[35.
SchwankendeMeinungdesMenondarüber,obdieTugendlehrbar ist] SÔ.
ô Menôn, Anutos men moi dokei chalepainein,
kai ouden thaumazô:
oietai gar
me prôton men kakêgorein toutous tous andras,
epeita hêgeitai
kai autos einai eis toutôn.
Sokrates: O Menon, Anytos
scheint mir böse zu sein. Das wundert mich auch nicht.
Denn erstlich glaubt er, daß
ich diese Männer lästere,
und dann hält er sich selbst
auch für einen von ihnen.
all' houtos
men ean pote gnôi hoion estin to kakôs legein,
pausetai chalepainôn,
nun de agnoei:
su de moi eipe,
ou kai par' humin eisin kaloi k'agathoi andres?
Allein, wenn er einmal einsehen
wird, was es sagen will, Übles nachreden,
dann wird er schon aufhören,
böse zu sein, jetzt aber weiß er es nicht.
Du aber sage mir, gibt es nicht auch
bei euch gute und rechtschaffene Männer?
kai homologein
didaskaloi te einai kai didakton aretên?
Sokrates: Wie nun? Werfen
sich diese wohl zu Lehrern auf für (b) die Jugend
und sagen, sie wären Lehrer
und die Tugend lehrbar?
MEN.
ou ma ton Dia, ô Sôkrates, alla tote
men an autôn akousais hôs didakton,
tote de hôs
ou.
Menon: Nein, wahrlich nicht,
sondern manchmal würdest du von ihnen hören, sie wäre lehrbar,
manchmal auch wieder, sie wäre
es nicht.
SÔ.
phômen oun toutous didaskalous einai toutou
tou pragmatos,
hois mêde
auto touto homologeitai?
Sokrates: Und die sollten
wir alsLehrer in dieser Sache ansehen,
die hierüber noch nicht einmal
einig sind!
MEN.
ou moi dokei, ô Sôkrates.
Menon: Nein, dünkt mich.
SÔ.
ti de dê; hoi sophistai soi houtoi, hoiper
monoi epangellontai,
dokousi didaskaloi
einai aretês?
Sokrates: Oder wie, diese
Sophisten, die sich allein dafür ausgeben,
dünken dich diese Lehrer der
Tugend zu sein?
[95c] MEN.
kai Gorgiou malista, ô Sôkrates, tauta
agamai,
hoti ouk an
pote autou touto akousais hupischnoumenou,
alla kai tôn
allôn katagelai, hotan akousêi hupischnoumen:
alla legein oietai
dein poiein deinous.
Menon: Eben das, Sokrates,
bewundere ich so vorzüglich am Gorgias,
daß du ihn gewiß nie
dergleichen versprechen hörst:
vielmehr lacht er auch über
die andern, wenn er sie es versprechen hört.
Nur im Reden meint er andere stark machen
zu können.
SÔ.
oud' ara soi dokousin hoi sophistai didaskaloi einai?
Sokrates: Also auch du hältst
die Sophisten nicht für Lehrer?
MEN.
ouk echô legein, ô Sôkrates.
kai gar autos
hoper hoi polloi pepontha:
tote men moi
dokousin, tote de ou.
Menon: Ich kann nichts darüber
sagen, Sokrates.
Denn es ergeht mir wie den meisten;
bisweilen glaube ich es, bisweilen
auch wieder nicht.
SÔ.
oistha de
hoti ou monon
soi te kai tois allois tois politikois touto dokei tote men einai didakton,
tote d' ou,
[95d]
alla kai Theognin
ton poiêtên oisth' hoti tauta tauta legei?
Sokrates: Und du weißt
doch,
daß nicht nur dir und andern
Staatsmännern so bisweilen scheint, dies sei lehrbar,
bisweilen auch wieder nicht;
sondern auch der Dichter Theognis, weißt
du doch, sagt dasselbe. (d)
MEN.
en poiois epesin;
Menon: In was für Versen?
[36.
Gegensätzliche Aussagen des Theognis über die Lehrbarkeit]
SÔ.
en tois elegeiois, hou legei –
Sokrates: In den Elegien,
wo er sagt:
Theognis 33-36
kai para toisin
pine kai esthie, kai meta toisin
ize, kai andane
tois, hôn megalê dunamis.
esthlôn
men gar ap' esthla didaxeai: ên de kakoisin
[95e] summisgêis,
apoleis kai ton eonta noon.
