschnitte:
Die
Sokrates-Gruppe
Alkibiades
Xenophon
Sokrates
Politiker
und Offizier
Historiker und Biograph Lehrer Platons
(im Symposion)
des Sokrates und Hauptredner
in dessen Dialogen
*
Die
Pythagoras-Gruppe
Araber
mit Turban – gebeugt über
den schreibenden Pythagoras (Mathematiker und
und
sein Vorgänger in der Ausmalung der Stanzen, Sodoma
(bzw.
Raffaels Lehrer Perugino)
Vasaris
"Kater Murr"-Aufzeichnungen im Raffael-Kapitel der "Lebensbeschreibungen",
hier der Abschnitt über die "Philosophenschule von Athen": Raffael
wurde von Papst Julius herzlich willkommen geheißen, und in der Stanza
della Segnatura malte er die Theologen, wie sie Philosophie und Astrologie
mit der Theologie in Einklang bringen, indem er Porträts der allerweisesten
Menschen dieser Welt, vertieft in wissenschaftliche Gespräche, dort
versammelte. Einige
Astrologen dort haben Figuren ihrer Wissenschaft und verschiedene Schemata
auf ihre Tafeln gezeichnet, die von Engeln zu den Evangelisten
getragen werden, die sie erklären sollen. Unter
diesen findet sich Diogenes mit gedankenvoller
Miene, wie er dort auf den Stufen liegt, eine Gestalt, über deren
Schönheit und unordentliche Kleidung wir staunen. Da
sind auch Aristoteles und Platon,
der eine mit der Ethik und der andere mit dem Timaios, und eine Gruppe
von Philosophen in einem Kreis um sie. Unbeschreiblich
fein sind die Astrologen und Geometriker, die dort Figuren und Schemata
mit ihren Instrumenten zeichnen. Unter diesen ist ein
Jugendlicher von bemerkenswerter Schönheit, der seine Arme in Erstaunen
ausbreitet, mit geneigtem Kopf. Das ist ein Porträt von Federigo
II., Herzog von Mantua, der sich damals in Rom befand. Eine
andere Gestalt beugt sich zum Boden hinab und hält einen Zirkel in
der Hand und dreht ihn auf einer Tafel. Man sagt, dies sei ein lebensnahes
Porträt des Architekten Bramante. Die
nächste Gestalt, die uns den Rücken zukehrt, mit einem Globus
in der Hand, ist ein Porträt von Zoroaster. Neben
ihm Raffael selbst, mit Hilfe eines Spiegels gezeichnet. Er ist ein
sehr ansehnlicher junger Mann mit anmutigem und gefälligem Antlitz,
mit einer schwarzen Kappe auf seinem Kopf. Die
Schönheit und meisterliche Ausführung der Evangelistenköpfe
ist unbeschreiblich, wie er ihnen eine Miene von Aufmerksamkeit und Sorgfalt
gegeben hat, die völlig natürlich wirkt, besonders bei denen,
die schreiben. Hinter dem heiligen Matthäus,
wie er Buchstaben von den Tafeln kopiert, die von einem Engel gehalten
werden, ist ein alter Mann mit einem Papier auf seinen Knien, der das aufschreibt,
was Matthäus ihm diktiert. Wie er in dieser unbequemen Position
steht, scheint er Lippen und Kopf zu bewegen, indem er der Stiftbewegung
folgt. Die zahlreichen kleineren Einzelheiten sind wohl durchdacht, und
die Komposition der gesamten Szene, die bewundernswert ausgewogen ist,
zeigt Raffaels Bestimmung, dieses Feld ohne Konkurrenz gegen alle, die
einen Pinsel führen, zu behaupten.