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Ethik
(2)
Zugang zu philosophischen und religiösen Fragen [Hans Zimmermann] |
"Ethik"
und "Religion" sind die beiden einzigen Schulfächer, die durch
das sächsische Schulgesetz definiert werden.
Die Definition des Faches Ethik (Schulgesetz für den Freistaat Sachsen, § 19 Absatz 2) lautet: |
Verständnis für gesellschaftliche Wertvorstellungen und Normen sowie Zugang
und religiösen Fragen vermittelt." |
Erster
Brief – Literaturempfehlungen für Leser, die das Schwimmen im Wasser
selbst lernen wollen
Die ersten amüsanten Teile haben damit zu tun, wie man überhaupt etwas definieren kann. Schrittfolge der Fragen:
Was ist überhaupt Tugend? Wie läßt sich überhaupt etwas definieren? Wie kann ich überhaupt etwas bestimmen, von dem ich noch keine klare Erkenntnis habe? - Vom Sklavenbeispiel springen wir über zwei Steinklippen im Fluß ans neuzeitliche Ufer, zu Immanuel Kant. Zu dem Zwecke bräuchtest Du beizeiten eine Kritik der reinen Vernunft. Willst Du Dir eine ausleihen? oder kaufen – es ist der Standard-Klassiker in der Philosophie, wie das Nestle-NT für die Theologen oder Neefs "Gesicht der Erde" für Geographen. Die beiden Flußfelsen sind: Platons Staat, und zwar die beiden "Gleichnisse" in der Mitte des Werkes – Ende des sechsten Buches und Anfang des siebten: 505-518 – Sonnengleichnis und Höhlengleichnis (dazwischen die "Linien-Analogie", Bestimmung des Verhältnisses von geglaubter Sinnenwelt und gewußter Wissenschaft). Der Schlüsselbegriff, der von Platons "Sklavenexperiment" in den Anfang der Kritik der reinen Vernunft hinüberführt ist das "Erkennen durch Sicherinnern (an vorgeburtliche Weisheit)", die "anamnesis". videbimus.
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Zweiter
Brief – Platons "anamnesis" und Kants "synthetische Urteile a priori"
Nein, systematische Kurzdurchgänge müssen auch sein, 1. weil sie versprochen, 2. weil sie fruchtbar, 3. weil reizvoll sind. Allerdings bieten eben diese Literaturstellen einen wesentlichen Kurzdurchgang, eine Art "Wurmloch" durch die philosophische Tradition. Zunächst einmal zum Sklavenexperiment des "Menon": Es zeigt auf, daß wir einige Kenntnisse in uns tragen, die nicht innerhalb des jetzigen Lebens, innerhalb des vom Gedächtnis abgesteckten jetzigen Erfahrungsrahmens, gesammelt sein können, sondern "älter" sind und über das in diesem Leben Gelernte hinausreichen. Wir bringen sie mit der Geburt mit, sei es als Gehirnstrukturen (biologische Grundlage), sei es als Ergebnis der Lernvorgänge früherer Leben, sei es als selbständige, "selbstverständliche" logische Basis aller Lernvorgänge und Erfahrungen überhaupt. Sind diese Vorkenntnisse bloße Gehirnstrukturen, wäre allerdings zu fragen, wie das Gehirn zu solchen Strukturen kommt, denn genau betrachtet handelt es sich nicht um irgendwelche Einzelheiten – etwa, nach welchem Instinktmuster wir Häuser bauen und Pilze züchten (wie Termiten und Ameisen) – sondern um die allgemeingültigen und notwendigen Strukturen des Wissens, wie sie in Mathematik und Geometrie zum Ausdruck kommen: eben z.B. (im Menon) der Satz, daß das Quadrat über der Diagonale den doppelten Flächeninhalt des Ausgangs-Quadrats hat; die Notwendigkeit solch eines geometrischen Satzes zeigt sich daran, daß er sich anschaulich "demonstrieren", am Abzählen der zusammengelegten Dreieckshälften des Ausgangs-Quadrats im verdoppelten neuen beweisen läßt.