Also zu denen beim Trunk und beim
Mahle geselle dich, denen
Suche gefällig zu sein,
welche die trefflichsten sind.
Denn von den Guten ist Gutes zu lernen,
doch in der Gesellschaft
Schlechter verlierest du leicht
auch den Verstand, den du hast
oisth' hoti
en toutois men hôs didaktou ousês tês aretês legei?
Merkst du wohl, daß er hier
von der Tugend spricht, als wäre sie lehrbar?
MEN.
phainetai ge.
Menon: Offenbar.
SÔ.
en allois de ge oligon metabas, –
Sokrates: Anderwärts
aber weicht er davon ab und sagt:
Theognis 434-438
ei d' ên
poiêton, phêsi, kai entheton andri noêma – legei pôs
hoti –
pollous an
misthous kai megalous epheron
hoi dunamenoi
touto poiein, kai –
ou pot' an
ex agathou patros egento kakos, [96a]
peithomenos
muthoisi saophrosin. alla didaskôn
ou pote poiêseis
ton kakon andr' agathon.
"Ließ der Verstand sich machen
und fest einpflanzen den Menschen,
Großen und herrlichen Lohn
trügen dann jene davon",
die dies verstünden; und
"Nimmer aus gutem Geblüt
würde dann einer verrucht, (96 a) in heilbringender Zucht aufwachsend!
Allein durch Belehrung
schaffst du den schlechteren Mann
nimmer zum Guten dir um."
ennoeis hoti
autos autôi palin peri tôn autôn t'anantia
legei?
Siehst du, wie er hier über
dieselbe Sache wiederum das Gegenteil sagt?
MEN.
phainetai.
Menon: Das ist klar.
SÔ.
echeis oun eipein allou hotououn pragmatos,
hou hoi men
phaskontes didaskaloi einai
ouch hopôs
allôn didaskaloi homologountai,
all' oude
autoi epistasthai,
alla ponêroi
[96b] einai peri auto touto to pragma
hou phasi
didaskaloi einai,
Sokrates: Kannst du nun wohl
irgend etwas anderes nennen,
worin die, welche sich für
Lehrer ausgeben,
ich will nicht sagen: nicht für
Lehrer der andern anerkannt werden,
sondern nicht einmal dafür,
daß sie es selbst verstehen,
vielmehr für untauglich in
eben der Sache,
worin sie Lehrer zu sein behaupten?
hoi de homologoumenoi
autoi kaloi k'agathoi
tote men phasin
auto didakton einai, tote de ou?
tous oun houtô
tetaragmenous peri hotououn
phaiês
an su kuriôs didaskalous einai?
Und wiederum wovon die, welche selbst
für gut und tüchtig darin erkannt werden,
bald sagen, die Sache sei lehrbar,
bald wieder es leugnen?
Und die in solcher Verwirrung wären
über irgend etwas,
die, würdest du behaupten,
wären ganz eigentlich die Lehrer darin?
MEN.
ma Di' ouk egôge.
Menon: Beim Zeus, das möchte
ich nicht.
dêlon hoti
ouk an alloi ge?
Sokrates: Wenn also weder
die Sophisten noch die, welche selbst gut und rechtschaffen sind,
Lehrer der Tugend sind:
so gibt es doch wohl offenbar auch keine
anderen?
MEN.
ou moi dokei.
Menon: Nein, dünkt mich.
[96c] SÔ.
ei de ge mê didaskaloi, oude mathêtai?
Sokrates: Und wenn keine
Lehrer, dann auch keine Schüler?
MEN.
dokei moi echein hôs legeis.
Menon: Das dünkt mich
so zu sein, wie du sagst.
SÔ.
hômologêkamen de ge,
pragmatos
ou mête didaskaloi mête mathêtai eien, touto mêde
didakton einai?
Sokrates: Und darüber
waren wir einig,
daß etwas, worin es weder
Lehrer gäbe noch Schüler, auch nicht lehrbar wäre.
MEN.
hômologêkamen.
Menon: Darüber waren
wir einig.
