"Der Geist weht, wo er will"
(Joh 3,8) –
es gibt kein "Müssen" in geistigen Verhältnissen, nur Empfehlungen.
Man muß nicht alles
haben, aber Luft zum Atmen, Wasser zum Trinken, Nahrung zum Essen, Zeit
zum Schlafen, zum Denken, zum Arbeiten, zu Gesprächen – das sind gewiß
Lebensnotwendigkeiten. Geistiges Atmen, Trinken, Essen und Sichaustauschen
ist vielleicht nicht lebensnotwendig, aber doch überlebensnotwendig,
sofern wir aus Bewußtsein bestehen. Zu dieser Nahrung des Bewußtseins
gehören einige Substanzen, die durch Denken, Lesen und Lernen vermittelt
werden.
Man muß nicht lesen
können, aber es empfiehlt sich, lesen zu können.
Man muß nichts von
dem verstehen können, was über die eigene Generation und den
eigenen Sprachraum hinausgreift, nicht einmal die Grundlagen der eigenen
Kultur, aber es empfiehlt sich, einige der alten Schlüsseltexte zu
entziffern, wenn man über den kurzen Tag des privaten Erinnerungsraumes
hinausleben will, wenn man eben geistig überleben will.
Man muß also gewiß
nicht alles lesen, aber es gibt Texte, in denen die Keimkegel,
Samenkörner und Nährsubstanzen der geistigen Selbst-Verständigung
konzentriert sind. Sie sind in der Altsprache der jeweiligen Hochkultur
geschrieben (Altchinesisch, Sanskrit, Hebräisch, Griechisch, Latein,
Koran-Arabisch, Mittelhochdeutsch).
Die folgende Liste führt
nur einige wenige dieser Kerne auf, in die die Keimbahnen des geistigen
"Überlebens" der Menschen in den Kulturräumen unserer kleinen
Mutter Erde eingeschrieben sind:
China:
Von der immensen Literaturfülle dieses Jahrtausende alten Milliardenvolkes
sollte zumindest ein kleines Textchen (Reclam, sehr klein, sehr schmal)
in jeder Haus- oder Jackentaschen-Bibliothek stehen oder stecken: Das "Tao-Tê-King"
(dao dö djing) des alten Weisen Lao-tse (ca. 500 v.Chr.)
Kern
des Kerns: Den ersten
Satz des ersten Kapitels sollte man (auswendig) zitieren können:
dào-kê dào = fei cháng dào
–
míng-kê míng = fei cháng míng "weisungs-fähige
Weise = nicht ewige Weise – nennungs-fähiger Name = nicht
ewiger Name"
Indien:
Von der gewaltigen religiös-philosophischen Literatur dieses gleichfalls
Jahrtausende alten Milliardenvolkes sollte zumindest ein kleines schmales
Reclambändchen in jeder Jackentaschen- oder Hausbibliothek stecken
oder stehen: Die "Bhagavad-Gîtâ"
(ca. 2.Jhd.v.Chr.) Das ist nur eine Dünnschliff-Scheibe aus dem großen
indischen Epos "Mahabhârata". Wir übergehen hier das zweite
indische Groß-Epos, das Ramâyana,
ferner die Upanischaden,
die Rgvedahymnen,
die Gedichte, Erzählungssammlungen und Dramen dieses Kulturkreises.
Mesopotamien:
Jahrtausende einer mehrschichtigen Kulturentwicklung, schon vor der Hochblüte
der europäischen Kulturen "vergessen" bzw. ins kollektive Unbewußte
abgedrängt. Konzentrat für die Jackentasche bzw. die 2-cm-Hausbibliothek
jedes Schülers: das Gilgamesch-Epos
(2. Jahrtausend v.Chr.) Die Freundschaft von Gilgamesch und Enkidu über
den Tod hinaus. Alt, archaisch, urtümlich, urwüchsig, gewaltig.
Israel:
Die Bibel (die gesamte!) Wer das erste Buch des Alten Testaments
namens "Genesis"
nicht vollständig gelesen hat, dem entgeht die "schönste Geschichte
der Welt" (nach dem Urteil des Korans); und wer nicht wenigstens ein einziges
der vier
Evangelien vollständig gelesen hat (Markus
ist das kürzeste), dem wünschen wir einen gesunden Schlaf.
