Wozu Latein?
A.: In den letzten Tagen war ich ein paar Mal im Stadtarchiv,
um etwas über die ersten Jahrhunderte unseres Gymnasium
Augustum zu erfahren: Franziskanerklosterschule,
Lateinschule, Melanchthons Schüler usw. Ein Stundenplan aus dem 18.
Jahrhundert (natürlich auf Latein) zeigt, daß fast alle Unterrichtsstunden
ein Teilfach von Latein oder Griechisch waren, bis auf das kleine Wörtchen
„arithmetica“ zwischendrin. Also ein bißchen gerechnet wurde auch
- im antiken Sprachkleid: Euklids Geometrie im Urtext – sonst aber nur
übersetzt und kommentiert, es wurden Reden nach antiker Rhetorik geübt,
es wurde in den griechischen
Versmaßen des Horaz gedichtet, gesungen
natürlich auch, aber alles auf Latein. Überall in diesem
Stundenplan kam geradezu das Grundgewebe zum Vorschein: Latein, Latein,
La- -
B.: Eine Kokosmatte von Etüden! Zöpfe von Stroh: „displicent
nexae philyra coronae“ – „verhaßt sind mir um Bast gewundene Kränze“
(Horaz). Ist etwas schon
deshalb gut, weil es alte Tradition ist, vor allem, wenn es dermaßen
übertrieben wird? Diese Mumienwickelei an toten
Sprachen, und noch Griechisch, und noch
Hebräisch, wie wäre es mit neu- und
altbabylonisch? Wozu soll das gut sein?
A.: Latein ist nicht nur Tradition, sondern der eigentliche Träger
der literarischen Überlieferung, für viele Jahrhunderte überhaupt
der einzige Wissensträger, bis Melanchthon das Quellenstudium am Griechischen
wieder eingeführt hat. Du weißt ja: Die ersten vier Schulleiter
waren Schüler dieses Humanisten. Gewiß müßten wir
selbst auch Griechisch vermitteln: In dieser Erweiterung und Vertiefung
bestand die eigentliche Gründung dieses Gymnasiums, über die
Lateinschule hinaus; und außerdem ist die griechische Literatur viel
interessanter: Philosophie, Geschichte, Dichtung – in
all dem waren die Griechen den Römern das kaum erreichbare Muster.
Auch Whitehead, der mit Russell zusammen in den Principia Mathematica die
moderne Mathematik auf logische Grundlagen gestellt hat, sagt, daß
alle Philosophie nur aus Fußnoten zu Platon besteht.
Und der Ulisses
von James Joyce – ist das nicht eine Variation zu Homers Odyssee? Wie
in den anderen großen Epen der Menschheit, in den ersten und ältesten
- Gilgamesch, Aeneis, Perceval,
Don Quixote – das sich suchende Bewußtsein, die Irrfahrt, die Suche
nach dem Ursprung!
B.: Genug, genug! Was ist denn „ältest“ an dem verrückten
Spanier? Wenn du schon so dicht an die Gegenwart heranrückst, nennst
du wohl gleich noch Kubricks „2001, Odyssee im Weltraum“ – -
A.: Sagtest du Odyssee?
B.: Kommen wir nach Hause! Wäre es nicht besser, die geistige
Energie der Schüler und ihre Gedächtniskapazität zum Lernen
von Neusprachen zu nutzen?
A.: Gewiß. Warum nicht gleich die meistverbreitete und damit wichtigste
Sprache auf Erden? Sieh zu: Ein Fünftel der Menschheit spricht Chinesisch,
dreimal so viel wie Englisch. Na? Ich sehe schon, das ist dir zu neu. Und
die Tausende
von Schriftzeichen ... also wenigstens für die Schrift bleibst
du gewiß lieber bei Latein.
B.: Ja, bei lateinischer Schrift und arabischen Ziffern.
A.: Indischen, um genau zu sein. Wir sind multikulturell von jeher – und
kennen unsere Wurzeln so schlecht!
B.: Bleib praktisch. Schlüsselfähigkeiten, meinetwegen von
der Schrift bis zum Dezimalsystem und darüber hinaus, sind wichtiger
als – - als deine Wurzelforschungen.