SÔ.
oukoun aretês oudamou phainontai didaskaloi?
Sokrates: Und es zeigen sich
nirgends Lehrer der Tugend?
MEN.
esti tauta.
Menon: So ist es.
SÔ.
ei de ge mê didaskaloi, oude mathêtai?
Sokrates: Und wenn keine
Lehrer, dann doch auch keine Schüler!
MEN.
phainetai houtôs.
Menon: So scheint es.
SÔ.
aretê ara ouk an eiê didakton?
Sokrates: Also wäre
die Tugend nicht lehrbar.
[96d] MEN.
ouk eoiken, eiper orthôs hêmeis eskemmetha.
hôste
kai thaumazô dê, ô Sôkrates, poteron pote oud'
eisin agathoi andres,
ê tis
an eiê tropos tês geneseôs tôn agathôn gignomen.
Menon: Es scheint nicht,
wenn wir nämlich unsere Untersuchung richtig geführt haben.
So daß ich mich wundere, Sokrates,
ob es etwa überhaupt keine tugendhaften Männer gibt,
oder welches wohl die Art und Weise
ist, wie sie es werden.
SÔ.
kinduneuomen, ô Menôn, egô te kai
su phauloi tines einai andres,
kai se te
Gorgias ouch hikanôs pepaideukenai kai eme Prodikos.
Sokrates: Wenigstens, Menon,
scheint es fast, daß wir beide, ich und du, eben nicht sonderliche
Leute sind
und daß weder dich Gorgias
gehörig unterrichtet hat noch mich Prodikos.
pantos mallon
oun prosekteon ton noun hêmin autois, kai zêtêteon
hostis hêmas
heni ge tôi tropôi beltious [96e]
poiêsei:
Desto mehr also laß uns für
uns selbst Sorge tragen und nachforschen,
wer uns auf irgendeine Art doch
besser (e) machen kann.
legô
de tauta apoblepsas pros tên arti zêtêsin,
hôs
hêmas elathen katagelastôs
hoti ou monon
epistêmês hêgoumenês
orthôs
te kai eu tois anthrôpois prattetai ta pragmata,
êi
isôs kai diapheugei hêmas to gnônai
tina pote
tropon gignontai hoi agathoi andres.
Ich sage dies nämlich mit Bezug
auf unsere bisherige Untersuchung,
wobei uns lächerlich genug
entgangen ist,
daß nicht dann allein, wenn
die Erkenntnis herrscht,
die Angelegenheiten der Menschen
richtig und gut gehen;
weswegen uns vermutlich auch die Einsicht
entgeht,
auf welche Weise die Menschen tugendhaft
werden.
MEN.
pôs touto legeis, ô Sôkrates?
Menon: Wie meinst du dies,
Sokrates?
Sokrates: Daß es aber
einem nicht möglich ist, richtig zu leiten, der nicht Erkenntnis hat,
dies mögen wir wohl nicht mit
Recht festgesetzt haben.
MEN.
pôs dê [orthôs] legeis?
Menon: Wie meinst du es dann
mit dem "richtig"?
SÔ.
egô erô.
<ei> eidôs
tên hodon tên eis Larisan ê hopoi boulei allose
badizoi kai
allois hêgoito,
allo ti orthôs
an kai eu hêgoito?
Sokrates: Das will ich dir
sagen.
Wenn einer, der den Weg nach Larissa
weiß, oder wohin du sonst willst,
vorangeht und die andern führt,
wird er sie nicht richtig und gut
führen?
MEN.
panu ge.
Menon: Gewiß.
[97b] SÔ.
ti d' ei tis orthôs men doxazôn hêtis
estin hê hodos,
elêluthôs
de mê mêd' epistamenos,
ou kai houtos
an orthôs hêgoito?
(b)Sokrates: Wie
aber, wenn einer nur eine richtige Vorstellung davon hätte, welches
der Weg wäre,
ohne ihn jedoch gegangen zu sein
oder ihn eigentlich zu wissen,
wird nicht dennoch auch der richtig
führen?
MEN.
panu ge.
Menon: Allerdings.
SÔ.
kai heôs g' an pou orthên doxan echêi
peri hôn ho heteros epistêmên,
ouden cheirôn
hêgemôn estai, oiomenos men alêthê, phronôn
de mê, tou touto phronountos.
