Die meisten würden lieber die Willensfreiheit in Abrede stellen, als die Eigenexistenz von Geistigem einzuräumen. In der Tat ist Materie durch beständiges Wahrgenommenwerden belegt, und Geistiges demgegenüber mindestens abstrakt, fragwürdig, wenn nicht gar gespenstisch, lügenhaft. Wahrgenommenwerden ist in dem Fall gleich Existieren; was nicht in die Sinne fällt, ist bestenfalls erschlossen, als Gesuchtes, Nichtvorgefundenes, Nichtwahrgenommenes muß es auch nichtexistent sein: Wenn Geist nicht wahrnehmbar ist, ist er nicht existent, eine mehr oder weniger fromme Lüge.
Natürlich genügt es nicht, auf nichtwahrnehmbare physikalische Kräfte und Gegenstände hinzuweisen; sie sind stets als bloße Objekte erschlossen, nicht als tätige Willenswesen. Erschlossen sind sie induktiv, ausgehend von experimentell verengten Beobachtungen, also Wahrnehmungen. Erwartete Wahrnehmung belegt ihre Existenz. Solche Experimente an Geistiges anzulegen ist bedenklich: Nicht die Existenz von Nichtwahrgenommenem ist zu belegen, sondern von freien Willenswesen.
Immerhin erreicht auch die Naturauslotung mittels induktiv angesetzter Beobachtung die Grenzen des Prinzips "Wahrgenommenwerden gleich Existieren", wenn die physikalischen erschlossenen Kräfte und Gegenstände völlig unwahrnehmbar bleiben und ihre Belegstellen nur noch aus einem Meer von rein theoretischen "Existenzen" herausragen. Die erklärenden, zunächst nur erschlossenen, dann aber das Wahrgenommene hintergründig aufschließenden Kräfte, Felder, Elemente und Ordnungen sind in der Regel nicht wahrnehmbar, nur noch knapp belegt mit den experimentell erwarteten Daten.
Die so transparent gemachte, durchaus geistig durchleuchtete Natur ist damit allerdings noch nicht Geist, zeigt noch nicht irgendein willentlich tätiges Wesen. Experimente, die die Existenz von Geist beweisen, müssen Freiheit zeigen. Zunächst scheint hier aber der Widerspruch zu stecken, daß Experimente Erwartungen verdeutlichen, Freiheit aber über Erschlossen-Erwartetes hinausgehen muß und schöpferische Originalität erweisen muß.
Hier stehen zwei Suchrichtungen einander entgegen: die sinnliche Seite, physikalisch erläutert, und eine behauptete Freiheit, die sich nur erweisen kann, wenn sie in irgendeiner Weise, um ein noch so geringes Maß, über die pure Objektwelt bewegter Willenslosigkeit hinausreicht. Psychologen geben die sinnlichen Ursachen der sinnlichen Wirkungen an; Künstler und Metaphysiker suchen über diese Erschließung hinauszugreifen.
Denn diese Polarität scheint ja fast noch spannender, in die Extreme gespannter zu sein als der von materialer Sinnlichkeit und immaterieller Geistigkeit: Unabschließbarkeit in der Fülle schöpferischer Gestaltungen einerseits, Unveränderlichkeit eines in sich ruhenden Ewigen andererseits. Diese Spannung treibt uns dazu, vor der weiteren Untersuchung der Existenzfrage des Geistigen das Verhältnis von schöpferischer Originalität und Zeitenthobenheit, Ewigkeit, näher zu begreifen.
Nehmen wir an, sie sind verschieden voneinander, wie es ja auch scheint, fragt sich, ob eines der beiden vom anderen abhängt, vom anderen bestimmt wird, einsinnig oder wechselseitig, verwiesen auf ein drittes oder ohne solch eine Vermittlung.
Ewiges also ist entweder Ergebnis des schöpferischen Aktes oder sein eigentlicher Ursprung. Oder der schöpferische Akt ist Ergebnis eines Ewigen oder dessen Ursprung – wie jeder sieht die gleiche Frage, nur vom anderen Ende her neu gestellt.
