AENEIS (lat.; Das Epos des Aeneas).
Hauptwerk des Publius VERGILIUS MARO (70-19 v. Chr.), das bedeutendste
und berühmteste Werk der lateinischen Dichtkunst. Die zwölfjährige
Arbeit an der Aeneis hat die Lebenskraft Vergils aufgezehrt: als er im
Jahr 19 v. Chr. starb, hatte er noch nicht die letzte Feile angelegt.
Das mythische Motiv der genealogischen
Verwurzelung in Troja - durch die Person des pius Aeneas - ist von dem
latinischen Lavinium aus Etrurien übernommen worden (zur Zeit der
Befreiung Latiums von etruskischer Vorherrschaft, Anfang des 5. Jh.s v.
Chr.); von dort wurde es wenig später auf Rom übertragen. Die
griechische Tradition des Aeneas-Stoffes reicht vom Epischen Zyklus (Epikos
Kyklos) über Stesichoros bis hin zu Dionysios aus Halikarnassos; die
erste lateinische Gestaltung des Themas finden wir bei Gnaeus Naevius.
Kurz vor 200 v. Chr. hat er in seinem Epos Bellum Poinicum die mythische
Herleitung Roms von Troja besungen. Besondere Bedeutung für die spätere
Zeit erlangte das von Naevius (vermutlich nach dem Vorgang des griechischen
Historikers Timaios aus Tauromenion) der Aeneas-Sage eingefügte Motiv
von der in Haß umschlagenden Liebe zwischen Aeneas und Dido, das
dem Konflikt von Rom und Karthago mythische Verankerung und Begründung
schafft. - Nach einer weiteren epischen Bearbeitung durch Qnintus Ennius
(in den Annales) und nach mannigfacher Ausformung und Variation durch die
übrige Tradition (Marcus Porcius Cato Censorius; Marcus Terentius
Varro) hat Vergil den Stoff abschließend und vollendend so dargestellt,
daß für eine weitere Steigerung kein Raum mehr blieb.
1: Die Troer werden aus einem von
Iuno, ihrer Erbfeindin, verursachten Seesturm durch Iuppiters Eingreifen
nach Libyen verschlagen. Die karthagische Königin Dido nimmt sie gastfreundlich
auf.
2: Aeneas erzählt Dido von
der Eroberung und Zerstörung Trojas und von seiner Flucht.
3: Er schildert seine Irrfahrten
und Abenteuer zu Wasser und zu Land.
4: Ausbruch der längst erwachten
Liebe Didos zu Aeneas. Iuppiter befiehlt Aeneas die Weiterfahrt. Dido vermag
ihn nicht zu halten, verflucht ihn und tötet sich selbst.
5: Die Aeneaden erreichen Sizilien
und begehen Leichenspiele zu Ehren von Aeneas' Vater Anchises, der dort
verstorben und begraben ist(Rückgriff auf Buch 3).
6: Aeneas steigt in die Unterwelt,
Anchises verkündet ihm in einer großartigen Heldenschau seine
und seiner römischen Nachfahren künftiges Geschick.
7: Mit einer Anrufung an Erato,
die Muse der Liebespoesie, beginnt Vergil die zweite Hälfte, den "größeren
Zusammenhang" (7, 43 : "maior rerum mihi nascitur ordo"), seines Epos:
die Aeneaden landen in Latium, es entspinnt sich ein langwieriger Kampf
zwischen ihnen und den Latinern, die mit den Rutulern unter Turnus verbündet
sind; Lavinia, Tochter des Königs Latinus, ist der Kampfpreis, der
die machtvolle Zukunft eines neuen Imperiums verbürgen soll.
8: Aeneas bittet König Euander,
der auf dem Palatin residiert, um Hilfstruppen. Euanders Sohn Pallas ist
ihr Anführer. Vulcan fertigt für Aeneas eine Waffenrüstung
mit einem kunstvollen Schild (hier werden ein weiteres Mal bedeutende römische
Gestalten der Zukunft vorgeführt).
9: Turnus überfällt in
Abwesenheit des Aeneas das troische Schiffslager. Das troische Freundespaar
Nisus und Euryalus wird beim nächtlichen Spähgang getötet.
10: Aeneas kehrt mit Pallas und
etruskischen Hilfstruppen zurück. Pallas fällt durch Turnus.