Sokrates: Und solange er
nur eine richtige Vorstellung hat von dem, wovon der andere Erkenntnis:
so wird er kein schlechterer Führer
sein, er, der nur richtig vorstellt, als jener Wissende?
MEN.
ouden gar.
Menon: Freilich nicht.
SÔ.
doxa ara alêthês pros orthotêta
praxeôs ouden cheirôn hêgemôn phronêseôs.
kai touto
estin ho nundê pareleipomen
en têi
peri tês aretês skepsei hopoion ti eiê,
legontes
[97c] hoti phronêsis monon hêgeitai tou
orthôs prattein:
to de ara kai
doxa ên alêthês.
Sokrates: Wahre Vorstellung
also ist zur Richtigkeit des Handelns keine schlechtere Führerin als
wahre Einsicht.
Und dies ist es nun eben, was wir
vorhin übergangen haben
bei unserer Untersuchung über
die Tugend, wie sie wohl beschaffen wäre,
als wir sagten, daß Einsicht
allein führen müsse beim richtigen Handeln;
dies tut (c) aber auch richtige
Vorstellung.
MEN.
eoike ge.
Menon: So scheint es.
SÔ.
ouden ara hêtton ôphelimon estin orthê
doxa epistêmês.
Sokrates: Richtige Vorstellung
ist also nicht minder nützlich als Erkenntnis?
MEN.
tosoutôi ge, ô Sôkrates,
hoti ho men
tên epistêmên echôn aei an epitunchanoi,
ho de tên
orthên doxan tote men an tunchanoi, tote d' ou.
Menon: Außer jedoch
um soviel, ho Sokrates,
daß, wer die Erkenntnis hat,
immer zum Ziele trifft,
wer aber die richtige Vorstellung,
es bisweilen trifft, bisweilen auch fehlt.
SÔ.
pôs legeis; ho aei echôn orthên
doxan ouk aei an tunchanoi,
heôsper
ortha doxazoi?
Sokrates: Wie sagst du? Wer
immer die richtige Vorstellung hat, der sollte es nicht immer treffen,
solange er doch richtig vorstellt?
MEN.
anankê moi phainetai: hôste thaumazô,
ô Sôkrates, [97d] toutou houtôs
echontos,
hoti dê
pote polu timiôtera hê epistêmê tês orthês
doxês,
kai di' hoti
to men heteron, to de heteron estin autôn.
Menon: Notwendig, das leuchtet
ein; so daß ich mich wundere, o Sokrates, wenn sich dieses so verhält,
weshalb denn doch die (d)
Erkenntnis um soviel höher geschätzt wird als die richtige Vorstellung,
ja warum überhaupt die eine
von ihnen etwas anderes ist und die andere wiederum etwas anderes.
SÔ.
oistha oun di' hoti thaumazeis, ê egô
soi eipô?
Sokrates: Weißt du
auch schon, weshalb du dich wunderst? Oder soll ich es dir sagen?
MEN.
panu g' eipe.
Menon: Allerdings sage es
mir.
SÔ.
hoti tois Daidalou agalmasin ou proseschêkas
ton noun:
isôs
de oud' estin par' humin.
Sokrates: Weil du auf die
Bildwerke des Daidalos nicht achtgegeben hast.
Vielleicht aber habt ihr auch keine
bei euch.
MEN.
pros ti de dê touto legeis?
Menon: Worauf geht nur dieses?
SÔ.
hoti kai tauta, ean men mê dedemena êi,
apodidraskei kai drapeteuei,
ean de dedemena,
paramenei.
Sokrates: Weil auch diese,
wenn sie nicht gebunden sind, davongehen und fliehen;
sind sie aber gebunden, so bleiben
sie.
[97e] MEN.
ti oun dê?
(e)Menon: Was also
weiter?
SÔ.
tôn ekeinou poiêmatôn lelumenon
men ektêsthai ou pollês tinos axion esti timês,
hôsper
drapetên anthrôpon – ou gar paramenei –
dedemenon de pollou
axion: panu gar kala ta erga estin.
