Es
empfiehlt sich, das Bild in chronologischer Entwicklung von rechts nach
links zu "lesen", nämlich so, wie
man auch die Sternbilder des Zodiakus am Himmel aufreiht, wenn man
nach Süden in den Bogen des Himmelsäquators blickt.
Dann
sind sie von rechts (Westen) nach links (Osten) chronologisch aufgereiht,
entsprechend der Folge, in der sie im Osten über den Horizont aufsteigen,
den Zenit streichen und im Westen unter den Horizont hinabsteigen, bzw.
entsprechend der Folge, in der die Sonne im Jahresgang und die Planeten
(von der Erde aus in Richtung Süden gesehen) die zwölf "Häuser"
durchlaufen:
Rechts
(im Westen also) wäre beim Blick in den Himmel der Widder
das erste Frühlings-Tierkreiszeichen (März-April), Stier
links davon das nächste, später aufgestiegene (April-Mai),
weiter links die jungen Zwillinge
(Mai-Juni).
Übertragen
wir diese Himmelsreihe auf Botticellis Bild, so bläst in der Tat Zephyr
auch von Westen, wie es sich für den milden Regenbringer des Frühlings
gehört, und der Blick bzw. die Haltung der meisten Personen des Bildes
ist nach Osten gerichtet, in Richtung des sonnigen Lichteinfalls – Merkur
steht ja der Sonne ohnehin immer recht nah, und Venus gleichfalls, wenn
auch mit etwas größeren Abständen in der sonnennahen Dämmerung:
Die
Entführung der Nymphe Chloris (die
"Grünende") durch den regenreichen, segensreichen Westwind (Zephyros)
ist Ursprung ihrer Funktion als "Blumenmutter", lateinisch Flora
- literarische Quelle dafür und auch
für die weiteren mit Floras
Frühlingslandschaft zusammenhängenden
Personengruppen des Bildes, vor allem die (hier wie in der "Geburt der
Venus" vereinzelte) Frühlings-Hora
unmittelbar neben der verfolgten Nymphe und die
drei Grazien (Chariten) der linken Bildhälfte, ist die
"Flora"-Passage in den Fasten (Fest-Kalender) des Ovid.
Venus
regiert als Planetengöttin das Sternbild
"Stier" – 21. April bis 20. Mai -
Merkur,
Sohn der Maia (vgl.
"Mai") regiert als Planetengott das Sternbild "Zwillinge" – 21. Mai bis
20. Juni
Diese
(astrologisch übliche) Zuordnung der Planeten zu den Sonnenhäusern
bzw. Tierkreiszeichen des Frühlings kommt gerade in der verschobenen
Stellung der beiden Götter im Bild so zum Ausdruck, daß sie
der zeitlichen Folge entspricht: Venus
herrscht in der Mitte der beiden Monate
so, wie es in Ovids Versen
eigentlich von Flora ("Mutter
der Blumen") behauptet wird, deren Fest, die "Floralien", in der Tat vom
28.April bis zum 3.Mai gefeiert wurde; von den Horen, den nymphenartigen
Vegetationsgottheiten des Jahreskreislaufs ist hier offensichtlich nur
die Repräsentantin der Frühlings-Jahreszeit einbezogen; Merkur
am linken Bildrand weist als Planetengottheit
der "Zwillinge" schon über den Mai hinaus.
Theoretisch
hätte Mars als
Planetengott des Widders ("März" kommt ja von "Mars", "Martialis")
am rechten Rand des Bildes den (noch) märzhaften Frühlingsanfang
und die ersten zwei Drittel des Monats April repräsentieren können,
zumal Ovids Verse gerade die Geburt des Mars
besonders schildern (nämlich im Anschluß
an die unten angeführte Stelle in der weiteren Rede der Flora):
die jungfräuliche Marsgeburt
aus der Göttermutter Juno mit
Hilfe der Flora.
Das
hätte allerdings die Ursprungsszene der Zephyr-Chloris-Vereinigung,
aus der die Frühlingslandschaft geradezu herauskeimt und hervorblüht
(bei Botticelli genauso wie eben
bei Ovid) empfindlich gestört.
Die
männliche Figur in spiegelbildlicher Entsprechung zu Merkur
ist hier Zephyros;
die Symmetrie der beiden "Flügel" ist damit schon erfüllt. In
der das Bild beherrschenden Symmetrie-Achse der Frühlingsszenerie
steht Venus mit
dem geflügelten Söhnchen Cupído.
Man
beachte die halbkreisförmige Aura um ihr lieblich geneigtes Haupt,
die sich allein durch Aussparung der Bäume und die von ihr in die
Rundung hinein aussprießenden Zweige ergibt. Im Grunde ist diese
Venus floralis
eine dritte Manifestation der Frühlingsmutter,
die zuvor schon in Chloris/Flora und
Frühlings-Hora "gedoppelt" erscheint.