Boethius: "esse"
Der letzte zusammenfassende, alle Systeme (Platon-Aristoteles-Neuplatonismus)
noch einmal konzentrierende und von der Antike an das Mittelalter überliefernde
Philosoph ist Boethius. Gipfel aller Konzentration sind die gut
anderthalb Seiten der kleinen Schrift "De hebdomadibus", die wir
hier unten ins Netz stellen:
Gipfel aller sich verwirklichenden Form sei die Idee des Seins selbst,
bloßes "zu SEIN" (im Infinitiv); alles Seiende (Partizip) habe teil
an diesem puren "zu SEIN" (ESSE) und strebe dessen reines "zu SEIN"
werdend an; "zu SEIN" ist ein ansonsten qualitätsloses reines Sichvollziehen,
der "actus purus", Gott, der
ist, indem er sich weiß, und sich weiß, indem er ist –
aber eben nicht als ein Seindes unter anderem, sondern als das SEIN (vollendet
sich zu verwirklichen, sich in Wirklichkeit zu vollenden) aller sein-wollenden,
das SEIN empfangenden Wesen. Sie empfangen es, indem sie sehnsuchtsvoll
am schaffend sich-mitteilenden SEIN teilhaben, es als Geschöpfe empfangen
und in sich entwickelnder Angleichung an (und Aufnahme in) das SEIN auch
anteilsweise "sind".
Alle Lebewesen, auch alle Planetenbewegungen und die Erkenntnisfortschritte
der Menschen, streben dabei eines an, nämlich die
pure Wirklichkeit des Allbewegenden, das selbst nicht von anderem verursacht
oder bewegt wird.
Dieser Allbewegende bewegt
dabei nicht durch einzelne Aktionen (wie eine Person), sondern dadurch,
daß es von allem geliebt wird, als Vollendung aller Bestrebungen
nach Vollkommenheit, eben als die selbstgenügsam
überströmende Ideenquelle des Vollkommenen selbst (in
Platons Sonnengleichnis: "to
agathon" – lateinisch "bonum"). Das zieht alles an,
hinauf, in die Wirklichkeit des sich-selbst-genießenden
allseienden Wesens hinein.
Wirklich sind alle Wesen nur dadurch, daß sie an der Wirklichkeit
der selbstgenügsamen Vollendung, bloß
"zu sein" (und in in diesem Sichsein zugleich sich
zu "wissen"), orientiert sind, auch wenn sie wahre Vollendung und pures
"zu sein" in der selbstgenügsamen Fülle des "Einen" nicht erreichen.
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de hebdomadibus
quomodo substantiae in eo quod "sint" bonae sint
Inwiefern die Wesenheiten
in dem einen Punkt, daß sie "sind", vollkommen sind,
cum non sint substantialia bona
auch wenn sie nicht in ihrem
Eigenwesen vollkommen sind
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postulas, ut ex "hebdomadibus" nostris eius quaestionis obscuritatem
quae continet modum quo substantiae in eo quod "sint" bonae sint,
cum non sint substantialia bona,
diceram et paulo evidentius monstrem;
idque eo dicis esse faciendum, quod non sit omnibus notum iter huiusmodi
scriptionum.
Du forderst, daß ich aus unserer "Siebenheiten"-Schrift
die Dunkelheit jener Frage –
die darin liegt: inwiefern denn Wesenheiten
in dem Punkt, daß sie "sind", vollkommen sind,
auch wenn sie nicht in ihrem Eigenwesen vollkommen
sind,
– noch einmal aufgreife, und daß ich sie
ein wenig einleuchtender darstelle;
und du sagst, das müsse deshalb geschehen,
weil nicht allen der Gang solcher Schriften bekannt sei.
tuus vero testis ipse sum
quam haec vivaciter fueris ante complexus.
Ich selbst aber bin dir ein Zeuge dafür,
wie lebhaft du dich dieses Themas bereits
früher angenommen hast.
"hebdomadas" vero ego mihi ipse commentor
potiusque ad memoriam meam speculata conservo
quam cuiquam participo quorum lascivia ac petulantia
nihil a ioco risuque patitur esse seiunctum.