Aeneas tötet den Etruskerkönig Mezentius und dessen Sohn Laurus.
11: Nach einem Waffenstillstand
kommt es zu neuem Kampf. Auf latinischer Seite fällt die sabinische
Heldenjungfrau Camilla.
12: Zwischen Aeneas und Turnus wird
ein Duell vereinbart. Die Rutuler brechen den Vertrag. Im offenen Kampf
überwindet Aeneas den Turnus.
Die gewaltige Wirkung der Aeneis
scheint vornehmlich auf der meisterlichen Fügung dreier Elemente zu
beruhen: der vollendeten Sprache, der architektonisch klaren Komposition
und der theologisch tiefen Geschichtsdeutung. Wie mit Cicero die lateinische
Kunstprosa, so erreicht mit Vergil die römische Dichtersprache ihren
Höhepunkt; ohne der artifiziellen Manier Ovids zu verfallen, ist es
Vergil gelungen, sich weit über die unbeholfene Sprödigkeit eines
Lukrez zu erheben. Er erreicht eine mustergültige Synthese aus Reichtum
und Kargheit, Herbheit und schmeichelndem Klang. Zum Verständnis des
dichterischen Aufbaus der Aeneis und der Geschichtsspekulation Vergils
muß man unbedingt das Phänomen der Imitation Homers berücksichtigen.
Nur vor dem Hintergrund der Homerischen Epen kann man das Wesen der Vergilischen
Aeneis voll zu erfassen suchen; denn Vergil hat in ganz einzigartiger Weise
Homer studiert und verehrt, der ihm als der eine Dichter von Ilias und
Odyssee galt, und seine Konkurrenz zu dem Archegeten der epischen Poesie
ist gleichzeitig huldigend und wetteifernd (aemulatio). Eben darin manifestiert
sich, was man mit dem in der Antike für alle literarischen Gattungen
gültigen Kunstbegriff imitatio bezeichnet. Die Homer-Nachahmung Vergils
erstreckt sich von den kleinsten bis zu den größten Bausteinen
seines Epos und vollzieht sich nach einer Typologie mannigfacher Abstufungen
(etwa Übersetzung, Anspielung, Reminiszenz, Überbietung, Umkehrung,
Umdeutung, Kontamination verschiedener Elemente des Vorbilds usw.).
Ein illustratives Beispiel hierzu
bietet der Gesamtentwurf der Aeneis, mit dem Vergil entschlossen die Chronologie
von Ilias und Odyssee umkehrt, um so die beiden Großepen dem Umriß
seines einen Gedichtes einzufügen: auf die der Odyssee nacheifernde
erste Hälfte Irrfahrten und Abenteuer in Buch 1 bis 6 - läßt
er in den nächsten sechs Büchern mit den Kämpfen in Latium
eine "Ilias-Hälfte" folgen. In dieser Großstruktur zeigt sich
auch die Kraft des Vergilischen Geschichtsdenkens, das die Geschlossenheit
der mit dem Tod Hektors (d.h. mit der Vorausdeutung auf den schon besiegelten
Untergang Troias) endenden Ilias und der in der Heimkunft des Odysseus
sich vollendenden Odyssee jeweils aufbricht, beide Handlungen verschmilzt
und auf eine große Zukunftsdimension hin neu ordnet. Die Handlung
der Aeneis entfaltet sich aus der Aineias-Prophetie der Ilias (20, 293-308),
in der Poseidon dem Aineias und seinen Nachfahren das Überleben beim
Fall Troias und ewige Herrschaft verheißt, ohne daß jedoch
davon bei Homer später noch die Rede wäre. Diese göttliche,
jetzt durch Iuppiter ausgesprochene und im Weltenplan der Fata (Geschicke)
unabänderlich verankerte Verheißung hat auch Vergil seinem Aeneas
mitgegeben: der Untergang Troias wird so umgedeutet in den Aufstieg Roms.