(Der platonische Himmel vorgeburtlicher Lernerfahrung ist ja kein "früheres Leben" im Sinne der Wiederverkörperung, sondern die überzeitliche Sphäre des Wissens selbst, in der sich der Verstorbene verantworten muß und von der aus er zu neuen Taten "hinabgesandt" wird.) Damit haben wir (in "Wurmloch"-Verkürzung des Traditionsweges) auch den wichtigsten Begriff der neuzeitlichen, auf Immanuel Kant aufbauenden Philosophie: Solche Bewußtseinsstrukturen, die allen Bewußtseinsinhalten zugrundeliegen, sie ermöglichen und zur Weltkenntnis eines bewußten Ich zusammenschließen, heißen (bei Kant) "a priori" oder (mit einem Adjektiv) "apriorisch". Mit einem älteren Ausdruck (seit Aristoteles) werden die apriorischen Grundideen als "Formen" bezeichnet, obwohl wir sie vielleicht eher als die wichtigsten "Inhalte" des Denkens ansehen könnten; aber der Gegenbegriff zu "Form" ist hier nicht "Inhalt", sondern "Materie" im Sinne von Empfindungs-Material. Bei Kant ist es so, daß alles außen aufgegriffene Empfindungs-Material durch die apriorischen "Formen" des Bewußtseins erst inhaltlich wird, begriffen wird, zur Einsicht kommt. Ist diese Einsicht informativ, sind die entsprechenden Urteile "synthetisch"; reflektiert das Prädikat des Urteils nur Aspekte des Satz-Subjekts, ohne wirklich neue Einsichten darzubieten, bleibt das Urteil "analytisch". Sätze der Metaphysik sollten "synthetische Urteile a priori" sein: Sie zu suchen ist die selbstgestellte Aufgabe Kants in der "Kritik der reinen Vernunft". Platonisches Erbe: Die Formen, Denkstrukturen, Bewußtseinsstrukturen, logischen Notwendigkeiten im Wissen sind nicht innerhalb des gedächtnisweiten jetzigen Erfahrungsraumes "erworben", sondern entstammen älteren oder tieferen oder überhaupt den tragenden Schichten des Wissens: Sie sind "a priori", d.h. sie sind Voraussetzung, Vorbedingung, und zwar nicht irgendwelche Begleitumstände oder Anlässe, sondern die für alle Dinge, Vorgänge, Ereignisse und Zusammenhänge notwendigen und unverzichtbaren Wissensgrundlagen, die in den Wissenschaften allerdings erst aufgedeckt und ausformuliert werden. Dem Alltagsbewußtsein sind diese Grundlagen nicht in wissenschaftlicher Ausformulierung deutlich; das gibt dem geburtsartigen Zutagefördern und "Sich-Wiedererinnern" des Schülers, zur Not unterstützt durch einen geburtshelfenden Lehrer, den besonderen Reiz: Das grundlegende Wissen liegt in jedem verborgen, es ist bereits da, es kann durch geschickte und konsequente Selbstbefragung (die einen Lehrer bloß zum Kontrollspiegel oder "Monitor" hat) aufgedeckt, zutage gefördert, zur Einsicht gebracht werden. Lernen durch solches "Wiedererinnern" heißt bei Platon "anamnesis"; die Geburtshilfe seitens eines sokratischen Lehrers heißt "Maieutik". Das, was in der anamnesis, unterstützt durch einen maieutischen Sokrates, zum Bewußtsein oder gar zur Wissenschaft kommt, sind die apriorischen "Formen" des Wissens selbst. Beispiele dafür sind die Sätze der Geometrie, der Mathematik, der Logik und – wenn Philosophie ihren Ansprüchen auf Selbstbegründung und Selbstrechtfertigung gerecht wird – auch der Erkenntnistheorie, der Metaphysik und der Ethik. |
Dritter
Brief – Sonnengleichnis und Neuplatonismus
nicht nur das Vermögen, gesehen zu werden, sondern auch das Werden und Wachstum und Nahrung, unerachtet sie selbst nicht Werden ist. Wie sollte sie das sein! Ebenso nun sage auch, daß dem Erkennbaren nicht nur das Erkanntwerden von dem Guten komme, sondern auch das Sein und Wesen habe es von ihm, obwohl das Gute selbst nicht das Sein ist, sondern noch über das Sein an Würde und Kraft hinausragt.
Und nun gleich auch die kühne Behauptung (aber mit demütiger Vorsicht in der Politeia nur kurz angesprochen), die Quelle unseres Bewußtseinslichtes sei identisch mit der Quelle allen Seins und Werdens – dies sei jedenfalls zu vermuten, wenn wir die Sonne als sinnliches Analogon unserer Bewußtseins-Lichtquelle nähmen. Nun: Ich glaube zu wissen, daß ausgehend von dieser kühnen Analogie die ganze europäische Philosophie (im Wechselverhältnis mit Religion und durchaus geradezu parallel zu der Entwicklung von Sâmkhya, Yoga und Vedânta in Indien) durch die Jahrhunderte und Jahrtausende eine ganz interessante Synthese durchgemacht hat: Die philosophischen Inhalte wurden immer stärker auf "einen einzigen zentralen Schlüsselgedanken" konzentriert.