Die "Siebenheiten"-Schrift überdenke ich
allerdings für mich selbst
und verwahre das Betrachtete lieber in meinem
Gedächtnis,
als daß ich es mit einem von denen teile,
deren Ausgelassenheit und Frechheit
es nicht aushält, daß etwas ohne
Witz und Gelächter auskommt.
prohinc tu ne sis obscuritatibus brevitatis adversus,
quae cum sint arcani fida custodia tum id habent commodi,
quod cum his solis qui digni sunt conloquuntur.
Von daher wende Dich bitte nicht gegen die Dunkelheiten
der knappen Sprache,
die, indem sie treue Wächter des Geheimnisses
sind, zugleich auch das Angenehme haben,
daß sie sich allein denen, die es würdig
sind, mitteilsam machen.
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ut igitur in mathematica fieri solet ceterisque etiam disciplinis,
praeposui terminos regulasque
quibus cuncta quae sequuntur efficiam:
Wie es also in der Mathematik üblich ist
und in den anderen Wissenschaften,
habe ich die Begriffe und Grundsätze
vorangestellt,
mit denen ich dann alles, was daraus folgt,
ausführen will:
I. communis animi conceptio est enuntiatio quam quisque probat auditam.
1. Ein allgemeingültiger Satz im Bewußtsein
ist eine Äußerung, die jeder akzeptiert, der sie hört.
harum duplex modus est.
Davon gibt es zwei Sorten:
nam una ita "communis" est, ut omnium sit hominum,
si duobus aequalibus aequalia auferas, quae relinquantur aequalia esse,
nullus id intellegens neget.
Denn der eine Satz ist auf die Art "gemeinsam",
daß er allen Menschen gemein ist,
wie z.B., wenn man folgenden Satz vorlegt,
wenn man von zwei Gleichen ein Gleiches abzieht,
daß dann der Rest ein Gleiches sei,
wohl keiner es abstreiten wird, der es mitdenkt.
alia vero est doctorum tantum,
quae tamen ex talibus communibus animi conceptionibus venit,
ut est: „quae incorporalia sunt, in loco non esse,“ et cetera;
quae non vulgus sed docti comprobant.
Der andere aber ist nur den Gelehrten gemeinsam,
obwohl er aus solchen allgemeingültigen
Sätzen im Bewußtsein entstammt,
wie z.B. der: daß alles, was unkörperlich
ist, nicht an einem Ort sein könne usw.;
denn diesen Satz vertreten nicht alle, sondern
nur die Gelehrten.
II. diversum est "ESSE" et "id quod est";
ipsum enim ESSE nondum "est",
at vero quod est accepta ESSENDI forma
2. Verschieden sind "zu SEIN" und "das, was
ist";
zu SEIN selbst "ist" nämlich noch
nicht,
sondern erst das, was ist, indem es die Form
des SEINS empfangen hat,
III. quod est participare aliquo potest,
sed ipsum ESSE nullo modo aliquo participat.
fit enim participatio cum aliquid iam "est";
"est" autem aliquid, cum ESSE susceperit.
3. Was ist, kann an etwas anderem teilhaben,
aber zu SEIN selbst hat keineswegs an etwas
anderem teil.
Teilhabe geschieht nämlich erst, wenn
etwas bereits "ist";
etwas "ist" aber dadurch, daß es
zu SEIN aufgenommen hat.
IV. id quod "est" habere aliquid praeterquam quod ipsum "est" potest;
ipsum vero ESSE nihil aliud praeter se habet admixtum.
4. Das, was "ist", kann etwas über den
Sachverhalt, daß es "ist", hinaus an sich haben;
zu SEIN selbst aber hat über sich
hinaus nichts, was ihm beigemischt wäre.
V. diversum est "tantum esse aliquid" et "esse aliquid" in eo quod
est;
illic enim accidens hic substantia significatur.
5. Verschieden sind "nur etwas Bestimmtes zu sein"
und "überhaupt Etwas zu sein" bei dem, was ist;
dort wird nämlich ein zufälliges
Merkmal, hier die Wesenheit bestimmt.