A.: Also gut: Latein ist ein Schlüssel nicht nur für die Quellen
des Altertums, der Religion, der Philosophie, der Geschichte, führt
nicht nur hinab zu den Müttern der Wissenschaften, hinauf zu den Sternen
der Mythen und Lieder, sondern bedeutet auch Logik,
haarfeine Sprachanalyse, Sprachreflexion.
B.: Logik üben wir mit Mathematik!
A.: Unbestritten, siehe Whitehead. Nimm einfach an, daß die Sprachreflexion
bei der Konstruktion der Sätze, beim Aufdröseln der Satzperioden
Caesars und Ciceros, vielleicht
organischer ist, inhaltlich gesättigter, zugleich ästhetisch,
seelenformend -
B.: Wird man davon also schwärmerisch, so wie du? Ich habe gehört,
die eigene Sprache würde trocken, quadratisch-praktisch-gut, römischer
Beton usw.; und andere fürchten, daß man von zuviel Latein einen
überladenen Satzbau bekomme, bestenfalls endlos ausufernd wie bei
Thomas Mann. Wer will das schon! Vielleicht schüttelst du uns besser
etwas Knappes, Witziges aus dem Ärmel? Schnupftabak aus dem Archivstaub?
A.: Horaz, s.o., deine „Bastkränze“. Oder Martial. Oder die kernigen
Sentenzen der Bibel.
B.: „Neuer Wein in alten Schläuchen“, Mk
2,22. Und am Ende geht meine Zunge, gespickt mit Zitaten und Fremdwörtern,
auf Stelzen.
A.: Well roared, lion (über den Löwen von Ovids "Pyramus und
Thisbe" in Shakespeares "Midsummer night dream")! Aber wenn du zu Fuß
gehst, wirst du doch den Schlüssel nicht gleich wegwerfen: Fremdwörter
sind die „Vertrautwörter“ der Fachsprachen vieler Wissenschaften,
jedenfalls aller Wortbildungen, die älter sind als das Fachenglisch
der letzten Jahrzehnte und das Fachchinesisch künftiger Jahrhunderte.
B.: Englisch ist knapper.
A.: Als Chinesisch
(!?!!) oder als Latein? Ja, Einsilbigkeit ist praktisch, die Bauweise
lateinischer Wortendungen ist allerdings systematischer. Und das verkürzt
den Ausdruck auf systematischem Wege.
B.: Klar. Aber auf die Computer-Tastaturen paßt DEL oder ALT
besser als – -
A.: DELEATUR oder ALTERNATIO? Lateinisches Englisch, internationale Begrifflichkeit.
Das Wort Computer ist lateinisch: „Rechner“. Weiß der Himmel, warum
wir das englisch aussprechen müssen (vgl "Waterloo", das liegt in
Belgien, oder "Gladiator", als Filmtitel). Wenn im Englischen wissenschaftliche
Wort-Neubildungen versucht werden, schöpft man meistens aus dem romanischen
Drittel seiner Wörter. Und für die nicht gerade kleine Welt der
spanisch-, portugiesisch- oder französischsprachigen Länder Europas
und Amerikas – deren Sprachgemeinschaft ist übrigens größer
als die englische – ist das gewiß nicht unangenehm.
Natürlich lernt man umgekehrt diese drei Sprachen – und besonders
das Italienische – vom Lateinischen aus leicht und schnell.
Es war die Sprache der gelehrten Verständigung, der Diskussion,
die gesamteuropäische Sprachbrücke schlechthin. Dieses Gemeinsame
bleibt noch in den Fremdwörtern der Neusprachen und erleichtert die
Wissenschaftsdiskussion. Die Altsprachen geben unserer Kultur das Selbst-Bewußtsein
- und ein Gedächtnis von dreitausend Jahren.
A.: Keineswegs! Die griechische Wissenschaft strömte einst in die
syrische und arabische Literatur,
von dort im Mittelalter durch die Lateinübersetzer in Toledo wieder
zu uns. Und wieviel Römisches lebt heute
noch in den beiden Amerikas, sei es in den hippodamischen Straßennetzen,
diesen Schachbrettmustern, sei es in den politischen Institutionen und
ihren lateinischen Namen!
Entschuldige mich, ich muß weiter; Kopien aus dem Archiv sichten.
Vielleicht finde ich „Neues
aus alten Gewölben“? Bis bald!
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