Oder: Ewig ist das Ergebnis des schöpferischen Aktes, wenn dieser im Ewigen seinen eigentlichen Ursprung nimmt. Solch ein freies Sichverhalten und Sichorientieren an einem Prinzip wäre eher Sache der bewegend-beweglichen schöpferischen Handlungskraft als eines in sich ruhenden Ewigen, das außer sich keiner Orientierung bedarf.
Am ehesten wohl versucht freies Schaffen sich wohl am Ewigen auszurichten, es zu beschreiben, darzustellen, zu bestimmen, und all dies mit besonderem Ehrgeiz, wenn dieser Orientierungspunkt sich als unbeschreiblich, abstrakt und unfaßbar zeigt beziehungsweise entzieht, so daß in höchstem Maße schöpferisch genannt werden muß, wenn eine Handlung Unbeschreibliches zu umschreiben versucht, Allumfassendes in einer faßlichen Gestalt zu fassen versucht oder die Fremdheit dessen, was keinem Sinn als Eigenschaft erfahrbar wird, als die Vertrautheit des eigensten, innersten Wesens allen Bewußtseins entdeckt.
Im höchsten Maße schöpferisch wäre eine Handlung, die Nichtvorhandenes hervorbringt, die – um auch dies noch ins Extrem zu treiben – ewig Nichtgegebenes in ewig Dargebotenes verwandelte, – aber hier verschiebt sich der Begriff des Ewigen: Ein Nichtvorhandenes ist das Ewige selbst, Geist für die Sinne; wenn es nun in einem ewigen Ausdruck gefaßt werden soll, so ist dieser ein allzeitlicher, nicht mehr ein zeitenthobener Ausdruck, eine alle Zeiten währende Anschauung und Vergegenwärtigung.
So – gewiß zu hoch ausgreifend – ein Entwurf, eine Skizze dessen, was über das Verhältnis von schöpferischer Handlung eines Geistes zur Ewigkeit des Geistes vermutet werden kann. Aber wir möchten diese Grundfigur hier zunächst festhalten: Schöpferische Handlung als die Stelle des Ganzen, in der Ewiges umschrieben, dargestellt, ausgestaltet wird zum Ausdruck des Unbeschreiblichen, zur Gestalt des Gestaltlosen, zur Versinnlichung des Zeitenthobenen. Wenn Geist nicht existiert, so ist es Aufgabe einer originell tätigen Intelligenz, seine Beschreibung und Ausgestaltung hervorzubringen, das Nichtvorhandene in den Ausdruck des Unbeschreiblichen zu wenden und zu zeigen, daß es doch immer da war, vertraut, allen eigen, allen zutiefst die ureigenste Existenz, der Geist aller Wesen, das Wesen aller Wesen, das allein Existierende.
Um die Tragweite des Gedankens deutlicher zu machen: Wenn ein geistiges, also frei aus sich selbst tätiges Wesen existiert, muß es auch ohne physikalische Voraussetzungen wirken können, eine Eigenkraft über die sinnlich wahrnehmbare Leiblichkeit der uns bekannten tätigen Vernunftwesen hinaus haben können. Gewiß, in die Welt hinein, aber eben aus seiner eigenen Ewigkeitsorientierung hervor in die zeitliche Welt. Gibt es das? Ist es überhaupt denkbar?
Natürlich zeigt das bloße Fragen in dieser ebenso wie in jeder Sache schon ihre Denkbarkeit an; zu ihrer Wirklichkeit über die am Ende nur negative Möglichkeit hinaus mag die Einräumung, das gutgläubige Zugestehen der Bejahung beitragen. Wir müssen sehen, ob solch eine glaubende Intepretation ausreicht. Erstarrte Gläubigkeit, Glauben im landläufigen Sinn, würde allerdings dem lebendigen Aufgreifen und Interpretieren des schöpferischen Impulses eher entgegenstehen. Liebe erfüllt unsere Hoffnung eher als formalisierter Glaube.