VI. omne quod "est" participat eo quod est "ESSE", ut "sit";
alio vero participat ut aliquid sit.
ac per hoc id quod "est" participat eo quod est "ESSE" ut "sit";
"est" vero ut participet alio quolibet.
6. Alles, was "ist", hat teil an dem, was "zu
SEIN" ist, eben um zu "sein";
an anderem hat es aber teil, um Etwas zu sein.
Und dadurch hat das, was "ist", teil an dem, was
"zu SEIN" ist, eben um zu "sein";
es "ist" aber, um an einem beliebigen Anderen
teilhaben zu können.
VII. omne simplex ESSE suum et id quod "est" unum habet.
7. Alles Einfache hat sein SEIN und das, was
"ist", als eines.
VIII. omni composito aliud est ESSE, aliud ipsum est.
8. Bei allem Zusammengesetzten dagegen ist
zu SEIN etwas anderes, als es selbst ist.
IX. omnis diversitas discors, similitudo vero appetenda est;
et quod appetit aliud,
tale ipsum esse naturaliter ostenditur
quale est illud hoc ipsum quod appetit.
9. Alle Verschiedenheit führt in Entzweiung
hinab, Gleichheit aber ist Ziel der Entwicklung;
und was sich zu einem anderen entwickeln will,
erweist auf dem Naturwege, daß es selbst
so beschaffen sei,
wie jenes, zu dem es sich entwickeln will,
schon an sich selbst beschaffen ist.
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sufficiunt igitur quae praemisimus;
a prudente vero rationis interprete
suis unumquodque aptabitur argumentis.
Es genügt also das, was wir hier vorausgeschickt
haben;
aber ein kluger Ausdeuter der begrifflichen
Struktur
wird jeden Grundsatz seinen Argumenten passend
eingliedern.
quaestio vero huiusmodi est:
Die Untersuchung verläuft nun wie folgt:
ea quae "sunt" bona sunt;
tenet enim communis sententia doctorum
omne quod est ad bonum tendere,
omne autem tendit ad simile.
Alles, was "ist", ist vollkommen;
die allgemein geltende Auffassung der Gelehrten
hält nämlich fest,
daß alles, was "sei", sich zum Vollkommenen
entwickeln wolle,
alles aber will sich zu einem Gleichartigen
entwickeln.
quae igitur ad bonum tendunt
Was sich also zum Vollkommenen entwickeln will,
ist selbst schon ein Vollkommenes.
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sed quemadmodum bona sint, inquirendum est:
utrumne participatione an substantia?
Aber inwiefern es nun schon ein Vollkommenes ist,
muß erst untersucht werden:
ob durch Teilhabe oder durch sein eigenes
Wesen?
si participatione, per se ipsa nullo modo bona sunt;
nam quod participatione "album" est,
per se in eo quod ipsum est "album" non est.
Wenn durch Teilhabe, ist es keineswegs an sich
selbst schon vollkommen;
denn was durch Teilhabe "weiß" ist,
ist nicht an sich selbst, in dem, was es selbst
ist, schon "weiß".
et de ceteris qualitatibus eodem modo.
Und von anderen Eigenschaften gilt das Gleiche.
si igitur participatione sunt bona,
ipsa per se nullo modo bona sunt:
non igitur ad bonum tendunt.
Wenn es also durch Teilhabe vollkommen ist,
ist es keineswegs an sich selbst schon vollkommen:
Also will es sich nicht zu einem Vollkommenen
entwickeln.
sed concessum est.
Aber eben dies ist doch bereits zugestanden
worden!
non igitur participatione sunt bona sed substantia.
Folglich ist es nicht durch Teilhabe, sondern
durch sein eigenes Wesen vollkommen.
quorum vero substantia bona est, id quod "sunt" bona sunt;
id quod "sunt" autem habent ex eo quod est "ESSE".
Alles aber, dessen Wesen vollkommen ist, ist schon
darin, daß es "ist", vollkommen;
die Tatsache, daß es "ist", hat es aber
von dem, was "zu SEIN" ist.