Sokrates: Also ein losgebundenes
Werk von ihm zu besitzen, das ist nicht eben sonderlich viel wert,
gerade wie ein herumtreiberischer
Mensch, denn es bleibt doch nicht,
ein gebundenes aber ist viel wert, denn
es sind gar schöne Werke.
pros ti oun
dê legô tauta; pros tas doxas tas alêtheis.
kai gar hai
doxai hai alêtheis, hoson men an chronon paramenôsin, kalon
to chrêma
kai pant'
[98a] agatha ergazontai:
polun de chronon
ouk ethelousi paramenein, alla drapeteuousin ek tês psuchês
tou anthrôpou,
hôste
ou pollou axiai eisin, heôs an tis autas dêsêi
aitias logismôi.
Worauf das nun geht? Auf die richtigen
Vorstellungen.
Denn auch die richtigen Vorstellungen
sind eine schöne Sache, solange sie bleiben,
und bewirken alles Gute;
lange (98 a)
aber pflegen sie nicht zu bleiben, sondern gehen davon aus der Seele
des Menschen,
sodaß sie doch nicht viel
wert sind, bis man sie bindet durch begründendes Denken.
touto d' estin,
ô Menôn hetaire, anamnêsis, hôs en tois prosthen
hêmin hômologêtai.
epeidan de
dethôsin, prôton men epistêmai gignontai, epeita monimoi:
kai dia tauta
dê timiôteron epistêmê orthês doxês
estin,
kai diapherei
desmôi epistêmê orthês doxês.
Und dies, Freund Menon, ist eben
die Erinnerung, wie wir im vorigen zugestanden haben.
Nachdem sie aber gebunden werden,
werden sie zuerst Erkenntnisse und dann auch bleibend.
Und deshalb nun ist die Erkenntnis
höher zu schätzen als die richtige Vorstellung,
und es unterscheidet sich eben durch
das Gebundensein die Erkenntnis von der richtigen Vorstellung.
MEN.
nê ton Dia, ô Sôkrates, eoiken
toioutôi tini.
Menon: Beim Zeus, Sokrates,
so etwas muß es auch sein.
ou panu moi
dokô touto eikazein,
all' eiper
ti allo phaiên an eidenai
– oliga
d' an phaiên –
hen d' oun kai
touto ekeinôn theiên an hôn oida.
(b) Sokrates: Wiewohl ich
auch dies keineswegs sage, als wüßte ich es,
sondern ich vermute es nur.
Daß aber richtige Vorstellung
und Erkenntnis etwas Verschiedenes sind,
dies glaube ich nicht nur zu vermuten;
sondern wenn ich irgend etwas behaupten
möchte zu wissen,
und nur von wenigem möchte
ich dies behaupten,
so würde ich als eines auch dies
hierher setzen unter das, was ich weiß.
MEN.
kai orthôs ge, ô Sôkrates, legeis.
Menon: Und gewiß hast
du recht daran, Sokrates.
SÔ.
ti de; tode ouk orthôs, hoti alêthês
doxa hêgoumenê
to ergon hekastês
tês praxeôs ouden cheiron apergazetai ê epistêmê?
Sokrates: Und wie? Hierin
nicht auch recht, daß nämlich, wenn richtige Vorstellung leitet,
sie das Werk einer jeden Handlung
nicht schlechter vollbringt als die Erkenntnis?
MEN.
kai touto dokeis moi alêthê legein.
Menon: Auch das dünkt
mich wahr zu sein.
[98c] SÔ.
ouden ara orthê doxa
epistêmês
cheiron oude hêtton ôphelimê estai eis tas praxeis,
oude anêr
ho echôn orthên doxan ê ho epistêmên.
(c)Sokrates: Also
ist für das Handeln
die richtige Vorstellung um nichts
schlechter oder weniger nützlich als die Erkenntnis,
noch wer die richtige Vorstellung
besitzt, als wer die Erkenntnis.
MEN.
esti tauta.
Menon: So ist es.
SÔ.
kai mên ho ge agathos anêr ôphelimos
hêmin hômologêtai einai.
Sokrates: Und der rechtschaffene
Mann, das stand uns fest, ist nützlich?
MEN.
nai.
Menon: Ja.