Man merkt es schon an der Stoa bei Cicero: Platon ist der Urvater, und das Gefälle geht auf den Neuplatonismus zu. Darin vereinigen sich der Platonismus der Stoa (die den Alten viel eher beerbt hat als etwa die Akademie) und ein systematisch konzentrierter "Aristoteles" zu einem schlüssigen Systemgedanken, der dem Christentum soghaft nahe steht und seit Augustinus (wenn nicht schon seit Clemens und Origenes) in das Christentum (Trinität!) einfließt. Das einzige, was es wirklich gibt, ist "to hen", das Eine, Gott (christlich: der Vater) – die Bewußtseins-"Sonne" des Sonnengleichnisses in Platons Politeia. Dieses verständigt sich mit sich selbst durch den "logos", vergleichbar unserem Denken, wo das Wissen im Bewußtsein zu sich kommt oder auf sich zurückgewandt ("in sich reflektiert") ist – das Erkenntnis-"Licht" im Sonnengleichnis, bestehend aus dem Ineinander aller Ideen, aller apriorischen "Formen". Als lebendige Denkbewegung findet sich das Eine durch den Logos hindurch im Leben der "psychê", der Weltseele verwirklicht (Diskussion des Mittelalters: ob das wirklich mit dem hlg. Geist identisch sei), die wiederum im schattenhaften "Nichtsein" der Körper (oder gemäß Platons Konzept: in der Verräumlichung) zergliedert, vereinzelt und individualisiert wird. Der Geist "im Exil" der Materie, aus der er sich in sein lichtes Sichwissen zurücksehnt; erkennende "Erinnerung" beginnt den entsprechenden Rückweg. Das göttliche Eine strahlt also Ideen aus wie ein großes Welten-Ich, und diese werden durch das Hier und Jetzt der Verräumlichung und Verzeitlichung individualisiert zu den Dingen und Lebewesen, die wir kennen. Interessant wird es mit dem aristotelischen Einschlag innerhalb des Neuplatonismus, der auch den systematischen Aristotelismus des Mittelalters vorbereitet: Die Wirklichkeit der Dinge und Lebewesen ist Ergebnis ihrer Verwirklichung, d.h. eines Sich-Hineinarbeitens der ideellen Formen (z.B. einer Pflanzengestalt oder eines architektonischen Hausbau-Plans) in das als bloße Möglichkeit vorliegende (eigentlich noch-nicht-wirklich-seiende) Material. So ergeben sich Entwicklungs-Bewegungen wie beim Wachstum und bei der Ausführung eines Vorhabens. Materien, Material, Stoff - ist bloße Möglichkeit, für sich selbst ohne Existenz, ins Leben und in die Wirklichkeit gerufen erst durch ideelle Form, die sich daran konkretisiert. Wissen, Bewußtsein, Planung, Verfügungskraft und Handlungsmacht des Handelnden, der die Form in den Stoff hinein-"wirkt", geben ihm erst "Wirklichkeit", "en-ergeia". Schöpferische Vernunftwesen verwirklichen sich in den bloß möglichen (für Formung offenen) Stoff hinein zu lebendigen Welten. Danach mögen sie das, was der "logos" (ihr eigener logos bzw. der allen gemeinsame) hineingewirkt hat, auch erkennend wieder "herausholen". Diese, die "aristotelische" Seite des mittelalterlichen Neuplatonismus, ist offensichtlich zugleich die Vollendung und Ausführung des "Sonnengleichnisses" in Platons Politeia: Die Ideenquelle, die unsere Bewußtseine zum anamnetischen Aufleuchten bringt und uns Einsichten gibt, ist zugleich Formenquelle aller natürlichen und kulturellen Gestaltungen. |
Vierter
Brief – Boethius: "ESSE"
Gipfel aller sich verwirklichenden Form sei die Idee des Seins selbst, bloßes "zu SEIN" (im Infinitiv); alles Seiende (Partizip) habe teil an diesem puren "zu SEIN" (ESSE) und strebe dessen reines "zu SEIN" werdend an; "zu SEIN" ist ein ansonsten qualitätsloses reines Sichvollziehen, der "actus purus", Gott, der ist, indem er sich weiß, und sich weiß, indem er ist - aber eben nicht als ein Seindes unter anderem, sondern als das SEIN (vollendet sich zu verwirklichen, sich in Wirklichkeit zu vollenden) aller sein-wollenden, das SEIN empfangenden Wesen. Sie