ESSE igitur ipsorum bonum est;
omnium igitur rerum "ipsum ESSE" bonum est.
Zu SEIN ist bei all dem bereits das Vollkommene;
folglich ist bei allen Dingen "zu SEIN selbst"
das Vollkommene.
sed si "ESSE" bonum est,
ea quae "sunt" in eo quod "sunt" bona sunt
idemque illis est "ESSE" quod "boni esse";
substantialia igitur bona sunt,
quoniam non participant bonitatem.
Aber wenn "zu SEIN" das Vollkommene ist,
ist alles, was "ist", schon darin, daß
es "ist", vollkommen,
und "zu SEIN" bedeutet für es dasselbe
wie "vollkommen zu sein";
die Wesen sind folglich vollkommen,
da sie ja an Vollkommenheit nicht bloß
teilhaben.
quod si ipsum "ESSE" in eis bonum est,
non est dubium quin substantialia cum sint bona,
primo sint bono similia
ac per hoc hoc ipsum bonum erunt;
nihil enim illi praeter se ipsum simile est.
Wenn nun aber "zu SEIN" selbst in ihnen schon
das Vollkommene ist,
folgt zweifellos, daß auch die Wesenheiten,
da sie vollkommen seien,
dem höchsten Vollkommenen gleichartig seien
und eben dadurch dieses Vollkommene selbst
sein werden;
nichts ist nämlich jenem gleichartig,
– es sei denn es selbst.
ex quo fit ut omnia quae "sunt" deus sint,
Daraus geht hervor, daß alles, was "ist",
Gott ist, –
das so zu formulieren ist aber unstatthaft.
non sunt igitur substantialia bona
ac per hoc non in his est ESSE bonum;
non sunt igitur in eo quod "sunt" bona?
Folglich sind nicht die Wesen schon vollkommen
und dadurch ist auch "zu SEIN" bei ihnen noch
nicht das Vollkommene;
sie sind also noch nicht dadurch, daß
sie "sind", schon vollkommen?
sed nec participant bonitatem;
nullo enim modo ad bonum tenderent?
Und sie haben aber auch nicht einmal an der Vollkommenheit
teil;
sie wollen sich nämlich keineswegs zum
Vollkommenen entwickeln?
nullo modo igitur sunt bona?
Folglich sind sie keineswegs vollkommen?
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huic quaestioni talis poterit adhiberi solutio.
Als Lösung für diese Problematik
mag folgende Argumentation dienen:
multa sunt quae cum separari actu non possunt,
animo tamen et cogitatione separantur;
ut cum triangulum vel cetera a subiecta materia nullus actu separat,
mente tamen segregans
ipsum triangulum proprietatemque eius
praeter materiam speculatur.
Es gibt vieles, das, obwohl es in Wirklichkeit
nicht getrennt werden kann,
im Bewußtsein und Denken dennoch getrennt
wird;
wie z.B.: obwohl keiner ein Dreieck oder Ähnliches
von der unterlegten Materie wirklich abtrennt,
er dennoch, indem er es geistig absondert,
das Dreieck selbst und seine Eigengesetzlichkeiten
unabhängig von der Materie anschaut.
amoveamus igitur primi boni praesentiam paulisper ex animo,
quod esse quidem constat
idque ex omnium doctorum indoctorumque sententia
barbararumque gentium religionibus cognosci potest.
Wir wollen also das Dasein eines höchsten
Vollkommenen vorübergehend wegdenken,
obwohl natürlich feststeht, daß
es existiert,
und dies an der Übereinstimmung aller
Gelehrten wie Ungelehrten
und sogar noch an den Religionsübungen
der Sachsen abgelesen werden kann.
hoc igitur paulisper amoto ponamus
omnia esse quae sunt bona
atque ea consideremus quemadmodum bona esse possent,
si a primo bono minime defluxissent.