Gleichzeitig geht aber auch der Homerische Odysseus in den Vergilischen
Aeneas ein. Wie jener nach Ithaka, so darf dieser nach langer qualvoller
Irrfahrt nach Latium heimkehren. Dabei wird die Heimkunft des Odysseus
- ursprünglich Abschluß und Ausklang - bei Vergil zum Anfang
und mächtigen Auftakt - der Neugründung eines Weltreiches (vgl.
den Beginn des 7.Buches). Anders als in der Odyssee ist so bei Vergil der
vom Fatum und dessen Garanten Iuppiter vorgezeichnete entsagungsvolle Schicksalsweg
des Aeneas nicht autonomes Element in der Gestalt des Heros, sondern einem
höheren Ziel untergeordnetes Funktionsglied. (Als Zeitgenosse der
Augusteischen Friedensherrschaft hat Vergil für Rom eine mythisch-historische
Vergangenheiten entworfen; aber er läßt in den großen
Prophetien und Zukunftsvisionen von jenem fernen Fluchtpunkt aus die wirkenden
Kraftlinien römischer Geschichte nicht nur bis in des Autors eigene
Zeit, sondern noch weit darüber hinaus auch in die für den Dichter
fiktive Zukunft Roms hineinreichen: denn dem römischen Weltreich sind,
wie Iuppiter sagt - 1,279 "imperium sine fine dedi" - weder in räumlicher
noch in zeitlicher Hinsicht Grenzen gesetzt).
Zur Verdeutlichung, wie sich die
Auseinandersetzung mit dem griechiscben Vorbild im Detail vollzieht, soll
kurz eine Szene des 6. Buches skizziert werden (6, 450-416). Es sind die
Verse, in denen der Kompositionsbogen ausschwingt, der von der Aufnahme
in Karthago (Buch 1) über die Erzählung vor Dido (Buch 2 und
3) und die dramatische Dido-Handlung des 4. Buches zu den Anchises-Episoden
des 5. und 6. Buches geführt hat. Im 4. Buch mußte Aeneas wegen
eines höheren Schicksalsauftrages Dido verlassen. In der Unterwelt
begegnet er ihr zum letzten Mal, dort, wo die Seelen derer weilen, die
selbst Hand an sich legten. Die ganze Szene ist einem Stück aus der
Odyssee - der Begegnung des Odysseus mit der Seele des Aias (Odyssee 11,
541-567) - nachgestaltet, dokumentiert aber gerade hierbei die in der Homerimitation
ganz eigenständig sich entfaltende Dichtkunst Vergils.
(1) Die Verse 450-455 beschreiben,
wie die Gestalt Didos langsam herankommt. Sie wird mit dem durch Wolken
nur undeutlich sichtbaren Mond verglichen: ein Bild nicht nur Ihrer Schemenhaftigkeit,
sondern auch ihrer Schönheit. Gleichzeitig aber ergibt sich eine Verknüpfung
mit dem 1. und dem 4. Buch und eine Beziehung zur Gestalt des Aeneas (in
Buch 1 wird Dido mit der Mondgöttin Diana, in 4 Aeneas mit deren Bruder
Apollo verglichen). War so vor dem Höhepunkt im 4. Buch das Verhältnis
zwischen Aeneas und Dido durch die leise Anspielung auf das Goschwisterverhältnis
der beiden Götter doppelt vorbereitet, so genügt jetzt, nach
der Katastrophe, ein leichter Hinweis, um diese Bedeutungen wieder anklingen
zu lassen und auf den Versuch des Aeneas hinzuleiten, das tragische Ende
ihrer Beziehung ungeschehen zu machen.
(2) 456-460: In rhetorischer Frage
bestätigt sich der Heros selbst das unglückliche Geschick der
Geliebten und beteuert, daß er sie ganz gegen seinen Willen verlassen
habe. Vielmehr haben ihn die Anweisungen der Götter dazu gezwungen,
deren Wille ihn auch jetzt in die Unterwelt führte (461-465): er vermochte
damals nicht zu ermessen, welchen Schmerz er ihr zufügte, und so bittet
er sie jetzt um Verzeihung. Doch die Geliebte weicht vor ihm zurück.
Er beschwört sie, die letzte Möglichkeit einer Aussprache zu
nutzen: mit sanften Worten redet Aeneas auf die empörte und trotzige
Dido ein und sucht sie durch Tränen zu rühren (466-468). Wiederum
wird eine vorangegangene Passage, die große Abschiedsszene des 4.
Buches (4, 3O5-392), aufgegriffen und in ihrer Bewegungsrichtung umgekehrt:
war dort Dido die Flehende, Aeneas der Unerbittliche, so ist hier Aeneas
der Bittende und Dido die Unbeugsame.