Schönheit erregt Liebe und Bewunderung: Sie ist sinnlicher Ausdruck originell schöpferischer Hintergründe eines Lebens, eines geheimnisvollen Lebens hinter dem Leben. Natürliche Harmonie, Anziehungskraft und Reiz der geliebten Menschen, ihre Anmut vor aller willkürlichen Verfälschung - liegt allerdings im Auge des liebenden Berachters: Verehrung ist die Interpretationsweise, die schöpferischen Geist eröffnet, zumindest zugesteht.
Zwei verschiedene Phasen oder Reichweiten der schöpferischen Interpretation sinnlicher Gegebenheiten auf ihren geistigen Ursprung sind hier wohl zu unterscheiden: eine, die sich ursprünglich, in der ersten Genialität freier Schöpfung entfaltet, und eine nachschaffende, mehr rezeptive, die sich bis zur Verwirrung der Gesichtspunkte und Erlebniswege in der Vielfalt der Ausdrucksgesten, Ausprägungen, Gestaltungen und Empfindungen verzettelt. Die erstere ist im eigentlichen Sinne geistig-tätig, die zweite läßt sich in jedem einzelnen Fall von Schönheitserleben "im Auge des Betrachters" auf psychologische Momente reduzieren, "zurückerklären", so daß ihr ästhetischer Reiz willkürlich, individualisiert, bedeutungslos, kaum mitteilbar, in keinster Weise verallgemeinerbar – und letztlich wesenlos wird. Das reißt auch die Urphase schöpferischer Geistigkeit in die Beliebigkeit der Betrachtungsweisen und des "Schönfindens" hinab.
So, wie ein "Konsens" darin besteht, daß Geist nicht existiere, obwohl doch jeder Freiheit spontan beansprucht, so besteht eine allgemeine Übereinkunft auch darin, daß es ein alle erschütterndes Schönes, ein alle entflammendes ästhetisches Wunder nicht geben könne. In der Tat muß jede Pflicht zur Bewunderung und Verehrung, zu Erstaunen und Ekstase die freie Liebe zum Bewundernswerten, Erstaunlichen, Entzückenden mindern, aufheben, zunichtemachen. Diesen Niedergang trägt Religion in sich. Erst frei von ihr läßt sich ihr freier Geist würdigen, das Kunstwerk erkennen, das jede von ihnen in sich hervorgebracht hat. Besteht Zweifel daran, daß die Evangelien die Schöpferkraft eines Wesens beschreiben, das immer neu die Ewigkeit des göttlichen Ursprungs in die menschliche Sinnenwelt hinein entfaltet? Daß der Qur’an das Ewige in sprachlicher Gestalt ausgeführt sehen wollte? Von den Upanischaden und der Bhagavad-Gita ganz zu schweigen.
Daß der blütenhafte Drang zur Vielfalt dann auch viel mehr als die parteienstiftende Rechthaberei den Reichtum an Mythen, Anschauungs- und Erfahrungsweisen der Interpretation des Ewigen ins Zeitliche hinein hervorgebracht hat, verstärkt unsere Frage nach dem Eigenwesen, der von materiellen Bedingungen unabhängigen Kraft des Geistigen. Religiös gesehen ist es die Frage nach Unsterblichkeit und nach der Wirkkraft himmlischer Wesen, die mehr sind als bloße Auffüllungen der Atmosphäre mit Wolkengesichtern und personifizierten Lichtblicken. Obwohl Wolkenfarben für uns eine Verwandschaft mit den Gemütskräften von milder Sorglosigkeit bis zum Zorn haben und die Blicke des Lichts gerade das Beispiel urschöpferischer Geistigkeit sein können, denen unser Auge bloß rezeptiv nachfolgt, bildkräftig, selbst ein Wundergebilde unbekannter lebensgestaltender Hintergründe.