Indem dies also vorübergehend weggedacht
wird, wollen wir annehmen:
daß alles, was vollkommen sei, existiere,
und wollen dann überlegen: auf welche Weise
denn nun Vollkommenes existieren könne,
wenn es überhaupt nicht von einem höchsten
Vollkommenen abgeleitet werden könne.
hinc intueor
aliud in eis esse quod "bona sunt",
Daran erkenne ich,
daß es bei ihm etwas anderes ist, "vollkommen
zu sein",
ponatur enim una eademque substantia bona esse "alba", "gravis", "rotunda";
tunc aliud esset ipsa illa substantia,
aliud eius rotunditas, aliud color, aliud bonitas;
nam si haec singula idem essent quod ipsa substantia,
idem esset gravitas quod color,
color quod bonum et bonum quod gravitas –
quod fieri natura non sinit.
Denn angenommen: ein und dasselbe vollkommene
Wesen wäre "weiß", "schwer" und "rund";
dann wäre eben jenes Wesen selbst,
seine Rundheit, Farbe und Vollkommenheit nicht
dasselbe;
denn wenn diese einzelnen Eigenschaften mit dem
Wesen selbst identisch wären,
dann wären seine Schwerheit und Farbe
identisch,
Farbe wäre mit dem Vollkommenen und das
Vollkommene mit Schwere identisch –
aber die Natur läßt nicht zu, daß
so etwas wirklich wird.
aliud igitur tunc in eis esset "ESSE", aliud "aliquid esse",
ac tunc bona quidem essent,
"ESSE" tamen ipsum minime haberent bonum.
Es wäre dann also nicht dasselbe für
die Dinge, "zu SEIN", und "etwas Bestimmtes zu sein",
und so wären sie dann in gewisser Weise
vollkommen,
hätten aber keineswegs "zu SEIN" als
Vollkommenes.
igitur si ullo modo "essent",
non a bono ac bona essent
ac non idem essent quod bona,
sed eis aliud esset "ESSE" aliud "bonis esse".
Wenn sie also auf irgendeine Weise "wären",
wären sie nicht auch zugleich vom Vollkommenen
her vollkommen
und wären nicht mit dem, was vollkommen ist,
identisch,
sondern das unterschiede sich bei ihnen: "zu
SEIN" und "zum Vollkommenen zu gehören".
quod si nihil omnino aliud essent nisi "bona"
neque "gravia" neque "colorata" neque "spatii dimensione distenta"
nec ulla in eis qualitas esset,
nisi tantum "bona" essent,
tunc non res sed rerum viderentur esse principium
nec potius "viderENTUR", sed "viderETUR";
UNUM enim solumque est huiusmodi,
quod tantum "bonum" aliudque nihil sit.
Denn wenn sie überhaupt nichts anderes wären
als etwas "Vollkommenes" –
weder "Schweres" noch "Gefärbtes" noch
"räumlich Ausgedehntes",
und wenn sie überhaupt keine weitere
Eigenschaft an sich hätten,
als bloß diese: "vollkommen" zu sein,
dann wären sie nicht Dinge, sondern schienen
eher das Prinzip der Dinge zu sein –
d.h. nicht "SIE schienen", sonders "ES schiene";
das EINE allein ist nämlich derart,
daß es bloß "vollkommen" ist und
nichts darüber hinaus ist.
quae quoniam non sunt simplicia,
nec "esse" omnino poterant,
nisi ea id quod solum bonum est
Da diese Dinge nun nicht einfach sind,
könnten sie auch nicht einmal "sein",
wenn nicht das, was als Einziges vollkommen ist,
gewollt hätte, daß sie seien.
idcirco quoniam ESSE eorum a boni voluntate defluxit,
Und nur deshalb, weil ihr SEIN aus dem Willen
des Vollkommenen hervorgeströmt ist,
gelten sie als "vollkommen".
primum enim bonum,
quoniam "est",
in eo quod est bonum est;
secundum vero bonum,
quoniam ex eo fluxit cuius "ipsum ESSE" bonum est,
Das höchste Vollkommene nämlich ist,
einfach weil es "ist",
in dem, was da ist, vollkommen;
ein zweites Vollkommenes aber ist,
da es ja aus dem hervorgeströmt ist,
bei dem "zu SEIN selbst" das Vollkommene ist,
sed "ipsum ESSE" omnium rerum ex eo fluxit
quod est primum bonum et quod bonum tale est
ut recte dicatur
in eo quod "est" esse bonum.