(3) 469-477: Dido steht ungerührt,
starr wie die Felskuppe im Kaukasus. Schließlich wendet sie sich
ab und weicht zurück in einen dunklen Hain, wo ihr fruherer Gatte
Sychaeus sie erwartet. Weithin gibt ihr Aeneas unter Tränen das Geleit.
Auch in der Homerischen Begegnung von Odysseus und Aias muß der eine
Partner feststellen, daß er den Untergang des andern verursacht hat:
auch dort beteuert der Urheber des Leides seine Unschuld; auch dort zeigt
sich der zur Versöhnung Aufgeforderte stumm und abweisend. Aber welch
neue Tiefe hat Vergil seiner Szene verliehen! Ist die Homerische Episode
in sich geschlossen, so weist die Szene bei Vergil weit über sich
hinaus: sie ist mythische Begründung der kriegerischen Auseinandersetzung
zwischen Rom und Karthago; in ihr wird der von Dido im 4. Buch ausgesprochene
Fluch über Aeneas und seine Nachkommen d.h. Rom, endgültig besiegelt.
Versuchte bei Homer Odysseus aus Neugier mit Aias zu sprechen, so drückt
sich in Aeneas' Bemühen um eine Aussöhnung mit Dido die ganze
Tragik dieser von den Göttern nicht begünstigten und deshalb
gescheiterten Liebe aus: will Odysseus eine private Kunde einholen so unternimmt
Aeneas einen letzten, verzweifelten Versuch, das drohende Unheil dreier
furchtbarer Kriege abzuwenden.
Schon im 1 Jh.n.Chr erhielt die
Aeneis ihren Platz als Schullektüre, der ihr bis heute geblieben ist.
Trotz mancher Kritiker Vergils (obtrectatores Vergili), die den Dichter
zum gedankenlosen Plagiator stempeln wollten, hat sich sein Ruhm, vor allem
auf Grund der Aeneis, immer mächtiger durchgesetzt. Nicht unwesentlich
haben dazu die Vergil-Kommentare der Grammatiker beigetragen: den bedeutendsten
verfaßte um 400 n. Chr. Servius, der Schüler Donats. Dem gesamten
Mittelalter galt Vergil nicht nur als der größte römische
Dichter sondern als der Dichter schlechthin; die Vergil-Verehrung in Dantes
Divina Commedia ist dafür das beste Beispiel. Erinnert sei auch an
Heinrich von Veldekes Epos Eneide (1170-1190). Auch im ersten, "lateinischen",
Jahrhundert des Humanismus (etwa 1350-1450) behauptete Vergil seinen Rang;
allmählich aber trat ihm der für den Westen wiederentdeckte Homer
an die Seite. Einen vorläufig letzten Höhepunkt erreichte das
Ansehen Vergils schließlich in der Poetik des Julius Caesar Scaliger
(1484-1558), der den Römer als den größten aller Dichter
feierte und ihn weit über Homer stellte. In den folgenden 200 Jahren
hat dann Homer - auf Kosten Vergils - immer größere Anerkennung
gefunden, wenn auch das beginnende 17. Jh. (1608-1617) mit dem dreibändigen
Monumentalwerk des spanischen Jesuiten Juan de la Cerda die größte
und reichhaltigste Vergil-Kommentation aller Zeiten hervorbrachte. In Deutschland
versuchte gegen Ende des 18. Jh.s Göttinger Gelehrte Christian Gottlob
Heyne eine Vergil-Renaissance einzuleiten; Frankreich besaß im 19.
Jh. in Saint-Beuve einen bedeutenden Vergil-Verehrer; in derselben Epoche
schufen zwei Engländer, Conington und Nettleship, den grundlegenden
modernen Kommentar zur Aeneis. Den entscheidenden Aufbruch zur neueren
Vergil-Forschung und Vergil-Verehrung markiert Richard Heinzes Buch Vergils
epische Technik (1903); weitere Anregungen brachten die vielen Aufsätze
und Festvorträge, die im Jahr 1930 anläßlich von Vergils
2000. Geburtstag erschienen sind.
Quelle: "R.Ri." in "Kindlers
Literatur Lexikon", München 1986, S.815 f
Publius
Vergilius Maro
zwischen
den Musen der Geschichtsschreibung (Kleiô, links)