SÔ.
epeidê toinun ou monon di' epistêmên
agathoi andres an eien
kai ôphelimoi
tais polesin, eiper eien,
alla kai di' orthên
doxan,
toutoin de
oudeteron phusei estin tois anthrôpois,
[98d] oute
epistêmê oute doxa alêthês,
out' epiktêta
- ê
dokei soi phusei opoteronoun autoin einai?
Sokrates: Wenn nun nicht
nur durch Erkenntnis die Menschen tugendhaft sind
und den Staaten nützlich, die
es eben sind,
sondern auch durch richtige Vorstellung,
und von beiden keines den Menschen
von Natur beiwohnt,
weder die Erkenntnis noch die richtige
(d) Vorstellung;
auch keines von beiden erwerblich
– oder denkst du, irgendeines
von beiden sei schon von Natur vorhanden?
MEN.
ouk emoige.
Menon: Nein, ich nicht.
SÔ.
oukoun epeidê ou phusei, oude hoi agathoi phusei
eien an.
Sokrates: Wenn also nicht
von Natur, so können auch die Guten es nicht von Natur sein?
MEN.
ou dêta.
Menon: Freilich nicht.
SÔ.
epeidê de ge ou phusei, eskopoumen to meta
touto ei didakton estin.
Sokrates: Wenn aber nicht
von Natur: so untersuchten wir demnäcêst, ob es lehrbar wäre.
MEN.
nai.
Menon: Ja.
SÔ.
oukoun didakton edoxen einai, ei phronêsis
hê aretê?
Sokrates: Und lehrbar, glaubten
wir, würde es, wenn die Tugend Einsicht wäre?
MEN.
nai.
Menon: Ja.
SÔ.
kan ei ge didakton eiê, phronêsis an
einai?
Sokrates: Und wenn sie lehrbar
wäre, würde sie auch Einsicht sein?
MEN.
panu ge.
Menon: Allerdings.
[98e] SÔ.
kai ei men ge didaskaloi eien, didakton an einai,
mê ontôn
de ou didakton?
Sokrates: Und wenn es Lehrer
für sie gäbe, würde sie lehrbar (e) sein,
wenn aber nicht, dann auch nicht
lehrbar?
MEN.
houtô.
Menon: So war es.
SÔ.
alla mên hômologêkamen mê
einai autou didaskalous?
Sokrates: Allein wir kamen
überein, es gäbe keine Lehrer für sie?
MEN.
esti tauta.
Menon: Richtig.
SÔ.
hômologêkamen ara mête didakton
auto mête phronêsin einai?
Sokrates: Wir kamen also
überein, daß sie weder lehrber wäre noch Einsicht.
MEN.
panu ge.
Menon: Allerdings.
SÔ.
alla mên agathon ge auto homologoumen einai?
Sokrates: Aber daß
sie gut wäre, stellten wir doch fest?
MEN.
nai.
Menon: Ja.
SÔ.
ôphelimon de kai agathon einai to orthôs
hêgoumenon?
Sokrates: Und nützlich
und gut wäre das richtig Leitende?
MEN.
panu ge.
Menon: Freilich.
[99a] SÔ.
orthôs de ge hêgeisthai duo onta tauta
mona, doxan te alêthê kai epistêmên,
ha echôn
anthrôpos orthôs hêgeitai
- ta gar
apo tuchês tinos orthôs gignomena ouk anthrôpinêi
hêgemoniai gignetai –
hôn
de anthrôpos hêgemôn estin epi to orthon,
duo tauta,
doxa alêthês kai epistêmê.
(99 a)Sokrates: Und
richtig leiten könnten nur diese zwei allein, die wahre Vorstellung
und die Erkenntnis,
und der Mensch, der diese besitzt,
leite richtig.
Denn was durch Zufall wird, wird nicht
durch menschliche Leitung;
wodurch aber der Mensch Führer
ist zum Rechten,
das seien nur diese beiden, die
wahre Vorstellung und die Erkenntnis?
[99b] SÔ.
duoin ara ontoin agathoin kai ôphelimoin to
men heteron apolelutai,
kai ouk an
eiê en politikêi praxei epistêmê hêgemôn.
Sokrates: Von dem beiden, was
gut und nützlich ist, löst sich also (b) das eine ab,
und im bürgerlichen Handeln
wäre also die Erkenntnis nicht Führerin.