Aber "zu SEIN selbst" ist bei allen Dingen aus
dem hervorgeströmt,
was das höchste Vollkommene ist und was
derartig vollkommen ist,
daß zu Recht gesagt wird:
indem etwas nur "sei", sei es schon vollkommen.
ipsum igitur eorum "ESSE" bonum est;
Folglich ist in ihnen "zu SEIN" selbst das Vollkommene;
denn das ist auch in ihm selbst nicht anders.
qua in re soluta quaestio est.
Damit ist das Problem gelöst.
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idcirco enim licet in eo quod "sint" bona sint,
non sunt tamen similia primo bono,
quoniam non quoquo modo sint res
ipsum ESSE earum bonum est,
sed quoniam non potest esse ipsum ESSE rerum,
nisi a primo ESSE defluxerit, id est bono;
idcirco ipsum ESSE bonum est
nec est simile ei a quo est.
Mag deshalb gelten: daß die Dinge in dem
Punkt, daß sie "sind", vollkommen sind,
so sind sie dennoch dem höchsten Vollkommenen
nicht gleichartig,
da ja nicht aufgrund all der Erscheinungsweisen
der Dinge
ihr SEIN selbst schon vollkommen ist,
sondern da ja nicht einmal das SEIN selbst der
Dinge dasein könnte,
wenn es nicht vom höchsten SEIN ausgeströmt
wäre, d.h. vom Vollkommenen;
deshalb ist ihr SEIN selbst vollkommen
und ist doch dem, von dem es herkommt, nicht
gleichartig.
illud enim quoquo modo sit bonum est in eo quod "est";
non enim aliud est praeterquam "bonum".
Jenes nämlich ist – auf welche Weise es auch
sein mag – vollkommen darin, daß es "ist".
denn es ist nichts außerdem – nur eben
dies: "vollkommen".
hoc autem nisi ab illo esset, bonum fortasse esse posset,
sed bonum in eo quod "est" esse non posset.
Wenn dieses aber nicht von jenem her wäre,
könnte es zwar vielleicht vollkommen sein,
aber es könnte nicht in dem Punkt vollkommen
sein, daß es "ist".
tunc enim participaret forsitan bono;
ipsum vero "ESSE" quod non haberent a bono,
bonum habere non possent.
Denn dann hätte es unter Umständen Anteil
am Vollkommenen;
aber "zu SEIN" selbst könnten diejenigen,
die es nicht vom Vollkommenen empfingen,
auch nicht als Vollkommenes haben.
igitur sublato ab his bono primo mente et cogitatione,
ista licet essent bona,
tamen in eo quod essent bona esse non possent;
et quoniam actu non potuere exsistere,
nisi illud ea quod vere bonum est produxisset,
idcirco et ESSE eorum bonum est
et non est simile substantiali bono
Wenn also das höchste Vollkommene von diesen
abgezogen und weggedacht wird,
mag zwar gelten, daß sie noch vollkommen
seien,
sie könnten dennoch in dem Punkt, daß
sie "sind", nicht vollkommen sein;
und weil sie in Wirklichkeit nicht existieren
könnten,
wenn jenes eine wahrhaft Vollkommene sie nicht
hervorgebracht hätte,
deshalb ist zum einen ihr SEIN vollkommen
zum andern ist dem wesenhaft Vollkommenen
das, was von ihm ausgeströmt ist, nicht
gleichartig.
et nisi ab eo fluxissent, licet essent bona,
tamen in eo quod "sunt" bona esse non possent,
quoniam et praeter bonum et non ex bono essent,
cum illud ipsum bonum primum et "ipsum ESSE" sit
et "ipsum bonum" et "ipsum esse bonum".
und wenn es nicht von ihm ausgeströmt wäre,
könnte es zwar als vollkommen gelten,
könnte aber dennoch nicht in eben dem
Punkt, daß es "ist", vollkommen sein,
da es ja auch außerhalb des Vollkommenen
und nicht aus dem Vollkommenen hervorgegangen wäre,
obwohl jenes selbst doch das höchste
Vollkommene und "zu SEIN selbst" ist
und "das Vollkommene selbst" und "das Vollkommene
selbst zu SEIN".
at non etiam alba in eo quod sunt alba
ESSE oportebit ea quae alba "sunt",
quoniam ex voluntate dei fluxerunt ut essent alba?