Von irgendwas muß sich ja sein Geist nähren, und "den Seinen
gibt's der Herr im Schlaf" (Psalm 127,2).
Das
ist nun kein dünnes Reclamheftchen mehr, wir sind bei unserer eigenen
Hochkultur angekommen.
Griechenland:
Die "Odysseia"
des Homer. Wie der Verstand in langsamer Heimfahrt gleichsam in einer weiten
Spiralbewegung um die Selbstidentifikation ("Ich") am Ende endlich, endlich!
nach Hause kommt. Ein uralter Text von vollendeter Schönheit und realistisch
gesättigter Klugheit. Wer keinen Lesegenuß sucht, darf die Odyssee
nicht lesen.
Die
Antike schätzte übrigens das andere Epos des Homer höher
ein: die Ilias. Das erste Kapitel ist fürwahr ein erzählerisches
Meisterstück: Begründung des "Zorns des Achilleus", der sich
vom Kampf um Troja zurückzieht (Thema der Ilias).
Eine
der griechischen Tragödien sollte man gelesen haben, etwa den König
Oidipous des Sophokles.
Mindestens einen Platondialog,
etwa den Menon, den Phaidros,
den Phaidon
oder das Symposion.
Wir
übergehen hier nur ungern die Theogonie
des Hesiod, die Schriften des Wissenschaftlers aller Fächer Aristoteles,
die weiteren Tragödien des Aischylos, Sophokles und Euripides und
das Geschichtswerk des Herodot. Empfehlenswert ist das alles in hohem Maße,
nur will diese Liste sich auf die "Keimbahn" beschränken.
Rom:
Die "Metamorphosen"
des Ovid. Sie enthalten alle antiken Mythen in elegant-flüssiger Versform.
Wir übergehen die großen Dichter (Horaz, Vergil)
und die Historiker (Livius, Tacitus).
Islam:
Zwei Suren (Lieder, Kapitel) des Koran
sollte man (möglichst auswendig) kennen: die erste (al
fatiha) und die 97. (lâjlât
al qadri), möglichst in Friedrich Rückerts Übersetzung.
Die
Eingangsformel aller Koransuren (= erster Satz der ersten Sure) sollte
man arabisch zitieren können:
bi-smi-'llâhi
'r-rachmâni 'r-rachîmi "Im
Namen Gottes des Allbarmherzigen, des Allerbarmers!"
Ach
ja, wer hat schon die Rückert-Übersetzung der Sure 97, lâjlât
al qadri?Nun
ihr! Hier:
Wir
sandten ihn hernieder in der Nacht der Macht Und
weißt du, was ist die Nacht der Macht? Die
Nacht der Macht ist mehr als was In
tausend Monden wird vollbracht Die
Engel steigen nieder und der Geist in ihr Auf
ihres Herrn Geheiß, daß alles sei bedacht Heil
ist sie ganz und Friede, bis der Tag erwacht.
Europäisches
Mittelalter: Der "Parzivâl"
des Wolfram von Eschenbach (1200 n.Chr.) Wer 15 oder 16 Jahre alt ist,
meine lieben Neunt- und Zehntklässler, der sollte die Bücher
III (Parzivâls Kindheit und Aufbruch) bis VI (Erleben
des Grâls) lesen. Dann mag man fünf Jahre warten, bis man
das wichtigste Buch dieses Epos, das neunte
Buch nämlich, liest, wo der Grâl durch den Einsiedler Trevrizent
erklärt wird.
Die
wichtigsten der von den Brüdern Grimm gesammelten Märchen(und auch das von Runge gefundene Märchen vom "Machandelboom")
sollte man so gut kennen, daß man sie selbstständig erzählen
kann. Sie sind die wertvollsten Stücke unserer Literatur; nicht einmal
Novalis und Goethe
konnten solche Meisterstücke fertigbringen, trotz beachtlicher Versuche.
So.
Das Älteste und Elementare jenseits unseres neuhochdeutschen Tellerrands
(die Tischplatte
mit ihren vier Beinen auf festem Boden) ist hiermit genannt und begründet.