MEN.
ou moi dokei.
Menon: Nein, dünkt mich.
SÔ.
ouk ara sophiai tini oude sophoi ontes hoi toioutoi
andres hêgounto tais polesin,
hoi amphi
Themistoklea te kai hous arti Anutos hode elegen:
dio dê kai
ouch hoioi te allous poiein toioutous hoioi autoi eisi,
hate ou di'
epistêmên ontes toioutoi.
Sokrates: Nicht also durch
irgendeine Weisheit noch als Weise haben diese Männer die Staaten
geleitet,
Themistokles und die anderen, die
Anytos vorher anführte.
Daher waren sie auch nicht imstande,
andere zu solchen zu machen, wie sie selbst sind,
da sie selbst nicht durch Erkenntnis
solche waren.
MEN.
eoiken houtôs echein, ô Sôkrates,
hôs legeis.
Menon: Es scheint sich wohl
so zu verhalten, Sokrates, wie du sagst.
SÔ.
oukoun ei mê epistêmêi,
eudoxiai dê to loipon [99c] gignetai:
hêi
hoi politikoi andres chrômenoi tas poleis orthousin,
ouden diapherontôs
echontes pros to phronein ê hoi chrêsmôidoi
te kai hoi theomanteis.
kai gar houtoi
enthousiôntes legousin men alêthê kai polla,
isasi de ouden
hôn legousin.
Sokrates: Also wenn nicht
durch Erkenntnis: so ist richtige Vorstellung das Übrigbleibende,
vermittels dessen die staatskundigen
Männer die Staaten verwalten,
ohne, was wahre Einsicht betrifft,
besser daran zu sein als die Orakelsprecher und Wahrsager.
Denn auch diese sagen viel Wahres,
wissen aber nichts von dem, was
sie sagen.
MEN.
kinduneuei houtôs echein.
Menon: So mag es wohl sein.
SÔ.
oukoun, ô Menôn, axion toutous theious
kalein tous andras,
hoitines noun
mê echontes
polla kai
megala katorthousin hôn prattousi kai legousi;
Sokrates: Ist es nun nicht
recht, Menon, diese Männer göttlich zu nennen,
welche, ohne Vernunft zu gebrauchen,
vielerlei Großes richtig vollbringen
von dem, was sie reden und tun?
MEN.
panu ge.
Menon: Freilich.
SÔ.
orthôs ar' an kaloimen theious te hous nundê
elegomen
[99d] chrêsmôidous
kai manteis kai tous poiêtikous hapantas:
kai tous politikous
ouch hêkista toutôn phaimen an
theious te
einai kai enthousiazein, epipnous ontas kai katechomenous ek tou theou,
hotan katorthôsi
legontes polla kai megala pragmata,
mêden
eidotes hôn legousin.
Sokrates: Mit Recht also
würden wir sowohl die göttlich nennen, (d) die wir eben
erôähnten,
die Orakelsprecher und Wahrsager,
als auch alle Dichtenden:
und auch den Staatsmännern könnten
wir nicht am unverdientesten unter diesen dasselbe beilegen,
daß sie göttlich sind
und begeistert, angehaucht und bewohnt von dem Gotte,
wenn sie durch Reden viele große
Geschäfte glücklich vollbringen,
ohne etwas eigentlich zu wissen
von dem, worüber sie reden.
MEN.
panu ge.
Menon: Allerdings wohl.
SÔ.
kai ai ge gunaikes dêpou, ô Menôn,
tous agathous andras theious kalousi.
kai hoi Lakônes
hotan tina enkômiazôsin agathon andra,
theios anêr,
phasin, houtos.
Sokrates: Auch die Weiber,
Menon, nennen ja tugendhafte Männer göttlich,
und die Lakedaimonier, wenn sie
einen preisen wollen als einen tugendhaften Mann,
so sagen sie, das ist ein göttlicher
Mann.
[99e] MEN.
kai phainontai ge, ô Sôkrates, orthôs
legein.
kaitoi isôs
Anutos hode soi achthetai legonti.
(e)Menon: Und es
zeigt sich ja, daß es ganz recht gesagt ist, Sokrates;
wiewohl Anytos dir vielleicht böse
ist über die Rede.