Aber müßte nicht das Weiße in
dem Punkt, daß es weiß ist,
auch das noch SEIN, was das Weiße "ist",
da es ja aus dem Willen Gottes hervorgeströmt
ist, daß es weiß ist?
aliud est enim "ESSE", aliud "albis esse";
hoc ideo, quoniam qui ea ut "essent" effecit
bonus quidem est,
"Zu SEIN" ist nämlich etwas anderes als "zum
Weißen zu gehören";
und zwar deshalb, weil ja derjenige, der bewirkt
hat, daß sie "seien",
zwar ganz gewiß vollkommen ist,
keinesfalls aber "weiß"...
voluntatem igitur boni comitatum est
ut essent bona in eo quod "sunt";
voluntatem vero non albi non est comitata
talis eius quod "est" proprietas
ut esset album in eo quod est;
neque enim ex albi voluntate defluxerunt.
Mit dem Willen des Vollkommenen geht also
einher,
daß es vollkommen ist in dem Punkt,
daß es "ist";
mit dem Willen des Nicht-Weißen geht aber
nicht
eine solche Eigentümlichkeit dessen,
das da "ist", einher,
daß es in dem Punkt, daß es "ist",
weiß sein soll;
denn es ist ja auch nicht aus einem Weißheits-Willen
hervorgeströmt.
itaque quia voluit ESSE ea alba qui erat non albus,
quia vero voluit ea ESSE bona qui erat bonus,
sunt bona in eo quod "sunt".
Deshalb, weil der, der nicht weiß war, wollte,
daß dieses Weiße SEI,
weil aber der, der vollkommen war, wollte, daß
dieses Vollkommene SEI,
ist es vollkommen in dem Punkt, daß
es "ist".
secundum hanc igitur rationem cuncta oportet esse iusta,
quoniam ipse iustus est qui ea ESSE voluit?
Müßte denn mit der gleichen Logik alles
gerecht sein,
weil ja er selbst gerecht ist, der wollte,
daß es SEI?
nam bonum esse essentiam,
iustum vero esse actum respicit.
Denn es ist zu bedenken, daß das Vollkommene
eine Seinsheit,
das Gerechte aber ein Vollzug ist.
idem autem est in eo ESSE quod agere;
idem igitur "bonum esse" quod "iustum".
Allerdings sind bei ihm zu SEIN und zu Vollziehen
identisch;
folglich ist das "vollkommen zu sein" mit
dem "Gerechtsein" identisch.
nobis vero non est idem "ESSE" quod "agere";
non enim simplices sumus.
Bei uns dagegen sind "zu SEIN" und "zu vollziehen"
nicht identisch;
denn wir sind nicht einfach.
non est igitur nobis idem bonis ESSE quod iustis,
sed idem nobis est ESSE omnibus in eo quod "sumus".
Zu SEIN ist deshalb für uns als Vollkommene
nicht dasselbe wie für uns als Gerechte,
sondern in dem Punkt, daß wir "sind",
ist für uns alle "zu SEIN" ein und dasselbe.
bona igitur omnia sunt, non etiam iusta.
Folglich ist alles vollkommen, aber nicht
zugleich schon gerecht.
amplius "bonum" quidem generale est,
iustum vero speciale;
nec species descendit in omnia.
Desweiteren ist "das Vollkommene" ein Allgemeinbegriff,
"das Gerechte" dagegen eine Besonderung;
solch eine Besonderung läßt sich
aber nicht begrifflich auf alles beziehen.
idcirco alia quidem "iusta" – alia "aliud"
Darum ist "gerecht" das eine – und "anders" das
andere,
aber "vollkommen" – ist alles.
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