empfangen es, indem sie sehnsuchtsvoll am schaffend sich-mitteilenden SEIN teilhaben, es als Geschöpfe empfangen und in sich entwickelnder Angleichung an (und Aufnahme in) das SEIN auch anteilsweise "sind". Alle Lebewesen, auch alle Planetenbewegungen und die Erkenntnisfortschritte der Menschen, streben dabei eines an, nämlich die pure Wirklichkeit des Allbewegenden, das selbst nicht von anderem verursacht oder bewegt wird. Dieser Allbewegende bewegt dabei nicht durch einzelne Aktionen (wie eine Person), sondern dadurch, daß es von allem geliebt wird, als Vollendung aller Bestrebungen nach Vollkommenheit, eben als die selbstgenügsam überströmende Ideenquelle des Vollkommenen selbst (in Platons Sonnengleichnis: "to agathon" – lateinisch "bonum"). Das zieht alles an, hinauf, in die Wirklichkeit des sich-selbst-genießenden allseienden Wesens hinein. Wirklich sind alle Wesen nur dadurch, daß sie an der Wirklichkeit der selbstgenügsamen Vollendung, bloß "zu sein" (und in in diesem Sichsein zugleich sich zu "wissen"), orientiert sind, auch wenn sie wahre Vollendung und pures "zu sein" in der selbstgenügsamen Fülle des "Einen" nicht erreichen. Anhang: Hegel, Wissenschaft der Logik (Anfang von Teil 1, Objektive Logik): Erster Abschnitt Bestimmtheit (Qualität) Das Sein ist das unbestimmte Unmittelbare; es
ist frei von der Bestimmtheit gegen das Wesen sowie noch von jeder, die
es innerhalb seiner selbst erhalten kann. Dies reflexionslose Sein ist
das Sein, wie es unmittelbar nur an ihm selber ist.
A. SEIN Sein, reines Sein, –
ohne alle weitere Bestimmung. In seiner unbestimmten Unmittelbarkeit
ist es nur sich selbst gleich und auch nicht ungleich gegen Anderes, hat
keine Verschiedenheit innerhalb seiner noch nach außen. Durch irgendeine
Bestimmung oder Inhalt, der in ihm unterschieden oder wodurch es als unterschieden
von einem Anderen gesetzt würde, würde es nicht in seiner Reinheit
festgehalten. Es ist die reine Unbestimmtheit und Leere. –
Es ist nichts in ihm anzuschauen, wenn von Anschauen hier
gesprochen werden kann; oder es ist nur dies reine, leere Anschauen selbst.
Es ist ebensowenig etwas in ihm zu denken, oder es ist ebenso nur dies
leere Denken. Das Sein, das unbestimmte Unmittelbare ist in der Tat Nichts
und nicht mehr noch weniger als Nichts.
B. NICHTS Nichts, das reine Nichts; es ist einfache Gleichheit
mit sich selbst, vollkommene Leerheit, Bestimmungs- und Inhaltslosigkeit;
Ununterschiedenheit in ihm selbst. –
Insofern Anschauen oder Denken hier erwähnt werden kann,
so gilt es als ein Unterschied, ob etwas oder nichts angeschaut oder gedacht
wird. Nichts Anschauen oder Denken hat also eine Bedeutung; beide werden
unterschieden, so ist (existiert) Nichts in unserem Anschauen oder Denken;
oder vielmehr ist es das leere Anschauen und Denken selbst und dasselbe
leere Anschauen oder Denken als das reine Sein. –
Nichts ist somit dieselbe Bestimmung oder vielmehr Bestimmungslosigkeit
und damit überhaupt dasselbe, was das reine Sein ist.
C. WERDEN
a. Einheit des Seins und Nichts Das reine Sein und das reine Nichts ist also dasselbe.
Was die Wahrheit ist, ist weder das Sein noch das Nichts, sondern daß
das Sein in Nichts und das Nichts in Sein –
nicht übergeht, sondern übergegangen ist. Aber
ebensosehr ist die Wahrheit nicht ihre Ununterschiedenheit, sondern daß
sie nicht dasselbe, daß sie absolut unterschieden, aber ebenso ungetrennt
und untrennbar sind und unmittelbar jedes in seinem Gegenteil verschwindet.
Ihre Wahrheit ist also diese Bewegung des unmittelbaren Verschwindens des
einen in dem anderen: das Werden; eine Bewegung, worin beide unterschieden
sind, aber durch einen Unterschied, der sich ebenso unmittelbar aufgelöst
hat.
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